Neue Medien in der Frühpädagogik

Zur Mythologie der neuen Medien in der Frühpädagogik oder Der dritte Lernort

Inhaltsverzeichnis

  1. Mythos 1: Kindergartenkinder nutzen neue Medien nicht
  2. Mythos 2: Neue Medien sind kein Gegenstand der Frühpädagogik
  3. Mythos 3: Die negativen Aspekte der Medien überwiegen
  4. Mythos 4: Der Erzieherinnenberuf ist ein Bildungsberuf
  5. Mythos 5: Neue Medien sind Gegenstand der Erzieherinnenausbildung
  6. Mythos 6: Lehrkräfte in der Erzieherinnenausbildung vermitteln Medienkompetenz
  7. Mythos 7: Wer Erzieherinnen ausbildet, kann auf neue Medien verzichten
  8. Mythos 8: Die Vermittlung von Medienkompetenz ist gleichmäßig verteilt
  9. Mythos 9: E-Learning gehört zur frühpädagogischen Aus-, Fort- und Weiterbildung
  10. Mythos 10: Fachforum im Netz versus Facebook
  11. Mythos 11: Der Dialog zwischen Lernort Schule und Praxis funktioniert online nicht
  12. Zukunftskonzept „Neue Medien in der Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte“.
  13. Netz-Tipps für AusbildnerInnen, ErzieherInnen und Kinder
  14. Literatur

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Mythos 1: Kindergartenkinder nutzen neue Medien nicht


„Mythen erheben einen Anspruch auf Geltung für die von ihnen behauptete Wahrheit“, steht bei Wikipedia. Ein moderner Mythos ist, dass Kinder im Kindergartenalter neue Medien - also alle Medien, die einen Zugang zum Internet ermöglichen - nicht nutzen. Diese Annahme dient Erzieherinnen, Fortbildnerinnen und Lehrkräften in der Ausbildung nicht selten als Begründung, um um das Thema einen großen Bogen zu machen. Tatsache ist jedoch: Immer mehr und immer jüngere Kinder nutzen Computer und Internet – laut einer Forsa-Studie aus dem Jahr 2011 mehr als ein Drittel der drei- bis fünf jährigen Kinder. Obwohl fast alle Eltern Kinderschutzsoftware als sinnvoll ansehen – nur jedes zehnte Elternpaar, vorwiegend gut ausgebildete Mütter und Väter, setzt sie ein.

Inzwischen sind die neuen Medien in nahezu allen Haushalten vertreten, in denen Kinder aufwachsen. In einer Studie von Six und Gimmler wiesen Erzieherinnen darauf hin, es gebe überhaupt keine positiven Wirkungen dieser Medienpräsenz (Six 2007, S. 191). Ihre eigene Kompetenz und die Bedeutung von Medienkompetenz in der Ausbildung weisen in eine vergleichbare Richtung.

Die bekannten Altersfreigaben der FSK und USK greifen bei den neuen Medien nicht. Früher war es einem Kindergartenkind nahezu unmöglich, Zugang zu kinder- und jugendgefährdenden Filmen, Software und anderen Medien zu erhalten. Kein Mensch hätte sie ihnen ausgeliehen. Im Netz hingegen gibt es keine Kontrolle. Auch ohne gezielt zu suchen oder durch fehlerhafte Eingaben, die einem Kindergartenkind aufgrund mangelnder Schreibkompetenz unterlaufen können, gelangen Kinder auf Seiten, die sie gefährden, und die Erwachsenen stehen machtlos – besser: kompetenzlos – daneben. Experten schätzen, dass trotz Altersbeschränkungen und Verboten weltweit 5 Millionen Kinder unter zehn Jahren über eine falsche Altersangabe bei Facebook angemeldet sind und dass rund ein Drittel der Eltern dies weiß, zum Teil sogar unterstützt. Das weltweit größte soziale Netzwerk, das inzwischen schon knapp 1 Milliarde Nutzer hat – bei einer Weltbevölkerung von rund 7 Milliarden Menschen – plant übrigens, den Zugang für Kinder unter 13 Jahren jetzt auch offiziell zu realisieren. Wie ist die pädagogische Zunft darauf vorbereitet? Gar nicht!

