Eingewöhnung aus interkultureller Perspektive

Die Aufnahme eines neuen Kindes ist für alle Beteiligten ein aufregender Schritt. Um den Kindern und ihren Familien diesen Start in die neue Situation zu ermöglichen, ist ein systematisches Eingewöhnungskonzept fest in den pädagogischen Konzeptionen der Einrichtungen verankert. Mit der Aufnahme von Kindern aus Familien mit interkulturellem Hintergrund gibt es zusätzliche Aspekte, vor allem in der Zusammenarbeit mit deren Eltern, zu beachten.


Hamza ist ein ca. einjähriger Junge aus einer Flüchtlingsfamilie aus Somalia. Er besucht erst seit kurzer Zeit eine belgische Kindertagesstätte und hat große Schwierigkeiten beim Einschlafen in der Kita. Die Erzieherinnen versuchen alles, um dem Jungen das Schlafen zu ermöglichen. Dies ist nicht möglich, denn Hamza weint und lässt sich nicht beruhigen. Im Gespräch mit Hamzas Mutter finden die Erzieherinnen heraus, dass sie ihm zu Hause ein Wiegenlied zum Einschlafen vorsingt. Um Hamza die Situation in der Kita zu erleichtern, beschließen Mutter und Erzieherinnen, das Lied aufzunehmen und es Hamza beim Schlafengehen in der Einrichtung vorzuspielen. Mit dieser Unterstützung kann Hamza sich besser beruhigen und in den Schlaf finden.


Diese Geschichte wird in dem Film „Ein Wiegenlied für Hamza – Kindertagesstätten als Orte der Begegnung“ (Gielen et al. 2003) erzählt. Sie verdeutlicht, was die Integration von verschiedenen Verhaltensweisen in der Eingewöhnung von Kindern anderer kultureller Herkunft bewirken kann.

Viele Einrichtungen in Deutschland orientieren sich für die Eingewöhnung an dem Berliner Eingewöhnungsmodell. Dabei geht es in erster Linie um einen sensiblen und tragfähigen Beziehungsaufbau zwischen den neuen Kindern und deren Eltern zur neuen Bezugsperson in der Kita. Während der Eingewöhnungsphase richtet sich die Aufmerksamkeit der Bezugserzieherin vor allem auf das Kind, welches von einem Elternteil begleitet wird. Langsam werden die Trennungszeiten von den Eltern gesteigert. Nach und nach werden Pflegesituationen, das Essen und Schlafen von den Eltern an die Erzieherin abgegeben.

Dieses Vorgehen wurde aus den Erkenntnissen der Bindungstheorie entwickelt. Diese geht davon aus, dass Kinder neue Beziehungen zu fremden Personen aufbauen können, wenn ihre Bezugspersonen sie begleiten und wenn ihnen Zeit gegeben wird, sich in der neuen Situation zurechtzufinden.

Das passt zu uns ...

Die theoretische Ableitung und die empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.e Überprüfung bieten den Hintergrund für dieses Verfahren der Eingewöhnung. Es bietet die Struktur, die für die westliche Mittelschicht üblich ist. In unseren Breitengraden wird es als relativ normal angesehen, dass Kinder zunächst in ihrer Familie mit eher wenigen Bezugspersonen aufwachsen. Erst nach und nach findet eine Ausweitung der Bezugspersonen wie Großeltern, Freunde, Tagesmutter oder Babysitter und dann in die Kita statt (vgl. Borke et al. 2014).

In Deutschland schauen wir sehr kindzentriert auf die Erziehung unserer Kinder. Das Kind steht im Mittelpunkt und wir legen sehr viel Wert auf die Selbstbestimmtheit und Autonomie unserer Kinder. Dieses Bild vom Kind ist Grundlage aller Bildungs- und Erziehungspläne in Deutschland.

... aber nicht zu jedem

In anderen Regionen dieser Erde wachsen Kinder jedoch in eher verbundenheitsorientierten Strukturen auf. Hier werden Kinder in Mehrgenerationsverbänden groß. Kinder erleben hier teilweise schon sehr früh ein Betreuungssystem, das aus mehreren und auch wechselnden Bezugspersonen besteht. Hier wird es als normal angesehen, dass mehrere Personen, auch außerhalb der Familie, ein Kind erziehen. Für Eltern mit einem solchen Erleben ist es sicher unverständlich, dass sie die Eingewöhnung ihres Kindes in die Kita begleiten sollen (vgl. Borke et al. 2014). Dies bedeutet natürlich nicht, dass alle Familien mit diesem Hintergrund diese Vorstellung teilen.

Viele Eltern versuchen sich sehr ausführlich anzupassen. Dies erfordert jedoch eine Bereitschaft und Hintergrundwissen von allen am Prozess beteiligten Personen.

Wichtig sind Kenntnisse und Wissen, Haltung und Achtsamkeit und das Leben von DiversitätDiversität|||||siehe Diversity

Mit dem Hintergrund dieser Überlegungen klingt der Begriff Eingewöhnung vielleicht etwas veraltet. Dieser klingt danach, als sollen sich die Kinder und Eltern einpassen wie in ein starres Puzzle. Im Komponentenmodell (vgl. Keller 2012) wird beschrieben, worauf es in der interkulturellen Praxis ankommt. Wichtig sind Kenntnisse und Wissen, Haltung und Achtsamkeit und das Leben von Diversität.

