Kulturelle und religiöse Vielfalt

Eine pädagogische Chance in Kindertageseinrichtungen

Inhaltsverzeichnis

  1. Kultur und Religion – große Begriffe, die einer differenzierten Betrachtung bedürfen
  2. Früh für kulturelle und religiöse Vielfalt sensibilisieren
  3. Pädagogische Zugänge einer kultur- und religionssensiblen Bildung
  4. Ausblick
  5. LITERATUR

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Kultur und Religion – große Begriffe, die einer differenzierten Betrachtung bedürfen

Als Grundlage für die konstruktive Entwicklung kultureller und religiöser Vielfalt in frühkindlichen Kontexten ist zunächst der Blick auf die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Religion‘ zu richten. Die individuelle und gemeinschaftliche Reflexion dieser Begriffe in der engen Kooperation von Kindern, pädagogischen Fachkräften und Eltern ist ein erster und unentbehrlicher Schritt, um eine Basissensibilität für weitere pädagogische Prozesse zu entwickeln.

Dabei ist zum einen zu beachten, dass Vielfalt bereits beim Verständnis dieser Begriffe beginnt, und zum anderen zu erkennen, dass die Begriffe in enger wechselseitiger Beziehung zu diskutieren sind (vgl. u.a. von Stosch, Hofmann, Schmitz 2016).

So wird der Begriff ‚Kultur‘ in vielfältigen religiösen, gesellschaftlichen, politischen und auch pädagogischen Kontexten benutzt und meist mit ganz unterschiedlichen Assoziationen und Bedeutungen versehen: In Kindertageseinrichtungen kommen Kinder, Eltern und pädagogische Fachkräfte mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Vorstellungen zusammen. Eine differenzierte Betrachtung des Begriffs Kultur ist daher Grundlage für den konstruktiven Umgang mit kultureller Vielfalt.

Lange Zeit wurde der Begriff Kultur als Gegenbegriff und Abgrenzung zur Natur aufgefasst. Alles, was durch menschliche Leistung hervorgebracht wurde, galt als Kultur: Sprache, Bildung, Architektur, Kunst u.a. (vgl. Vanderheiden & Mayer 2014, S. 29). Mit einer zunehmend nationalen Interpretation des Kulturbegriffs wurde diese Abgrenzungstendenz in Hinblick auf Nationalstaaten übernommen: Jede Nation hatte eine eigene Kultur als Mittel- und Schwerpunkt, die sie klar von anderen Nationen und deren Kulturen abtrennt (vgl. Herder 1967, S. 44). Folgt man dieser Theorie, dann kann kulturelle Begegnung nur als ein Aufeinanderprallen zweier unterschiedlicher Kulturen verstanden werden. Auch die Vorstellung, die Welt ließe sich in verschiedene Kulturkreise aufteilen, steht in dieser Tradition und geht von einer nach innen einheitlichen und nach außen abgrenzbaren Form von Kultur aus. Dieser statische Kulturbegriff widerspricht aber einer Realität, die stark durch Migration, Globalisierung und kulturellen Austausch geprägt ist (vgl. Sen 2007).

Stattdessen bedarf es eines Kulturverständnisses, das sich eng an die Lebenswelt der Menschen bindet und somit deren Dynamik Rechnung tragen kann. Kultur versteht sich dann vielmehr als Lebensweise einer gesellschaftlichen Gruppierung, die vor dem Hintergrund ihrer Werte und Vorstellungen eine spezifische Lebenspraxis ausprägt (vgl. Kolsch-Bunzen, Morys, Knoblauch 2015, S. 16 f.). Aus dieser Lebenspraxis heraus entstehen Umgangsformen, Beziehungen, Glaubenssysteme und Traditionen, die für die Gruppierung Bedeutung erlangen, aber nicht starr, sondern weiterhin wandelbar sind.

Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses zeigt sich Kultur als ein Phänomen, das nicht zwangsläufig auf starre Zuordnung, Abgrenzung und Isolation angelegt ist. Vielmehr kann Kultur als dynamisches Moment betrachtet werden, das die Chance auf individuelle Ausprägungen bietet, die Möglichkeit von Mehrfachzugehörigkeiten ermöglicht und auf Begegnung mit anderen angelegt ist.

Parallelen finden sich bei der Reflexion des Begriffs ‚Religion‘: Das Leben, Lernen und Arbeiten in einem Umfeld, das von religiöser Vielfalt geprägt ist, benötigt eine Reflexion des zugrundeliegenden Begriffs ‚Religion‘. Religion kann sich in vielerlei Zusammenhangen und Ausprägungen zeigen, in großen Gemeinschaften praktiziert, ganz individuell gelebt oder auch bewusst gemieden werden. Der Begriff Religion ist dabei äußerst vielschichtig angelegt und wird sehr unterschiedlich verwendet und interpretiert.

