Bildung und soziale Ungleichheit

Interview mit Prof. Dr. Tanja Betz

  • Ich höre gerade von Eltern aus eher bildungsbenachteiligten Haushalten oft, dass sie sich viele Aktivitäten mit ihren Kindern, z.B. einen Besuch im Kindertheater, nicht leisten können. Welche Möglichkeiten gibt es, auch diese Eltern für die Sprach- und Entwicklungsförderung ihrer Kinder zu gewinnen?

tanja betz 150Die Sprach- oder Entwicklungsförderung von Kindern ist nicht an spezifische Orte oder an bestimmte Aktivitäten wie Theaterbesuche gebunden und kann in Familien auf vielfältige, auch beiläufige Weise in Alltagssituationen umgesetzt werden. Das geschieht beispielsweise über das Singen von Liedern, das Vorlesen, das Nacherzählen von Erlebtem oder Rollenspiele. Für die Fachkräfte ist es wichtig, zu erfahren, was sich die Eltern unter einer ‚guten‘ Sprach- oder Entwicklungsförderung für ihr Kind vorstellen und was sie bereits praktizieren. Wenn die Eltern das wünschen, können z. B. familienergänzende und -unterstützende Angebote im Sozialraum erkundet werden. Diese werden oft günstig oder sogar kostenfrei von Trägern der Kinder- und Jugendhilfe vorgehalten. Diese Überlegungen sollten gemeinsam mit dem Kind angestellt werden. So kann man herausfinden, wo seine Interessen und Vorlieben liegen.

  • Wie kann ich die Kultur der Kinder und Eltern mit Migrationshintergrund in den Kita-Alltag und insbesondere in die Sprachförderung einbeziehen?

Eine einheitliche Kultur von Kindern und Eltern mit Migrationshintergrund, die sich von der Kultur von Familien ohne Migrationshintergrund grundsätzlich unterscheidet, gibt es nicht. Vielmehr unterscheiden sich Kinder untereinander und Eltern untereinander. Die Unterschiede zwischen Personen aus dem gleichen Kulturkreis können daher größer sein als diejenigen zwischen Personen, die verschiedenen Kulturen angehören, aber vergleichbare schulische Abschlüsse und Berufe haben oder im selben Alter sind. Daher ist es die Aufgabe der Fachkräfte, diese Grenzziehungen kontinuierlich zu reflektieren und zu prüfen, ob und wie sie das eigene Handeln und das Handeln der Kinder beeinflussen.
In der Einrichtung bietet es sich an, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten unter Kindern und Eltern auch in der Sprachförderung zum Thema zu machen.

  • Mit welchen Angeboten der Zusammenarbeit erreiche ich insbesondere Eltern mit Migrationshintergrund? Und wie erreiche ich bildungsbenachteiligte Familien?

Evaluationsstudien haben gezeigt, dass Angebote für vermeintlich homogene Zielgruppen kaum oder nur kurzzeitig nachgefragt werden, wenn sie an den Bedürfnissen der Eltern vorbei gehen. Daher ist es ratsam, zunächst die Bedürfnisse und Wünsche der Eltern zu ermitteln und die Zufriedenheit mit den aktuellen Angeboten abzufragen. Dies kann in Form von – ggf. mehrsprachigen, gemeinsam auszufüllenden – Fragebögen erfolgen. Einen andere Möglichkeit, die Wünsche der Eltern einzubeziehen, sind Veranstaltungen in der Einrichtung, auf denen z.B. über Kleingruppenarbeit Impulse für neue Angebote entwickelt werden.

  • Wie kann ich ein Kind so fördern, dass Mehrsprachigkeit später zu einem Vorteil statt einem Nachteil wird?

