Pädagogik der Vielfalt im Kindergarten

Ein Überblick

Inhaltsverzeichnis

  1. Menschenrechtliche Grundlagen
  2. Sozial- und bildungsphilosophische Grundlagen
  3. Historische Voraussetzungen
  4. Praxisbezogene Handlungsperspektiven
  5. Literatur

Gesamten Beitrag zeigen


Historische Voraussetzungen

Das Modell der Inklusiven Pädagogik als Pädagogik der Vielfalt hat sich aufgrund langjähriger historischer Entwicklungen herausgebildet. Bildungsgeschichtliche Analysen zeigen, dass Spuren integrativer Tendenzen schon in mittelalterlichen Bildungswelten gefunden werden können und seit dem 17. Jahrhundert, also seit ca. 500 Jahren, immer deutlicher Gestalt annehmen (Lindemann u. a. 2019). Zugleich ist Inklusion im Bildungswesen bis heute unvollendet geblieben und stellt eine bedeutsame Zukunftsaufgabe demokratischer Gesellschaften dar.

Als Meilensteine auf dem langen Weg zur inklusiven Pädagogik der Vielfalt gelten unter anderem eine Reihe von Institutionen und Personen, die als Vorläufer gemeinsamen Lernens angesehen werden können. Für die folgende holzschnittartige Aufstellung historischer Meilensteine wird eine Perspektive gewählt, in der Zusammenhänge zwischen schulpädagogischen und frühpädagogischen Entwicklungen in den Blick kommen.

Meilensteine auf dem langen Weg zur Inklusiven Pädagogik :
  • Prominent wurden die frühmodernen Entwürfe einer Bildung von klein auf für alle von Johann Amos Comenius (1592–1670) aus dem 17. Jahrhundert.
  • Im Geiste der Aufklärung entstanden am Ende des 18. Jahrhunderts die stände- und religionenübergreifenden sowie zum Teil auch geschlechterübergreifenden philanthropischen Musterschulen. Sie wurden auch hinsichtlich der Entstehung frühpädagogischer Ansätze einflussreich.
  • Um die Kinder der Arbeiterinnen während der beginnenden Industrialisierung nicht verelenden zu lassen, richtete zu Beginn des 19. Jahrhunderts die philanthropische Regentin Pauline zur Lippe ihre – als erste ihrer Art geltende – Kinderbewahranstalt in Lippe-Detmold ein.
  • Friedrich Fröbel und weitere Personen, wie Henriette Breymann-Schrader, schufen die Kindergartenpädagogik und bis heute einflussreiche pädagogische Angebote, zu denen das Kreisspiel, das Freispiel und die Spielgaben gehören.
  • Im Laufe des 19. Jahrhunderts kam es zur Verwirklichung der allgemeinen Unterrichtspflicht in ständisch segregierenden niederen und höheren Bildungseinrichtungen, die vor allem in höheren Schulen auch nach Geschlechtern trennten, sowie zu ersten Sondereinrichtungen.
  • Die reformpädagogischen Modelle für individualisiertes kindorientiertes Lernen in Kindergärten und Schulen entstanden in der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Dazu gehören das Bekanntmachen der pädagogischen Formen der Freiarbeit, des Kreisgesprächs und der Projektarbeit .
  • Im Laufe des 20. Jahrhunderts fanden in den international sich modernisierenden Gesellschaften Bildungsreformen statt. Geschaffen wurden zunehmend integrierende Schulformen mit dem Ziel der Grundbildung und der meritokratischen Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Herkünfte. In Deutschland kam diese Entwicklung mit der Gründung der Grundschule zu Beginn der Weimarer Republik in Gang; ihr hundertjähriges Jubiläum wird im Jahr 2019 gefeiert. Das flächendeckende Angebot einer qualitativ hochwertigen frühen Bildung gilt als grundlegend für die Realisierung von Chancengleichheit (Rabe-Kleberg 2010).
  • Inklusive Pädagogik entwickelte sich meist von Kindergärten ausgehend international (in deutschsprachigen Ländern vor allem in punktuellen sogenannten »integrativen« Schulversuchen) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie nie zuvor sollten alle Kinder unabhängig von ihren kognitiven, sozial-emotionalen und körperlich heterogenen Lernausgangslagen aufgenommen werden. Mit dem Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention stellt sich die Gesellschaft die Aufgabe, Inklusive Pädagogik flächendeckend auf allen Bildungsstufen zu implementieren.
Die Meilensteine der Geschichte der Frühpädagogik im Kontext des Bildungswesens sind zugleich Teil gesamtgesellschaftlicher Strömungen. Vielfältige, auf einzelne Gruppierungen bezogene soziale Bewegungen und ihre Bemühungen um Bildung nahmen Einfluss auf die historischen Entwicklungsprozesse und sind auch weiterhin einflussreich. Dazu gehörten und gehören so unterschiedliche Einzelströmungen wie die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung, die Bewegungen der Menschen mit Behinderungen, die interkulturellen und antirassistischen Bürgerrechtsbewegungen, die Kinderrechtebewegung, die Schwulenbewegung, die Palliativbewegung und andere. Die aus ihnen hervorgegangenen einzelnen pädagogischen Konzeptionen verbindet, dass sie alle – ihre partikularistischen gruppenbezogenen Interessen überschreitend – auf den universellen Menschenrechten fußen. Sie alle fließen zusammen in der Inklusiven Pädagogik und den ihr entsprechenden Ansätzen, die unter den Namen Pädagogik der Vielfalt, DiversityDiversity|||||Im Deutschen wird der Begriff auch auch als Vielfalt benutzt und meint besonders, dass soziale Vielfalt konstruktiv genutzt wird. Im Diversity Management wird besonders auf eine positive Wertschätzung der individuellen Verschiedenheit eingegangen, um eine produktive Gesamtatmosphäre zu erreichen.-Education, Anti-Bias-Education, Social Justice Education verhandelt werden. Damit ist eine vielfaltsbewusste Allgemeine Pädagogik entstanden.

