Prof. Dr. Heidi Keller

Einführung in die Entwicklungspsychologie

Der Beginn der modernen Entwicklungspsychologie wird zumeist mit Preyers «Die Seele des Kindes» (1882) markiert. Der Beginn der Kleinkindforschung kann speziell jedoch auch auf Tiedemanns Beschreibungen seines kleinen Sohnes aus dem Jahre 1787 zurückdatiert werden. Seit diesen Anfängen haben Psychologen immer wieder Gefallen daran gefunden, die früheste Entwicklung – meist ihrer eigenen oder verwandter Kinder aus dem engeren Familienkreis – zu beobachten und den Entwicklungsverlauf zu dokumentieren. Diese Bemühungen waren gefolgt von einer Intensivierung der Forschungsaktivitäten in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren. Damals fand eine Wissensexplosion statt, die dazu führte, anstelle der «buzzing blooming confusion», dem «hirnrindenlosen Reflexwesen», das in den ersten Lebenstagen weder sehen noch hören kann (Stern, 1923), den kompetenten Säugling zu propagieren. 1973 erschien ein Handbuch (Stone, Smith& Murphy, 1973) mit Ausschnitten aus Originalartikeln, in dem der damalige Wissensstand zusammengetragen worden war. Auch in der Kulturanthropologie weckte das Säuglingsalter gleichermaßen das Interesse der Ethnographen (Whiting & Whiting, 1975; Munroe & Munroe, 1975). Das hat den glücklichen Umstand zur Folge, dass für das Säuglingsalter wie für keinen anderen Entwicklungsbereich eine recht umfassende Dokumentation kultureller Unterschiede vorliegt. Spezifisches Charakteristikum der Disziplin «Kleinkindforschung» ist die interdisziplinärinterdisziplinär|||||Unter Interdisziplinarität versteht man das Zusammenwirken von verschiedenen Fachdisziplinen. Dies kann auch als „fächerübergreifende Arbeitsweise“ verstanden werden, z.B wenn Psychologen, KinderärztInnen, ErzieherInnen und Lehrende zusammen an einer Fragestellung arbeiten.e Offenheit seit ihren Anfängen. Psychologen, Anthropologen, Ethologen, Pädiater und Psychoanalytiker kooperieren wie in kaum einem anderen Gebiet der Psychologie.

In dieser Einführung sollen zunächst drei Perspektiven diskutiert werden, die die Forschung maßgeblich mitbestimmen:


Kindheitskonzepte

Jede Gesellschaft hat ihre lokalen Theorien über die Natur des kleinen Kindes, und auch Forscher und Wissenschaftler gehören zu diesen Gesellschaften. Auch wissenschaftliche Theorien und Untersuchungen reflektieren grundlegende Annahmen und Voreinstellungen über das Wesen des Kleinkindes. Solche forschungsleitenden Annahmen spricht Hay in seinem Sammelreferat im «Annual Review of Psychology» im Jahre 1986 über den Kleinstkindbereich an, wenn er die 1980er Jahre als Epoche der latenten Theorie (S. 136) charakterisiert. Nach seiner Meinung sind Theorien nicht expliziert, sondern existieren in den Sichtweisen der jeweiligen Wissenschaftler und bestimmen die Art der Fragestellung und die Wahl der Methoden. Bis heute hat sich an dieser Einschätzung nichts geändert. Dazu kommt noch, dass das uns vertraute, in der Literatur dominierende euroamerikanische Menschenbild als Natur des Menschen missverstanden wird.

Die innere Welt von Säuglingen und deren Erlebnisqualität waren Gegenstand von Spekulationen seit den Anfängen. Sehen Säuglinge die Welt wie die pointillistischen Maler als unabhängige Informationseinheiten, wie Cohen und Younger (1984) vermuteten? Oder ist es nicht eher so, wie William Stern beschreibt: «So wie wir, wenn wir etwa mit geschlossenen Augen träumend auf dem Sofa liegen, von der Helligkeit, die durch unsere Augenlider dringt, dem fernen Geräusch der Straße, dem Druck der Kleider, der Temperatur des Zimmers nichts einzeln merken, sondern alles in unseren Gesamtempfindungszustand einschmelzen, so – nur noch viel vager und dumpfer – müssen wir uns die Sensibilität des kleinen Kindes denken.» (Stern, 1923, S. 71). Stern spricht weiter von einem wirren «Gesamtzustand der Ur-Sensibilität», der «einförmig und ungegliedert wie eine Nebenmasse» sei.

