Gerhard Regel

Offener Kindergarten als kindzentrierter Pädagogischer Ansatz

Eine 25-jährige Entwicklung und ihr Bezugsrahmen


Nach seiner rund 25-jährigen kontinuierlichen Entwicklung hat der Offene Kindergarten (OK) in niedersächsischen Bereichen zu einer Gestalt gefunden, die einen zeitgemäßen Ansatz darstellt. Das meint in erster Linie, dass die Grundannahmen der Reformpädagogik und heutige Erkenntnisse wissenschaftlicher Forschung umgesetzt werden, vor allem aus der Entwicklungspsychologie und der Hirnforschung. Das führte zu einer konsequenten Kindzentrierung.

 

Eine solche pädagogische Gestaltung ist ohne kooperatives Wirken, schrittweises Vorgehen und offenes Miteinander im Team auf der Basis guter Arbeitsbeziehungen, gemeinsamer Verantwortung und regelmäßiger Reflektion nicht denkbar. Offene Kindergärten verstehen sich als lernende Organisationen, die das Wohlbefinden der Kinder, ihre Freiheiten zur Eigenaktivität und das gemeinsame Leben und Lernen in den Mittelpunkt stellen.

Welcher Bezugsrahmen sich dabei inzwischen herausgebildet hat, zeigt folgendes Schema:



Die Mitte verdeutlicht, dass Kinder Selbstgestalter oder aktive Gestalter ihrer Entwicklung sind und dadurch ihre autonomen Kräfte ausüben und entwickeln. Sie werden es


Erzieherinnen verstehen sich als Selbstgestalter oder aktive Gestalter ihrer Pädagogik. Im Bewusstsein ihrer eigenen Autonomie und im Prozess mit einer unendlichen offenen Geschichte gestalten sie einen Lern- und Lebensraum für Kinder und Erwachsene. Sie sind
 


Der offene Kindergarten hat eine gute Bodenhaftung. Die Teams ringen und bemühen sich darum, für alle Kinder gute Entwicklungsbedingungen zu schaffen. Herausgekommen ist aufgrund der Handlungsfelder und der damit verbundenen Erfahrungsvielfalt eine umfassende Bildungsplattform und ein Lebensraum durch Gemeinschaft der Kinder untereinander und mit den Erwachsenen. Der Offene Kindergarten kann auch als Einladung für Kinder gesehen werden, sich auf das Leben einzulassen, begleitet und unterstützt von Erwachsenen, die zugleich Vorbild sein wollen. Das bedeutet, dass auch die Erziehenden sich auf Lebensthemen einzulassen haben, die sie in sich entdecken und hier eine Herausforderung erkennen.



Im Herbst 2011 erschien das von Gerhard Regel und Uwe Santjer herausgegebene Buch "Offener Kindergarten konkret in seiner Weiterentwicklung". Hierin ist nicht nur erkennbar, wie Offene Kindergärten ihre Aufgaben in ihrer Vernetzung mit Eltern, Schule und Gemeinwesen erweitern, sondern auch, wie Teams qualitativ ihr Verständnis der Kindzentrierung umsetzen. Mit freundlicher Genehmigung des EB-Verlags folgen hier die leicht angepassten Kapitel zum Beziehungsansatz und zur Freiheit:


Der O.K. ist in seinem Kern ein Beziehungsansatz


Wenn die neue Sicht vom Kind die Erziehung auf den Kopf stellt, dann müs­sen neue Akzente und ein neuer Kern der pädagogischen Arbeit die Folge sein. Heute kristallisiert sich das in der offenen Pädagogik eindeutig heraus. Das wird erkennbar in der veränderten Haltung zu den Kindern und der Art und Weise, wie Beziehungen gelebt werden.


Für diesen Weg der Hinwendung zum Kind sind Vertrauen, Annahme und unbedingte Wertschätzung das Grundgerüst. Das gilt prinzipiell ebenso im Kontakt mit den Kolleginnen und Eltern.


In dem Bemühen um offene Beziehungen zeigt sich die unsichtbare Sei­te pädagogischer Arbeit im Offenen Kindergarten. Sie ist nicht unter Qua­litätsaspekten zu erfassen, mit denen Gütesiegel verliehen werden; mit anderen Worten: durch emotionale Präsenz werden Kinder in ihren Besonderheiten wahrgenommen, um so ihr Wohl­ergehen und ihre Lernfreude zu fördern. Und so erfüllt sich hierdurch der schöne Satz des kleinen Prinzen (Saint-Exupéry): „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“