Das Deutsche Kinderhilfswerk fordert, dem Wunsch der Kinder nach Teilhabe an sozialen Netzwerken mit Medienkompetenz zu begegnen und hat erkannt, dass Verbote nichts bringen. Kindgerechte Angebote im Netz wie „internauten.de“ oder „clipklapp.de“ bieten Kindern einen ersten Einstieg in diese Welt – redaktionell betreut, geschützt und werbefrei. Aber welche Erzieherin, welcher Grundschullehrer kennt diese Angebote?

Smartphones, Tablet-PCs, Navigationssysteme und Bordcomputer sind oder werden in naher Zukunft internetfähig sein: Nahrung für die Horrorvision von den „Cyberkids“. Der meist kommunikationstechnisch-funktionale Kompetenzvorsprung der jungen Generation lässt das

Bild von rund um die Uhr surfenden Kindern und Jugendlichen entstehen, die unter emotionaler und sozialer Vereinsamung leiden. Empirische Studien wie die des Deutschen Jugendinstituts zeigen hingegen deutlich, dass dieses Bild nicht stimmt: Kinder, die sich für das Internet interessieren, sind nach außen orientiert, engagieren sich in Vereinen, bewegen sich viel und haben auch an anderen Dingen Interesse – egal übrigens, welcher sozialen und Bildungsschicht sie entstammen (Vgl. Feil 2001). Diese Kinder sind die erste Generation, die mit den neuen Medien selbstverständlich aufwächst und sie nicht als Gefahr, sondern als Chance begreift. Pädagogisch professionelles Handeln muss sich dieser Tatsache bewusst sein, wenn der gesellschaftliche Erziehungsauftrag erfüllt werden und das Klientel dort abgeholt werden soll, wo es steht – also auch im Netz.

Zwar kritisieren einige Wissenschaftler die kindliche Mediennutzung immer wieder, aber die von Manfred Spitzer geforderte „bewahrpädagogische Haltung“ (Vgl. Spitzer 2006a, S. 276) gegenüber neuen Medien verspricht keinen Erfolg. „Um es nun gleich vorweg zu sagen: Ich bin nicht dafür, dass Kinder in den Medien Gewalt sehen. Ich bin sehr dafür, dass Kinder genügend Platz für bewegungsintensive Spiele haben, ich bin sehr dafür, Kindern ein abwechslungsreiches Bildungsangebot (mit und ohne Medien) zu bieten. Ich verbürge mich dafür, Medienkompetenz und einen vernünftigen Medienumgang in all meinen pädagogischen Aktivitäten zu vermitteln“, schreibt Norbert Neuß in seiner fundierten und empfehlenswerten Auseinandersetzung mit den Thesen von Spitzer. (Neuß 2009, S. 15-35)

Mit Hirnforschern, die sich inzwischen nahezu jedem gesellschaftlichen Problem widmen, setzt sich auch Stephan Schleim in seinem Buch „Die Neurogesellschaft“ auseinander. Er kommt zu dem Schluss, dass die Hirnforschung die komplexe Interaktion eines Menschen in seiner sozio-kulturellen Lebenswelt häufig vergisst und somit ein sehr reduziertes Bild vom Menschen zeichnet (Schleim: Train your brain. Telepolis). Wir sind mehr als unser Gehirn, mehr als die Summe unserer neuronalen Verschaltungen, und wenn sie den sozialen Kontext negieren, bieten neurowissenschaftliche Erkenntnisse keinerlei Ansätze für die Lösung von Problemen. Schleim fasst zusammen: „Es ist jedenfalls höchste Zeit, die Neuro-Autorität mancher Hirnforscher kritisch zu hinterfragen – über die dafür notwendigen Fähigkeiten verfügen wir zum Glück auch ohne Gehirnjogging.“ (Ebd.)

Auf die Frage der Folgen von Mediennutzung kann die Hirnforschung zwar antworten, doch eine pädagogische Lösung bedarf der kritischen Reflexion aus medienpädagogischer Sicht. Pädagogische Konzepte lassen sich nicht aus Befunden der Hirnforschung ableiten.