Es ist erstaunlich und verwunderlich, dass wir als Erwachsene keinen Zugang und keine Erinnerung mehr an diese Wahrnehmungen und Empfindungen haben, die doch auch Teil unserer Biographie sind. William Stern bietet dafür folgende Erklärung an:

»… und da wir Erwachsene… ein schon sehr kompliziertes Seelenleben haben, ist uns primitives Seelenleben gerade wegen seiner Einfachheit und der daraus folgenden Unähnlichkeit zu dem unseren so schwer in rechter Weise verständlich zu machen. In gewissem Sinne ist deshalb, so muß man sich resigniert gestehen, die Kindheit für uns ein einzig verlorenes Paradies.» (Stern, 1923, S. 12)

Versuche einer Aufklärung interner Repräsentationen sind traditionellerweise Gegenstand psychoanalytischer Modellvorstellungen. Köhler formuliert: «Eine weitere Frage, die uns Analytiker interessiert, ist, was das Neugeborene eigentlich erlebt» (1986, S. 83). Und sie zitiert Spitz (1972), der ähnlich poetische Vorstellungen äußert wie Stern einige Jahrzehnte vorher.

«Uns fehlen die Begriffe, es fehlen uns sogar die Worte, in welchen dieses Niemandsland menschlicher Anfänge zu beschreiben wäre. Wir wissen noch nicht,

wie von der Psyche des Neugeborenen zu sprechen, von den ersten Regungen seines Geistes in der zwielichten Welt vor Sonnenaufgang.» (Köhler, 1986, S. 83)

Lange Zeit war das am weitesten verbreitete implizite Kindheitskonzept im westlichen Kulturkreis das defizitäre Erwachsenenmodell. Obgleich die vielfältigen Kompetenzen des Säuglings immer wieder herausgestellt werden, werden diese nicht als eigene Qualitäten verstanden, sondern als passagere Stadien auf dem Weg zum Erwachsenen. Die sprichwörtliche Definition von Säugling ist jemand, der nicht sprechen kann (Hay, 1986, S. 143 [Übersetzung der Autorin]). Eltern berichten häufig, dass, wenn ein Kind älter wird, er oder sie mehr eine Person zu werden scheint (Hay, 1986, S. 145 [Übersetzung der Autorin]).

Der wissenschaftliche Sprachgebrauch reflektierte diese Sichtweise ebenfalls. Kleinkinder machen Fehler, z. B. den «stage 4 error» (ein Objekt an einem Platz suchen, an dem es einmal war, jetzt aber nicht mehr ist). Weite Bereiche der Forschung zur Wahrnehmungs- und kognitiven Entwicklung waren diesem Kindheitskonzept des defizitären Erwachsenen verhaftet.

Heute wissen wir, dass es zwar eine frühkindliche Amnesie der autobiographischen Erinnerung gibt, dass das mentale Modell des Säuglings aber auch keine formlose Nebelmasse ist. Vielfältige angeborene soziale und kognitive Kompetenzen sind die Grundlage der unglaublichen Entwicklungsgeschwindigkeit der ersten Jahre. Mit dieser Erkenntnis ist ein Perspektivenwechsel verbunden, nicht das Defizit in Bezug auf den Erwachsenenstatus herauszustellen, sondern verschiedene Entwicklungsphasen als eigenständige Erlebniswelten mit eigenen Gesetzmäßigkeiten zu begreifen. Die Veränderlichkeit dieser privaten Welttheorien wurde schon früher diskutiert. Metcalf (1979) bezieht sich auf ein Konzept seines Lehrers Spitz, wenn er sagt, dass mit jedem Organisator die Erlebniswelt der Kinder sich so ändere, als lebten sie in einer völlig anderen Welt.

Die historische Betrachtung von Kindheitskonzepten zeigt die Bedeutung des Zeitgeistes auch für die wissenschaftliche Betrachtungsweise. Die hier referierten historischen Veränderungen entstammen alle dem euroamerikanischen Kulturkreis, einfach weil wir hier eine gute Dokumentation haben. Diese vertikale Betrachtungsweise muss aber um die horizontale, kulturspezifische und kulturvergleichende erweitert werden, um allgemeine Aussagen über Entwicklung machen zu können.