Spürbar wird das Ringen um gelingende herzliche Beziehungen zu Kin­dern durch das Schaffen einer entspannten Atmosphäre. Die Stimmig­keit ist auch daran ablesbar, dass die Kinder sich engagiert einlassen, gern kommen und erfahrene Zuwendung erwidern. Eine besondere Bedeutung bekommt inzwischen die Bindungstheorie und die damit verbundene Bin­dungsbeziehung. Sie ist für bestimmte Kinder eine wichtige Vorausset­zung für ihre lebendige Entwicklung. Auf diese Erfahrung sind besonders Krippenkinder angewiesen. Insgesamt gilt, dass den Kindern die Beziehung angeboten wird, die sie brauchen und als Bedürfnis signalisieren und su­chen. Das schließt nicht aus, distanzierten und eher verschlossen wirkenden Kindern verlässliche Beziehungsangebote zu machen, damit sie zu neuen emotionalen Erfahrungen kommen.


Der bekannte Hirnforscher G. Hüther stellt in seinen Vorträgen zwei Grundbestimmungen kindlicher Entwicklung heraus, die fest im Gehirn ver­ankert sind. Es sind die Erfahrungen engster, vertrauter Verbundenheit und die auf dieser Basis stattfindende Erfahrung des Wachsens. Damit kommt der neugeborene Mensch auf die Welt und will so weiterleben. Wachsen­wollen zeigt sich in der Offenheit und Lernfähigkeit, Entdeckerfreude und Gestaltungslust, mit der sich alle Kinder auf den Weg machen. All das kann jedoch verkümmern, wenn die Verbundenheit durch zufrieden stellende Be­ziehungserfahrungen ausbleibt oder unzureichend ist. Dann fehlt die Si­cherheit, sich auf das Leben einzulassen. Solche Kinder sind dann mehr oder weniger gefangen in ihrer Bindungsunsicherheit.


H. v. Hentig, der wohl bedeutendste Pädagoge des letzten Jahrhun­derts, nennt drei Grundbedingungen (Quelle unbekannt), die für ein gelin­gendes Leben und Lernen erfüllt sein müssen:


Die Beziehungsprozesse mit dem einzelnen Kind sind eine unendliche Ge­schichte, denn die Entwicklung eines Kindes und sein Wachsen hat viele Seiten, geschieht in einem ständigen Auf und Ab und ist mit immer neuen Überraschungen verbunden. Erfreulich ist, dass sich in Offenen Kindergär­ten in den letzten Jahren die Kompetenzen im individuellen Umgang mit Kindern weiter ausgeprägt haben, ebenso die Bereitschaft zur Eigenreflek­tion und zur gemeinsamen Reflektion im Team und in Teilteams. Die Sen­sibilität ist gewachsen, Kinder mit ihren 100 Sprachen (Reggio) zu entde­cken. Hierbei sind Erzieherinnen offen mit allen Sinnen und zugleich offen für eigene Gefühle und Empfindungen. Offen, vorurteilsfrei, aufmerksam, achtsam und nicht selten neugierig in Beziehung zu sein, erschließt kind­liches Erleben und Verhalten im Kontext der Situation, schafft Nähe und ermöglicht Wertschätzung und Anerkennung, Auseinandersetzung, Kritik und Dialog. Es werden Stärken und Entwicklungsbedürfnisse von Kindern deutlich; werden sie reflektiert, führt das zu angemessener Unterstützung und Hilfe.


Eine offene, achtsame Beziehung ist eine Kunst, die immer wieder geübt werden muss. Sie macht es möglich, den Spuren und Impulsen der Kinder zu folgen. Voraussetzungen hierfür sind z. B. Präsenz durch innere Wachheit, in­nere Zeit und Aufmerksamkeit, um feinfühlig mitzuschwingen mit dem, was vom Kind kommt. Kindern Resonanz zu geben ist die Voraussetzung dafür, dass sie sich erwünscht und bestärkt und bestä­tigt fühlen. Resonanz und Spiegelung, deren Bedeutung durch die neuere Hirnforschung herausgestellt wird, führen zur Selbstfindung und Selbst­sicherheit und zu vertieften Beziehungen zu sich selbst. Sie bringen Kinder zu der Erfahrung, dass sie eins sein können mit sich und der sie umgebenden Welt. Über die sichere Verbundenheit und dem erlebten Vorbild entwickelt sich eine Vielfalt von Beziehungen zu anderen Kindern, Erwachsenen und in der Gemeinschaft durch angebotene Formen des Miteinanders.


Der Beziehungsansatz hat sich aus der Erkenntnis gebildet, dass Kinder zu ihrer Einzigartigkeit finden sollen, um so ihren Weg der Entwicklung zu gehen. Pädagogisch wird von Individualisierung gesprochen (siehe folgenden Kasten). Dadurch wird der Kindergarten zu einem Ort der Verschiedenheit und zu­gleich zu einem Ort des gemeinsamen Aufwachsens, worin sich alle gleich sind. Das soll nun mit dem nächsten Punkt vertieft werden.


