Empathie als Kindheitsmuster

Wie Kinder prosoziales Verhalten lernen

Inhaltsverzeichnis

  1. So entsteht Urvertrauen
  2. Empathie – Grundlage für pro-soziales Verhalten
  3. Die Haltung der Erzieherin zeigt sich in der Beziehungsgestaltung
  4. Emotional-soziale Erfahrungen im Spiel
  5. Kindheitsmuster Empathie sichtbar machen
  6. Werte und Gesellschaft
  7. Zusammenfassung
  8. Literatur

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Empathie – Grundlage für pro-soziales Verhalten


Neuere Forschungen legen die Vermutung nahe, dass die Qualität der Beziehung den Aufbau der neuronalen Schaltkreise prägt. Die so entstehenden  Muster der neuronalen Verbindungen sind ein Spiegelbild der Gefühlsreaktionen der Bindungspersonen (Eltern, Erzieherinnen, Tagespflegepersonen). Hier werden die Grundlagen für einen wohlwollenden Umgang miteinander gelegt. „Wir sind – aus neurobiologischer Sicht – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen.“ (Bauer 2005) Die neueurobiologische Grundlage bilden die von Giacomo Rizzolatti entdeckten Spiegelneurone. (Rizzolatti 2008) Die Fähigkeit des Menschen zu emotionalem Verständnis beruht darauf, dass sozial verbindende Vorstellungen nicht nur untereinander ausgetauscht, sondern im Gehirn des jeweiligen Empfängers auch aktiviert und spürbar werden können. Wenn zum Beispiel Mutter oder Vater ihr Baby füttern, so erlebt das kleine Kind nicht nur, dass sein Hunger gestillt wird, sondern es nimmt über Mimik,  Gestik und die Laute der handelnden Person, die emotionale Gestimmtheit der Situation wahr. Diese Erfahrung führt zur Ausbildung von Spiegelnervenzellen. Der äußere Vorgang ist anschaulich in dem Buch „Gefühle erkennen – sich in andere einfühlen. Kindheitsmuster Empathie“ dokumentiert. (Gebauer 2011)

Empathisches Verhalten anderen Menschen gegenüber ist ein Potenzial, das sich bei allen Kindern ausbildet, sobald sie ein Ich-Bewusstsein erlangt haben. Untersuchungen belegen, dass dieser Prozess im Alter von etwa 18 Monaten beginnt. Er lässt sich mit der Fähigkeit eines Kindes in Verbindung bringen, das sich in diesem Alter als eigenständige Person im Spiegel erkennt. Diese Fähigkeit zeigt, dass Kinder zur Selbstobjektivierung fähig sind. Bahnbrechende Untersuchungen, wurden von Doris Bischof-Köhler vorgenommen und dokumentiert. (Bischof-Köhler 2011 / 2012)

Empathie besteht danach aus drei Komponenten. Zunächst ist damit die emotionale Fähigkeit gemeint, sich in einen anderen Menschen einfühlen zu können. Damit verbunden ist ein kognitiver Prozess, die Erkenntnis nämlich, dass es sich bei den wahrgenommenen Gefühlen um die Gefühle einer anderen Person handelt. 

Es ist aber auch denkbar, dass die Fähigkeit zur Einfühlung für Destruktion und Grausamkeiten genutzt wird. Es fehlt dann die ethische Komponente, die zu einer selbstreflexiven Wahrnehmung und Einordnung des eigenen Verhaltens führt. Es fehlt die „innere Instanz“ der Handlungskontrolle.