Anhand der historischen und zeitdiagnostischen Analysen lassen sich für die skizzierte mehr als vierhundert Jahre andauernde Bildungsentwicklung holzschnittartig drei verschiedene Bildungsmodelle rekonstruieren, die sich teilweise auch gleichzeitig überschneiden: Das traditionelle feudale Modell der ständisch geprägten Bildungsordnung trennt die Lernenden geburtsständisch und hierarchisch vor allem nach ihrer Standeszugehörigkeit und darüber hinaus auch nach geschlechtlichen, religiösen, ethnischen und anderen Gruppierungen. Bis heute sind diese hierarchischen Trennungen im Bildungswesen einflussreich. Das Bildungsmodell der aufgeklärten und zunehmend demokratischen Moderne kritisiert die geburtsständische Statusbegründung und stellt ihm die leistungsbezogene Statuszuordnung entgegen. Diese strebt an, ständische Festschreibungen zu überwinden, allen zu erlauben, sich gut zu entwickeln, ihre Leistungsfähigkeit zu entfalten und sich am Wettbewerb um gesellschaftliche Positionierungen zu beteiligen. Das an Chancengleichheit orientierte, soziale Mobilität ermöglichende moderne Bildungsmodell empfinden wir als gerechter als das statische ständisch geprägte Bildungsmodell. Zugleich sind in der Spätmoderne Schattenseiten der modernen Leistungskonkurrenz bewusst geworden. Das meritokratische Prinzip wird kritisiert, weil es für die Verlierer im Wettbewerb keine Quelle von Anerkennung bereit hält, weil es die unsichtbaren Leistungen vieler, die in die sichtbaren Leistungen einzelner eingewandert sind, ignoriert, weil es Angst vor Statusverlust schürt, zu Vereinsamung führt und die Dimension der Solidarität vernachlässigt. Mit dem inklusiven – durch plurale soziale Bewegungen und pluralitätsphilosophisch inspirierten – Wertschätzen vielfältiger Lebensweisen und Lernausgangslagen entstehen historisch erstmals früh- und schulpädagogische Bildungseinrichtungen, die bewusst und gewollt alle Kinder und Jugendlichen aufnehmen, ihre Vielfalt und Gemeinsamkeit anerkennen und explizit mit heterogenen Lerngruppen arbeiten. Inklusive Pädagogik kann auf den über Jahrhunderte entstandenen pädagogisch-geistigen und pädagogisch-praktischen Errungenschaften der Bildung für alle aufbauen. Sie kann die auf der Basis vielseitiger reformpädagogischer Konzeptionen entwickelten pädagogischen Formen des Freispiels, der Freiarbeit, des Kreisspiels, des Kreisgesprächs, der kreativen Projektaktivitäten, der Partizipation sowie der persönlich differenzierenden Förderung und demokratischen Gemeinschaftspflege nutzen (Prengel 2016).