 

„Freiheit ist die Basis von allem – Weg und Ziel“


Freiheit ist von Anfang an ein wichtiges nicht wegzudenkendes Gestaltungs­element in der offenen Pädagogik. Sie zeigt sich in der Idee der Öffnung, den damit verbundenen Freiräumen im gesamten Kindergarten und in den seit den 80er Jahren sich kontinuierlich erweiternden Entscheidungsmög­lichkeiten für die Selbstsorge und in dem selbstverantwortlichen Handeln der Kinder. Das Freispiel wurde in diesem Zusammenhang mit vier Freiheiten definiert: Kinder entscheiden, wo, mit wem, womit und mit wel­chen Inhalten und wie lange sie im Rahmen der Zeitstruktur spielen wollen.

Die pädagogische Bedeutung der Freiheit geht jedoch weit über diese An­fänge hinaus. Am klarsten hat das M. Montessori mit der obigen Überschrift ausgedrückt. Ihre genauen Beobachtungen haben sie zu der anthro­pologischen Aussage gebracht, dass die Freiheit jedem Menschen gegeben und aufgegeben ist, und so müssen dann auch kleine Menschen nicht nur Freiheit erfahren, sondern auch dazu befähigt werden, verantwortlich damit umzugehen.

Im Blick auf die Idee der Freiheit sind offenbar in den letzten Jahren in Offenen Kindergärten Unsicherheiten entstanden. Mir ist aufgefallen, dass darüber weniger gesprochen wird und in neu formulierten Konzepten das Wort Freiheit nicht mehr oder seltener vorkommt. Manche Einrichtungen haben sich – wie sie selbst formulieren – „halboffen“ herausgewagt, indem sie einerseits Freiheit ermöglichen und andererseits beschneiden. Mit einer solchen Ambivalenz sindTeams jedoch weit von einer offenen Pädagogik entfernt. Bis heute wird mit Freiheit immer noch Beliebigkeit verbunden, was für offene Kindergärten mit längerer Erfahrung jedoch so gut wie nie gegolten hat.

Ich vermute, dass zur Zeit die Gegenkräfte der Nach-Pisa-Ära besonders wirksam sind, denn der Druck durch Eltern, Träger und Politiker aller Ebe­nen, Kindern mehr zu bieten und sie durch Programme zu fordern und zu fördern, behindert oder verhindert die spontane, spielerische Freiheit und die individuelle eigenständige Entwicklung der Kinder. Wenn sich Kinder­gartenteams jedoch mit dem Phänomen der Freiheit beschäftigen, treten sie selbstbewusst auf und machen die Bedeutung der Freiheit für eine umfas­sende Entwicklung transparent.

In unserem Netzwerk haben wir uns mehrfach mit der Freiheit beschäf­tigt und uns als die Erziehenden dabei nicht ausgelassen. Sollen Kinder mit der in ihnen angelegten Freiheit leben lernen, muss das Kindergartenteam von Freiheit inspiriert und begeistert sein und selbst Freiheit leben. Das überträgt sich dann auf die Kinder, besonders auf die, die noch wenig Erfah­rung mit der Freiheit haben oder damit bisher völlig diffus umgehen.

Wir haben uns bewusst gemacht, dass Freiheit kein Selbstläufer ist. Das Gewähren von Freiheit ist zwar wie ein liebevoll ausgesuchtes Geschenk, jedoch gleichzeitig der Anfang eines wechselseitigen Lernprozesses, der im Blick auf das einzelne Kind und seine bisherige Lerngeschichte einer mehr oder weniger bewussten engagierten Begleitung und Unterstützung bedarf, damit Kinder in den verantwortlichen Umgang mit Freiheit hineinfinden.


M. Montessori definiert das Gefüge der Verantwortung wie folgt:


Pädagogisch ist Freiheit eine herausfordernde Entwicklungsaufgabe. Beglei­tung und Unterstützung sind allerdings nicht die einzigen Wirkweisen, die Kinder zu einem angemessenen Umgang mit ihrer Freiheit verhelfen kön­nen. Die in der Freiheit gelebte Autonomie hat auch eine Gegenkraft, die ebenso tief als Teil der Selbstverwirklichung in jedem Menschen angelegt ist. Es ist das Streben nach Verbundenheit, Nähe und Wärme, nach Einflussnah­me, Kooperation und nach liebevoller Zuwendung.