Empathie im Sinne eines wohlwollenden Umgangs miteinander braucht moralische Qualitäten. Diese muss in den vielen Situationen des Alltags erlebt werden. So brauchen Kinder in Konfliktsituationen einen Helfer, der sich in ihre Situation einfühlen kann und ihnen einen Weg zeigt, der zu einem guten Ergebnis führt. In Streitsituationen werden Gefühle wie Wut, Ärger, Ohnmacht erlebbar. Diese gilt es zu benennen. Geben Eltern und Erzieherinnen Hilfestellungen, dann findet eine emotionale und kognitive Bearbeitung der Situation statt. Betroffene Kinder erleben, dass sie nicht nur  Urheber von Streit sind, sondern dass sie auch zur Lösung beigetragen haben. Das stärkt ihr Selbstwertgefühl und so bilden sich Grundsstrukturen für pro-soziales Verhalten heraus. Es handelt sich um Lernprozesse, die immer wieder beachtet werden müssen. Eine wichtige Rolle spielt die Vorbildfunktion von Eltern und Erzieherinnen. Die Art und Weise wie sie in den unterschiedlichsten Situationen mit Kindern umgehen, wird von diesen nicht nur wahrgenommen sondern auch übernommen.

Einige Beispiele sollen diese Prozesse, die im Äußeren zu beobachten sind, deutliche machen.


Praxisbeispiele mit Reflexionen / Interpretationen

Beispiel 1: „Auto haben!“

Beispiel 2: „Mein Teller!“

Beispiel 3 Vertauschte Zahnbürste


Beispiel 1: „Auto haben!“

Ein typischer Konflikt bei unter zweijährigen Kindern lässt sich thematisch mit „Etwas haben wollen“ umschreiben. Das kann ein Spielzeugauto, ein Bilderbuch, ein Dreirad oder eine Puppe sein.

Situation: Bogdan spielte ruhig auf dem Teppich mit einem Auto. Luka näherte sich und griff nach dem Spielzeug. Bogdan verteidigte seinen Besitz. Es folgte ein Kräftemessen verbunden mit Lauten und Wörtern wie „haben, haben, nein, ich.“

Bogdan wendet seinen Hilfe suchenden Blick zur Erzieherin.

 Kinder in diesem Alter müssen noch vielfältige Erfahrungen machen, vor allem müssen sie lernen, dass es andere Kinder gibt, die ebenfalls einen Anspruch auf die Benutzung der Spielsachen haben. Da sie erst um den 18. Lebensmonat herum zu der Erkenntnisleistung fähig sind, dass ein anderes Kind ein eigenständiges Wesen mit eigenen Interessen und Gefühlen ist, brauchen sie einfühlsame Erzieherinnen, die in solchen Situationen helfend eingreifen.

Die Situation entwickelte sich so: Die Erzieherin nimmt den Konflikt wahr, löst sich aus einer Gruppe, mit der sie gerade den Tisch deckte, ging zu den beiden Jungen und sprach sie mit ruhiger Stimme an: „Bogdan, du hast mit dem Auto gespielt. – Luka, dann bist du gekommen und wolltest auch mit dem Auto spielen.“ Während sie die Situation ruhig beschreibt,  ziehen die beiden Jungen kräftig an dem Auto. Es ist an ihrem Gesichtsausdruck zu sehen, dass sie beide emotional stark tangiert sind.

E.: „Luka, lass das Auto bitte einmal los. Bogdan hatte sich das Auto geholt und hat damit gespielt.“

Während sie das sagt, lässt Luka das Auto los, beide Jungen beruhigen sich, blicken zu ihrer Erzieherin.

E.: „Ich helfe euch mal. Bogdan, du darfst weiter mit dem Auto spielen. Und wenn du damit fertig bist, sagst du es Luka. Luka, dann kannst du das Auto haben. – Zuerst spielt Bogdan noch mit dem Auto, danach darfst du damit spielen. Seid ihr beide damit einverstanden?“
 

Reflexion:

In der beobachteten Situation konnte die Situation gelöst werden. Wir können davon ausgehen, dass die Quelle für die Lösung in dem zwischen Erzieherin und Kindern bestehenden Vertrauen liegt. Begriffe wie „zuerst“ und „danach“ können in ihrer zeitlichen Dimension noch nicht erfasst werden. Aber sie werden sich bei der Klärung weiterer Konflikte als Orientierungsperspektive einprägen. Mimik, Gestik, Sprachmelodie und Zuwendung der Erzieherin führten dazu, dass Bogdan noch eine Weile mit dem Auto spielte und es dann zur Seite stellte. Luka hatte seinen Spielwunsch, so schien es, längst vergessen. Aber nun erinnert ihn die Erzieherin und sagt: „Luka, jetzt kannst du mit dem Auto spielen.“ Langsam nahm nun Luka das Auto und spielte.