Der kulturelle Kontext

Wenden wir uns nun dem kulturellen Kontext zu, in dem die Vorstellungen von Entwicklungspsychologie und natürlich auch die Person des Forschers, des Wissenschaftlers eingebettet sind. Beginnen wir mit dem Letztgenannten. Wertsch und Youniss (1987) gehören immer noch zu den wenigen Autoren, die sich dieser Problematik bewusst sind und sie auch explizieren. Nach ihrem Verständnis soll der Untersucher eben nicht zu bestmöglicher Maschinengleichheit trainiert werden, sondern in seinem sozialisatorischen Zusammenhang betrachtet werden: «Kontextualisierung des Forschers». Sie sehen bisher drei «Umgangsformen» mit dem Forscher:

1. der Weg der Leugnung (die Notwendigkeit spezieller Analysen zur Rolle des Forschers zu leugnen, «to deny it requires special analysis»);

2. den Einfluss des Kontextes als «Rauschen» zu betrachten, das die unverzerrte Wahrnehmung behindert («that deters clear perception») und

3. zu glauben, dass alle Wissenschaftler in einem soziohistorischen Kontext leben und dass dieser Kontext die Art und Weise beeinflusst, in der sie die Phänomene, die sie erforschen, sehen und verstehen («and that this context influences the way that they understand the phenomena they investigate»; Wertsch & Yourniss, 1987, S. 19).

Natürlich favorisieren sie selbst diese dritte Sichtweise, indem sie programmatisch feststellen: Es gibt keinen Weg den Forscher zu neutralisieren (There is no way to nullify the investigator) (Wertsch & Yourniss, 1987, S. 20). Am Beispiel der Anfänge der US-amerikanischen und der sowjetischen Entwicklungspsychologiegeschichte weisen sie die soziokulturellen Einflüsse auf, die unterschiedliche Forschungsschwerpunkte und Überzeugungen produzieren. Und um diese Zusammenhänge zu verstehen und der Wahrheit näher zu kommen ist es notwendig, die inhärent kontextualisierte Natur jeder Entwicklungspsychologie und jedes/r EntwicklungspsychologenIn zu erkennen («to recognize the inherently contexualized nature of any developmental psychology and any developmental psychologist»; Wertsch & Yourniss, 1987, S. 29 [Übersetzung der Autorin]).

Die Bedeutung des Kontextes und der kulturellen Einflüsse ist mittlerweile anerkannt und erfreulicherweise werden kulturelle Konzepte in der Entwicklungspsychologie immer stärker rezipiert (vgl. Sinha, 1986; Nsamenang, 1992; Greenfield, Keller, Maynard & Suzuki, 2003). Immer mehr Sichtweisen konvergieren darin, dass Entwicklung als die kulturspezifische Lösung universeller Entwicklungsaufgaben verstanden werden kann – Kultur also einen systematischen Einfluss auf Entwicklungsprozesse hat, die nicht ausgeblendet werden können (Keller, 2007).


Implizite Entwicklungstheorien

Die Frage nach den impliziten Entwicklungstheorien lässt sich als Frage nach der Annahme von Kontinuität oder Diskontinuität der menschlichen Entwicklung reformulieren. Diese Frage, das Kernanliegen der Entwicklungspsychologie (Montada, 1982, S. 56), erregt wie kaum eine andere die wissenschaftlichen Gemü-ter. Viele Kleinkindforscher teilen den Standpunkt Anneliese Korners (1979), dassbei den meisten Menschen eine Kontinuität der Selbsterfahrung über den Lebenslauf hinweg vorhanden ist – trotz häufig niedriger Korrelationen zwischen Verhaltensweisen zu verschiedenen Zeitpunkten.

Die gegenteilige Auffassung demonstriert Jerome Kagan in seinem Buch «Die Natur des Kindes», das 1987 in deutscher Übersetzung erschien. Den Befürwortern des von ihm als Mythos bezeichneten Glaubens an die Kontinuität, nämlich Freud und Piaget und vereinzelten jüngeren Autoren wie Sroufe (1979), schreibt er ein emotionales Bedürfnis nach dieser Anschauung zu. Insbesondere die Vorstellung, dass Eltern irgendeinen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder haben könnten, hält er für absurd. US-amerikanische Eltern hielten unerschütterlich an diesem Volksmärchen fest, da dieser durch ihre subjektiven Erfahrungen gestützt würde!

