Kultur ist die Brille, durch die wir die Welt sehen

Inhaltsverzeichnis

  1. Zwei kulturelle Grundmodelle
  2. Kinderzeichnungen als kultureller Gradmesser
  3. Kultursensitive Sprachbildung und -förderung
  4. Fazit und Literaturtipps

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Kinderzeichnungen als kultureller Gradmesser


Die diametralen Unterschiede dieser beiden prototypischen kulturellen Modelle werden sehr schön ver(sinn)bildlicht, wenn man Kinder aus den verschiedenen Kontexten sich selber zeichnen lässt: Während unter dem Modell der psychologischen Autonomie aufwachsende Kinder sich sehr raumeinnehmend darstellen und stets mit einem Lächeln versehen, zeichnen sich Kinder aus dem relationalen Kontext in ihren Zeichnungen sehr viel kleiner und ihre Körper und Gesichter weisen dabei nur selten individuelle Merkmale auf.

Das wissenschaftliche Interesse an der Interpretation von Kinderzeichnungen gibt es nun schon seit rund 100 Jahren. Im Fokus stand dabei allerdings eher die diagnostische und kulturunabhängige Interpretation von Kinderzeichnungen im Hinblick auf die Persönlichkeit oder Intelligenz. Die Auswertung richtete sich nach der realitätsgetreuen Darstellung des Menschen und der Detailgenauigkeit, indem die Anzahl von Körper- und Kopfdetails ausgezählt wurde. So blieb lange Zeit unberücksichtigt, dass die Frage, wie sich Kinder selbst und ihre Familie zeichnen zu einem großen Teil davon abhängt, wie sie sich selbst und ihr soziales Umfeld wahrnehmen.

In einem Projekt der nifbe-Forschungsstelle „Entwicklung, Lernen und Kultur“ wurden daher weit über tausend Selbst- und Familienzeichnungen von Kindergartenkindern aus verschiedenen Regionen der Welt gesammelt und auf die Frage hin untersucht, wie sich das kulturelle Umfeld auf das kindliche Zeichnen auswirkt: Wie viel Raum nehmen die Kinder für sich ein? Wie detailliert zeichnen sie Kopf- und Körperdetails? Wie werden Familienmitglieder dargestellt?

Zwischen drei und fünf Jahren beginnen die meisten Kinder figürlich zu zeichnen. Die ersten Mensch-Darstellungen, sogenannte „Kopffüßler“, bestehen aus einer kreisförmigen Grundfigur (»Kopf«) mit zwei angefügten vertikalen Strichen, die als Beine gedeutet werden. Durch weitere Differenzierungen (»Arme«, »Rumpf«, »Hände« etc.) nähert sich die Darstellung immer mehr der sichtbaren Erscheinung eines Menschen an. Ein erstes auffälliges Merkmal kindlicher Mensch-Zeichnungen ist dabei die Größe der gezeichneten Figur, die bei Selbst-Zeichnungen auch oft mit der Selbsteinschätzung des Kindes in Verbindung gebracht wird. Kulturvergleichende Studien zeigen jedoch, dass sich die Figurgröße nicht nur individuell von Kind zu Kind, sondern auch von Kultur zu Kultur beträchtlich unterscheidet. „Diese Unterschiede“, so Projektmitarbeiterin Ariane Gernhardt, „lassen sich als Ausdruck unterschiedlicher Vorstellungen über die Stellung des Individuums in der Gemeinschaft auffassen. Relativ große Selbstdarstellungen sind vor allem dort zu finden, wo das Individuum besonders wertgeschätzt wird und vergleichsweise kleinere Selbstdarstellungen finden sich dort, wo die Gemeinschaft im Vordergrund steht.“

So zeichnen sich beispielsweise Kinder aus kamerunischen Nso-Bauernfamilien wie auch ländlich lebende türkische Kinder im Durchschnitt um mehr als 1/3 kleiner als gleichaltrige Kinder aus deutschen städtischen Mittelschichtfamilien. Ebenso zeichnen sich Kinder mit türkischem Migrationshintergund in Deutschland sowie Kinder aus türkischen städtischen Mittelschichtfamilien kleiner als Kinder aus deutschen Mittelschichtfamilien, wenn auch der Unterschied wesentlich geringer ausfällt. Was normal ist oder abweichend, muss also jeweils vor dem kulturellen Hintergrund bewertet werden.

Das eigene und das Gesicht des Gegenübers nehmen im westlichen Kulturkreis einen großen Stellenwert ein. Daher werden die hier aufwachsenden Kinder beim Zeichnen dazu angehalten, ihren Figuren ein Gesicht zu geben. In anderen Kulturen lassen Kinder dagegen aber oftmals Gesichtsdetails wie Mund, Augen oder Nase aus. Sie legen aber häufig Wert auf die Ausgestaltung des Körpers. In einigen afrikanischen Kulturen werden Nase und Augenbrauen oftmals so ineinander gezeichnet, dass sie ein graphisches Zeichen bilden. Münder werden dort häufig durch zwei parallele Linien als Lippen dargestellt oder mit Zähnen versehen. Wir können diese Darstellungsformen leicht als Ausdruck von Traurigkeit oder Wut missdeuten, denn wir erwarten in der Regel einen lachenden Mund.

Auch im Hinblick auf das Zeichnen von Familienmitgliedern lassen sich bemerkenswerte kulturelle Unterschiede feststellen: So scheinen viele 3-6jährige deutsche Kinder der städtischen Mittelschicht darauf bedacht zu sein, die Größe der Figuren an den tatsächlichen Größen auszurichten. Im Verlaufes des nifbe-Projektes hörten die Porjektmitarbeiterinnen so auch oft Kommentare der Kinder wie: »Mein Papa ist größer als meine Mama, deswegen muss ich weiter oben anfangen zu zeichnen« oder »Ich bin aber schon viel größer als mein Bruder«. Die wahrgenommenen Größenunterschiede spiegeln sich dementsprechend auch oft in den abgebildeten Familiendarstellungen wider. Kinder der kamerunischen Nso und auch ländlich lebende türkische Kinder zeichnen ihre Familienmitglieder dagegen häufig gleich groß. Offensichtlich, so schlussfolgert Ariane Gernhardt, „kommen darin unterschiedliche Auffassungen von ‚Familie‘ zum Ausdruck: Während deutsche Kinder die eigene Familie als eine Gruppe (unterscheidbarer) Individuen wahrnehmen, erscheint kamerunischen Nso-Kindern ihre Familie eher als eine Gemeinschaft, in der individuelle Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedern nicht im Vordergrund stehen.“

Im Rahmen des Projektes wurden noch viele andere Aspekte des Zeichnens wie z.B. das vorhandene Zeichenmaterial oder die Anordnung von Familienmitgliedern auf einem Blatt Papier untersucht und in allen Bereichen konnten die teilweise erheblichen kulturellen Unterschiede verdeutlicht werden.