Vergegenwärtigen wir uns den Prozess noch einmal. Zwei Kinder richten ihr Augenmerk auf dasselbe Spielzeug. Jedes Kind hat, das ist die Hypothese, für sich den selbstverständlichen Anspruch, mit dem Gegenstand spielen zu dürfen und zwar sofort. Die Erfahrung, dass dies nicht so ohne weiteres möglich ist, dürfte für beide neu sein. Sie erleben möglicherweise einen ersten Konflikt und suchen diesen mittels ihrer Körperkräfte und lautstarker Ausrufe zu lösen. Sie kommen an ihre Grenzen. Bogdan  blickt in der Situation zur Erzieherin.

In der Art ihres Klärungsversuchs erkennen sich Kinder als eigenständige Personen mit eigenen Wünschen und Gefühlen. Die Erzieherin spricht beide Jungen mit ihrem Namen an. Sie schlägt eine Lösung vor. Für die Kinder eröffnet sich ein Weg aus der Sackgasse. Damit – so dürfen wir annehmen – wird in ihrem Gehirn ein Arbeitsmodell angelegt, das zwar durch ähnliche Erfahrungen noch verstärkt werden muss, das aber schon die emotional-kognitive Erkenntnis in sich trägt, dass es Alternativen im Verhalten gibt. Das heißt: Kindheitsmuster für pro-soziales Verhalten entwickeln sich auch in Konfliktsituationen. Entscheidend ist, dass die erwachsene Person eine Haltung verkörpert, durch die Kinder nicht beschämt werden, sondern  Zuwendung,  Verständnis und Hilfe erfahren. Die Erleichterung, die Kinder nach einer solchen Situation verspüren, trägt mit dazu bei, dass sich diese Erfahrungen als Muster für das Lösen zukünftiger Situationen etablieren.

 

Beispiel 2: „Mein Teller!“

Das gemeinsame Essen und Trinken gehört zum Kindergartenalltag. Während die sehr jungen Kinder noch gefüttert werden müssen, lernen sie es mit zunehmendem Älterwerden, für sich selbst zu sorgen. Sie können den Tisch decken, sich beim Essen die Schüsseln reichen, sich selbst das Essen auf den Teller tun und schließlich können sie beim Abräumen helfen. Sie machen „Ich kann das – Erfahrungen.“

Gleichzeitig sammeln sie Erfahrungen darüber, was geht und was nicht geht. Folgende Situation konnte ich beobachten.

Situation: Simon und Laura sitzen nebeneinander. Beide Kinder haben einen Teller mit Brot und Obststücken vor sich. Plötzlich ist Lauras Hand auf Simons Teller. Der glaubt seinen Augen nicht trauen zu können. Laura zieht ihre Hand zurück, ist aber bald schon wieder auf dem Teller von Simon. Simon revanchiert sich, sucht Lauras Teller auf seinen Platz zu ziehen. Lauras kleine Faust fährt daraufhin unvermittelt vor Simons Nase. Der ist verdutzt, hatte offensichtlich damit nicht gerechnet. Zwei Erzieherinnen schauen zu, nehmen den Vorgang wahr, interpretieren ihn offensichtlich als eine Chance für emotional-soziale Erfahrungen. Dass beide Kinder hier ihre Grenze überschreiten ist für den Betrachter sichtbar. Welche Erfahrungen werden sie daraus ziehen. Natürlich könnten die Erzieherinnen hier schon eingreifen, was sie aber nicht tun. Und so geht es zwischen beiden Kindern noch eine Weile hin und her. Simon versucht, Laura in die Wange zu kneifen, diese versucht Simons Ohr zu erwischen. Simon hält beide Hände vor sein Gesicht, aber das hilft nicht, Laura ist schon wieder am Ohr.