Zum einen kann der Begriff verschiedene inhaltliche Merkmale aufzeigen, die aber innerhalb verschiedener Religionen variieren. Dazu gehört im Rahmen der abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) zum Beispiel der Bezug auf und die Auseinandersetzung mit einer höheren Macht – Gott (Substanzialistischer Religionsbegriff).

Zum anderen kann man sich dem Begriff Religion über seine vielfaltigen Funktionen annähern. Auf diesem Weg wird davon ausgegangen, dass Religion eine prägende Rolle für Individuum, Gesellschaft und Kultur besitzt. Die abrahamitischen Religionen zum Beispiel können als prägend für verschiedene Bereiche unserer Gesellschaft angesehen werden: Wertvorstellungen, Wochen- und Jahresrhythmen, Kunst, Architektur, etc. (Funktionalistischer Religionsbegriff).

Die Komplexität und Unterschiedlichkeit individueller und gemeinschaftlicher Auffassungen zu den Begriffen ‚Religion‘‚‘Religionen‘ und ‚Religiösität‘ macht eine Begriffsbestimmung äußerst problematisch. Vor diesem Hintergrund sucht eine konstruktive Annäherung an den Begriff ihren Ursprung in menschlichen Grunderfahrungen und reflektiert davon ausgehend unterschiedliche Intensitäten menschlicher und religiöser Erfahrungen:

Kinder, Eltern und Fachkräfte bringen ihre (1) persönlichen Alltagserfahrungen mit in die Einrichtung und teilen sie dort mit anderen. Dies können sowohl beiläufige als auch tiefgreifende Erfahrungen sein, wobei manche Erfahrungen nachhaltig im Gedächtnis bleiben und zu Schlüsselerfahrungen werden können.
Erfahrungen, die unsere Existenz angehen, die sich mit grundlegenden Fragen des Lebens beschäftigen und uns immer weiter begleiten, können als (2) existentielle Erfahrungen bezeichnet werden. Fragen und Ereignisse, die Recht und Unrecht, Gut und Böse, Leben und Tod betreffen, können existentielle Erfahrungen hervorbringen. Diese Erfahrungen werfen oft Fragen auf, die einen größeren Sinnzusammenhang benötigen und über das Erlebte hinausgehen: „Warum sind manche Menschen krank und andere gesund? Warum gibt es so viel Ungerechtigkeit auf der Welt? Woher komme ich? Was passiert nach dem Tod?“ In der Reflexion dieser Erfahrungen und Fragen können sich (3) religiöse Erfahrungen entwickeln: Antwortoptionen werden beispielsweise in religiösen Schriften, in Glaubensvorstellungen und in Bezug auf eine höhere Macht gesucht – diese Auseinandersetzung kann Erfahrungen hervorrufen, die eine religiöse Natur besitzen.

Wenn diese Erfahrungen über eine persönliche Reflexion hinausgehen und sich im Rahmen einer Bekenntnisgemeinschaft entwickeln, kann von (4) konfessionellen Erfahrungen gesprochen werden: Die Rückbindung an eine Gemeinschaft, die bestimmten Glaubensinhalten folgt und diese auch gemeinschaftlich praktiziert (z.B. durch Rituale, Gebet, Feiern, etc.) kann konfessionelle Erfahrungen hervorbringen.

Von diesen Grunderfahrungen ausgehend kann man sich dem Begriff Religiösität annähern, indem die Erfahrungen offenen und durchlässigen Glaubenskategorien zugeordnet werden:

  1. Lebens- oder Existenzglaube (Erfahrungen 1+2),
  2. Transzendenz- oder Gottesglaube (Erfahrung 3) und
  3. Konfessions- oder Gemeinschaftsglaube (Erfahrung 4) (vgl. Lechner & Gabriel 2009, S. 159-176).

Die Reflexion des Begriffs ‚Religion‘ kann auf Basis der hier diskutierten Kontexte vorgenommen werden und zu einer sensiblen Wahrnehmung religiöser Vielfalt beitragen.

Bei diesen Betrachtungen zeigt sich bereits die Vielschichtigkeit und enge Beziehung der Begriffe Kultur und Religion. Die vielfaltigen Wahrnehmungen, Ausprägungen, Erfahrungen und Vorstellungen von ‚Religion‘ und ‚Kultur‘ können in der Selbstreflexion und im Dialog nach und nach erschlossen werden. Ziel ist dabei die Entwicklung eines sensiblen Umgangs mit den kulturellen und religiösen Hintergründen jedes Einzelnen – eine unverzichtbare Grundlage für das gemeinsame Leben und Lernen in Kindertageseinrichtungen. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden weitere Überlegungen zu einer kultur- und religionssensiblen Erziehung und Bildung angestellt werden.


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