Kagans Einstellung zur Eltern-Kind-Bindung wird in dem folgenden Zitat deutlich: «Jede Gesellschaft benötigt einen transzendentalen Gegenstand, dem die Bürger ihre Loyalität erweisen können. Früher gehörten Gott, die Schönheit und Nützlichkeit des Wissens und die Reinheit der treuen, romantischen Liebe zu den heiligsten Gütern in unserer Gesellschaft… Die Heiligkeit der Mutter-Kind-Bindung ist vielleicht eines der letzten noch unbefleckten Ideale. Die Flut von Büchern und Zeitschriftenartikeln über Bindung und über die Notwendigkeit eines direkten Hautkontaktes zwischen Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt wird von starken Emotionen erzeugt, und man muss annehmen, dass nicht immer wissenschaftliche Tatsachen die Diskussion bestimmen. Sollte es richtig sein, dass jeder engagierte Erwachsene ein Kleinkind versorgen kann (dies ist noch nicht bewiesen), so wird ein weiterer moralischer Imperativ hinfällig sein.» (Kagan, 1987, S. 89f)

Nun könnte man einwenden, dass diese Publikation schon einige Zeit zurückliegt und Kleinkindforschung, Evolutionäre Psychologie, Kulturpsychologie und die Neurowissenschaften inzwischen hinreichend Belege für den Einfluss der Eltern auf die kindliche Entwicklung bereitstellen. Erstaunlicherweise tauchen aber immer wieder Publikationen auf, die schnell viel beachtete Bestseller werden, die genau diese Argumentation wiederholen: Eltern haben keinen Einfluss außer der Bereitstellung der Gene auf die Entwicklung ihrer Kinder (Rowe, 1994). Die verschiedenen Sichtweisen sind in einer Flut populärer Sachbücher dokumentiert, die aufgrund ihrer beachtlichen Auflagenhöhen ein generelles gesellschaftliches Interesse dokumentieren.

Erstaunlicherweise wird auch die Anlage-Umwelt- Debatte, die doch nun wirklich zu den Akten gelegt sein sollte, immer wieder belebt (Sameroff, 2010). Intensiviert hat sich die Diskussion über die (Sonder-) Stellung des Menschen unter den Primaten (vgl. Boesch, 1980; Tomasello, 2008).

Ähnliche emotionale Reaktionen löst immer noch die Psychoanalyse in weitenTeilen der akademischen Psychologie aus. So fand die Fahndung des Wissenschaftsjournalisten Zimmer (1986) nach widersprüchlichen Aussagen im Originaltext Freuds große Anerkennung. Erfreulicherweise gibt es eine Reihe von Psychoanalytikern, die ihrerseits die Erkenntnisse der empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.en Kleinkindforschung rezipieren und sowohl für die Forschung als auch für die klinische Arbeit nutzen. Allen voran zu nennen sind hier Margret Mahler und Bruno Bettelheim. Letzterer wäre übrigens ein geeigneterer Kandidat als Freud, um ihn mit Piaget in einem Atemzug zu nennen, da beide ein ähnliches Verständnis von Entwicklung als aktive Konstruktion haben (z. B. Bettelheim, 1967). Seine Ansichten zur Psychosenentwicklung stehen andererseits in hoher Übereinstimmung mit den Ausführungen der Verhaltensforscher Tinbergen zum Entstehen des frühkindlichen Autismus (Tinbergen & Tinbergen, 1972). Freud selbst hat sich dagegen kaum zur Entwicklung in diesem frühen Lebensabschnitt geäußert.

In der französischen psychoanalytischen Schule, wie sie von Serge Lebovici (z. B. 1983) begründet wurde, werden Erkenntnisse der Interaktionsforschung für die klinische Diagnostik genutzt. Es zeigt sich, dass es sehr wohl möglich ist, von unterschiedlichen theoretischen Positionen her zu ähnlichen Anschauungen zu kommen, wenn nur Offenheit für die Phänomene vorhanden ist – das heißt die impliziten Theorien den Blick nicht allzu sehr einengen.

Die impliziten Theorien der Wissenschaftler sind wichtige Bestandteile des Erkenntnisprozesses, die es aufzudecken und zu reflektieren gilt, wenn ein allgemein gültiges Verständnis von Entwicklung angestrebt wird. Alle drei Perspektiven, das Kindheitskonzept, der kulturelle Kontext und die implizite Entwicklungstheorie hängen natürlich miteinander zusammen und stellen verschiedene Zugangsweisen zu dem Gegenstandsbereich – Entwicklung im Säuglingsalter – dar.

Zum Weiterlesen:

Entwicklungs-psychologische Grundlagen der ersten Jahre (nifbe-Themenheft 17)


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