Die in jedem Menschen tief verwurzelten Liebeskräfte sind wohl die stärksten Potentiale, die zu einem erfüllten Leben führen. Die Liebeskräfte, die das Vorbild brauchen, können sich in drei Richtungen entfalten: In der Verbundenheit durch Begeisterung (Eros), in der Verbundenheit durch Fein­fühligkeit und in der Verbundenheit durch Wertschätzung, Verstehen und Dialog. Durch die Entfaltung dieser zwischenmenschlichen Möglichkeiten wird die Übernahme von Verantwortung ein Gewinn und keine Zumutung und erst recht keine Überforderung.

 So erweitert sich durch Bezugspersonen, Bindungserfahrungen und im bezogenen Zusammenleben in Familie, Kindergruppe, Kindergarten und Schule wie selbstverständlich die Erfahrung von Freiheit um das Erleben zwischenmenschlicher Verbundenheit. Wird das Miteinander vorwiegend positiv erfahren, bereichert es das eigene Leben und macht die Begrenzung von Freiheiten erträglich. Verzicht ist in diesem Zusammenhang dann kein bedrohlicher Verlust. Kinder entscheiden hier intuitiv und lernen nach und nach, ihre Verstandeskräfte zu gebrauchen und einzusetzen und dadurch immer bewusster vernunftgemäß zu handeln, vor allem im Schulalter.

In diesem Entwicklungsprozess bilden Autonomie und Interdependenz (gegenseitige Abhängigkeit) eine Gegensatzeinheit. Ich- und Wirkräfte wer­den zu einem Ganzen, und so ist die offene Pädagogik durch die gelebte Kultur des würdevollen Miteinanders, durch ihre offenen achtsamen Bezie­hungen und durch vielfältige Gemeinschaft, in der Kinder auch Verantwor­tung übernehmen können, eine Gewähr dafür, dass die Kultur der Freiheit nicht zu einer willkürlichen egozentrischen Entwicklung führt. Eigensinn und Gemeinsinn als Grundlage menschlicher Existenz finden so zusammen.

Wir haben uns während der Beschäftigung mit dem Thema Freiheit durch das wunderschöne Gedicht von L. Malaguzzi (Epilog aus „Hundert Sprachen hat das Kind“) bestätigt gefühlt. Besonders hat uns der Hinweis auf die „wertvolle Lehre der Freiheit“ angesprochen und ange­regt. Sie gilt für Kinder und Erzieherinnen gleichermaßen.

Der Begriff der Lehre bezieht sich im Ursprung auf eine Lehrzeit, in der sich eine bestimmte berufliche Kompetenz mit Unterstützung des Lehr­meisters ausformt und bildet, so dass sich die Persönlichkeit des Lernenden um neues Können erweitert.

Diese Vorstellungen lassen sich auch auf Kinder übertragen, wenn es um die „wertvolle Lehre der Freiheit“ geht. Sie lernen mit dieser wertvollen Gabe zu leben und entwickeln ein Können im Umgang damit. Dabei formt sich ihre Persönlichkeit weiter aus und bewältigt Schritt für Schritt im viel­fältigen Erfahrungsfeld Kindergarten das Spannungsverhältnis von Ich- und Wirfindung sowie der damit verbundenen Selbstverwirklichung.

Für das Zusammenleben bedeutet eine solche Entwicklung, dass Kinder mit innerer Motivation nach und nach ihren Beitrag zur Mitverantwortung geben, aktiv teilnehmen an der Gestaltung ihres Lebensraumes, Liebeskräfte in Beziehungen entfalten und so über sich hinauswachsen. Das Glück des Zwischenmenschlichen und der Gemeinschaft bedeuten dann mehr als das Glück der Freiheit mit ihrer Unabhängigkeit.

Das entspricht dem Stand der heutigen Hirnforschung. So geht z. B. J. Bauer (20) bei seiner Suche nach dem Prinzip Menschlichkeit der Frage nach, ob der Mensch seine Ziele rücksichtslos anstrebt oder lieber von Natur aus mit anderen zusammen arbeitet. Bauer widerlegt die weit verbreitete These, der Mensch sei primär auf Egoismus und Konkurrenz eingestellt. Ausgehend von neurobiologischen Erkenntnissen zeigt er, dass das mensch­liche Handeln viel mehr durch das Streben nach Zuwendung, Wertschät­zung und Kooperation motiviert ist.

Abschließend möchte ich das komplexe Lernen im Spannungsfeld von Autonomie und Interdependenz auf eine einfache Formel bringen: Wenn die Freuden des Aufwachsens größer sind als die Belastungen, sind Kinder bereit, die Einschränkungen und Regeln des Zusammenlebens zu akzeptie­ren und das erst recht mit den heutigen Erfahrungen der praktizierten Par­tizipation. Verantwortung als antwortendes Verhalten wird dann zu einem gelingenden Teil im Lebensraum Kindergarten.

Zur Buchbesprechung:

Grundlagen und Potentiale des Offenen Kindergartens
 


 


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