Zur Förderung von Mehrsprachigkeit gibt es verschiedene Projekte, Materialien und Fortbildungsangebote für Fachkräfte, z.B. am Kompetenzzentrum FörMig der Universität Hamburg  oder Materialien der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF). Diese vermitteln Wissen bzw. Hintergrundinformationen zu diesem Thema.
Mit Blick auf die Kontinuität und Nachhaltigkeit der Sprachförderung lohnt sich z.B. eine Zusammenarbeit mit Grundschulen. So kann auch die Anschlussfähigkeit der Sprachförderung besser gewährleistet werden.

  • Was können Eltern, die die deutsche Sprache selbst nicht gut beherrschen, tun, um ihre Kinder bei der Sprachentwicklung und dem Erlernen der deutschen Sprache zu unterstützen?

Eltern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, können ihre Kinder auf vielfältige Weise auch in ihrer eigenen Muttersprache unterstützen. Erzieherinnen und Erzieher können diese Eltern zudem dazu ermuntern, Orte aufzusuchen und Gelegenheiten zu schaffen, in denen ihr Kind mit anderen, auch deutschsprachigen Kindern in Austausch treten kann. Sprachlich heterogene Gruppen in Kindertageseinrichtungen bieten hierzu vielfältige Anlässe. Die Aufgabe der Fachkraft ist es dann, die sprachliche Interaktion zwischen Kindern zu initiieren und zu fördern. Darüber hinaus sollte die Fachkraft ihre eigene Haltung zur Mehrsprachigkeit reflektieren und auch im Team diskutieren.

  • Wie kann man Kontakthemmnisse zwischen Eltern deutscher und Eltern nicht-deutscher Herkunft abbauen?

Wenn es Kontakthemmnisse zwischen Eltern deutscher Herkunft und nicht-deutscher Herkunft gibt, muss dies nicht zwangsläufig mit dem Herkunftsland der Eltern in Verbindung stehen. Vielmehr sollte zunächst geklärt werden, mit welchem Ziel Kontakt zwischen Eltern aufgebaut oder intensiviert werden soll. Darüber hinaus sollte auch die Perspektive der Eltern einbezogen werden: Wünschen sie sich überhaupt (mehr) Kontakt zu anderen Eltern? Wie (z.B. Elterncafé) bzw. zu welchen Themen und Anlässen möchten sie sich gerne mit anderen Eltern austauschen?

  • Wenn von Familienkulturen gesprochen wird, bezieht sich das meist auf Familien aus anderen Ländern bzw. Nationen. Dabei unterscheiden sich meiner Erfahrung nach auch innerhalb deutscher Familien die Lebensweisen und Alltagsgestaltung in hohem Maße. Muss die Vorstellung von „Familienkulturen“ also nicht viel weiter gefasst werden? Und inwiefern sollten diese Unterschiede in der Kita thematisiert und unter dem Stichwort „Begegnungen der Kulturen“ auch betrachtet werden?

Das ist richtig. Ein Kulturbegriff, der eine eigene, einheimische von einer fremden Kultur unterscheidet, verleitet dazu, Personen zu Gruppen zusammenfassen und mit der Gruppenzugehörigkeit z.B. das Verhalten zu erklären. Dabei ist es vielmehr angebracht, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Alltagsgestaltung oder in den Erziehungsstilen gemeinsam mit den Eltern zum Thema zu machen. Eine „Begegnung der Kulturen“ umfasst nicht nur die Reflexion der Familienkulturen, sondern auch der Kultur der Einrichtung bzw. des Trägers. Auch die Fachkräfte sollten sich bewusst machen, wie ihre eigene Herkunft, ihre Einstellungen, Kultur und Lebensgewohnheiten ihr pädagogisches Handeln beeinflussen können.

 
Zur Person
Prof. Dr. Tanja Betz ist Juniorprofessorin für ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem  Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.   im Elementar- und Primarbereich an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Leiterin der Schumpeter-Nachwuchsgruppe "Leitbilder 'guter Kindheit' und ungleiches Kinderleben" (educare). In einer Studie untersucht sie, wie die soziale und ethnische Herkunft der Kinder die individuelle Lernentwicklung und den Erfolg in der Schule beeinflussen.