Plötzlich lassen beide voneinander ab, wenden sich ihrem Essen zu, trinken einen Schluck aus der Tasse und lächeln sich an.

Was war das nun?

Interpretation:

Die Erzieherinnen kennen die beiden Kinder, sehen in der Situation offenbar keine besondere Gefährdung. Beide Kinder testen aus, was sie dem anderen zumuten können, scheuen auch nicht vor leichten körperlichen Attacken zurück. Sie gehen bis an die Grenze und leicht darüber hinaus und machen dabei die Erfahrung, dass der jeweils andere sich nicht „die Butter vom Brot“ nehmen lässt. Es gibt keinen Verlierer – aber eine Erfahrung. Vertragen und ein weiteres Nebeneinander war möglich. Eine wertvolle Selbsterfahrung.



Beispiel
3 Vertauschte Zahnbürsten

Situation: Die Erzieherin stellt fest, dass die Zahnbürsten in den Bechern vertauscht worden sind. Sie überlegt, welche Kinder kurz vorher im Toilettenbereich waren. Der Verdacht fällt auf Luka und Aleksander (5 J.) Als kurze Zeit später Aleksander erneut den Nassbereich aufsuchen möchte, geht die Erzieherin mit. Es entspinnt sich der folgende Dialog:

Aleksander: „Warum gehst du mit?“

E.: „Ich will mal in deiner Nähe sein.“

A.: „Weil ich die Zahnbürsten vertauscht habe?“

E.: „Ja, genau. Zahnbürsten vertauschen ist nicht gut. Viele Kinder sind erkältet. Ihr könnt euch gegenseitig anstecken, wenn ihr die Zahnbürste von einem anderen Kind benutzt.“

Die Erzieherin ordnet Becher und Bürsten einander zu. Aleksander bleibt so lange dabei.

E.: „Hast du verstanden, warum das nicht gut ist, wenn du die Zahnbürsten vertauscht?“

A.: „Hab ich.“


Reflexion:

Die Erzieherin wundert sich über diesen Streich. Bisher hatte sie das in ihrer Gruppe nicht beobachtet. Das Verhalten ist auch nicht typisch für diese Altersgruppe.  Allerdings war ihr aufgefallen, dass einige Jungen in der letzen Zeit damit prahlten, was ihre Väter als Kinder so alles gemacht hätten. Ein Junge (5 J.) erzählt: „Ich durfte schon einmal Alkohol trinken.“ Ein anderer Junge ergänzt: „Und ich durfte schon einmal Kaffee aus der Tasse von Mama trinken.“

Kinder lernen von Vorbildern, übernehmen oft ungeprüft deren Verhalten, geben damit an, weil sie glauben, dass das ganz toll sei. So könnte man möglicherweise auch den Streich mit dem Vertauschen der Zahnbürsten einordnen.

Am Verhalten der Erzieherin könnte Aleksander erkennen, dass sie das Geschehen in der Gruppe und auch außerhalb des Gruppenraumes im Blick hat. Dass ihr am Wohlergehen der Kinder gelegen ist und dass sie möglichen Schaden abwenden möchte. Es war nur eine Vermutung der Erzieherin, dass Aleksander die Bürsten vertauscht haben könnte. Sie hatte die Situation richtig eingeschätzt und hat einen Weg gewählt, bei dem Alexander intuitiv erfassen konnte, dass sein Verhalten nicht verborgen geblieben war. Die Erzieherin erklärt, warum sie das Verhalten nicht gut heißen kann. Wir können davon ausgehen, dass diese und ähnliche Erfahrungen bei den Kindern zu Wahrnehmungen führen, die ihr Verhalten in Zukunft mitbestimmen werden. Bei Aleksander war ja schon ein kognitives Bewusstsein vorhanden, dass sein Handeln nicht Regelkonform sein würde. Nun hat er eine zugewandte Erzieherin erlebt, die ihn nicht beschämt ihm aber mit einer klaren Feststellung erklärt hat, warum dieses Verhalten nicht akzeptiert werden kann.