Im Kontext der Eingewöhnung heißt Kenntnis zum einen, dass es kulturelle Unterschiede hinsichtlich der Gestaltung des Bindungsaufbaus gibt. Hieraus ergeben sich unterschiedliche Erziehungsstile und Formen elterlicher Zuwendung. Bei uns sollen Kinder in der Eingewöhnung keine negativen Gefühle erfahren und äußern müssen. Wir beachten ihr Wohlergehen und gehen sehr individuell auf sie ein. In japanischen Kitas wird zum Beispiel das Weinen der Kinder in der Eingewöhnung als Medium des Kennenlernens von Kind und Erzieherin betrachtet. Die Kinder werden ohne dass sie die Erzieherin oder die Räumlichkeiten kennen und ohne weiterer Rituale an die Erzieherin übergeben. Viele Kinder weinen, dies wird jedoch als gutes Zeichen für die Mutter-Kind-Beziehung bewertet und beunruhigt die Erzieherin nicht. Auch die Mütter sind zufrieden, zeigt das Weinen ihres Kindes doch, dass das Kind seine Mutter vermissen wird. In der Interaktion mit dem weinenden Kind lernen sich Kind und Erzieherin kennen und bauen so eine Beziehung auf (vgl. Keller 2013).

Auch das von uns erwartete Verhalten der Kinder bei Trennung ist unterschiedlich. Zum Beispiel reagieren einjährige kamerunische Kinder nahezu emotionslos und ohne Protest, wenn sie von einer für sie fremden Person angesprochen oder auf den Arm genommen werden. Dieses Verhalten wird von den Eltern als passendes und erwünschtes Verhalten angesehen. Nach der klassischen Bindungstheorie im westlichen Kontext würde ein solches Verhalten Fragen nach der Qualität der Eltern- Kind-Bindung aufkommen lassen (vgl. Borke et al. 2014).

Wissen kann einen großen Anteil zum Verstehen von unterschiedlichem Verhalten und Sichtweisen beitragen. Bedeutsam ist zusätzlich eine offene und neugierige Haltung gegenüber den Wünschen der Eltern einzunehmen. In der Eingewöhnungssituation bedeutet dies konkret: Verständnis und Wertschätzung für andere kulturell bedingte Formen des Bindungsaufbaus und damit zusammenhängend auch der Eingewöhnung aufzubringen und kompromissbereit zu sein (vgl. Borke et al. 2014).

„Leben von Diversität bedeutet, unterschiedlichen Handlungsstrategien Raum zu geben – als Bereicherung der alltäglichen Praxis– und damit eine Ressource zu erkennen anstatt ein Problem oder ein Defizit zu identifizieren“ (Keller 2013, S. 20).

Ein gutes Aufnahmegespräch

Für das Erstgespräch verwenden viele Einrichtungen einen standardisierten Fragebogen. Wichtige Informationen können hier evtl. in verschiedenen Sprachen übersetzt und den Eltern ausgehändigt werden. Wenn möglich, nutzen Sie einen Dolmetscher oder Kollegen, die die Sprache der Eltern beherrschen. Fragen Sie die Eltern, ob sie jemanden mitbringen möchten, der sie evtl. unterstützt.

In vielen Städten existieren interkulturelle Zentren und Gemeindedolmetscherdienste, die sie nutzen können. Verfassen Sie Informationen für Eltern in einfacher Sprache und arbeiten Sie mit Visualisierung. Bieten Sie, wenn möglich, Hausbesuche an.

Auch wenn wir den Eltern viel an Informationen mitteilen wollen, ist es wichtig zunächst einmal die Eltern zu fragen, was die Betreuung ihres Kindes in einer Einrichtung für sie bedeutet und was sie erwarten. Zum besseren Verständnis sind alle Fragen nach der Herkunft der Familie und nach der Ursprungsfamilie wichtig. Dies kann auch mit Hilfe einer Weltkarte erfolgen. Alle Informationen auch über das bisherige Lebensumfeld der Familie, ob sie z. B. eher ländlich oder in der Stadt gelebt hat, was diese Region besonders prägt usw., sind wichtig.

Wissenswert ist auch die Migrationsgeschichte der Familie: Wer kam zuerst nach Deutschland? Was waren die Gründe für diese Entscheidung? Welche Bedeutung hat diese Entscheidung für die Eltern und welche Wünsche sind damit verbunden?

Alle Fragen, die die Familie gerade besonders beschäftigen (z. B. die Fluchtsituation) sind ebenfalls wichtig zu erfragen: Wie ist die derzeitige rechtliche Situation? Wie ist die Wohnsituation? Gibt es Kontakte zu Behörden oder ein Netzwerk? Welche religiöse Zugehörigkeit besteht und welche Bedeutung hat diese für die Familie?

Eine Kita – viele Sprachen

Fragen Sie nach den in der Familie gesprochenen Sprachen. Hier können Sie ggf. etwas zu Ihrem Umgang in der Einrichtung mit Sprachen oder Sprachförderung erläutern. Fragen Sie nach der bisherigen Sprachentwicklung des Kindes, so können Sie wichtige Informationen über den Umgang mit Sprache in der Familie erhalten:
liest jemand dem Kind etwas vor oder spielt Spiele mit ihm?
Welche Fernsehsendungen schaut es gerne?
In welchen Situationen kommuniziert das Kind am liebsten?

Holen Sie wichtige Informationen über das Lebensumfeld und den Tagesablauf des Kindes ein:

  • Wer verbringt wie viel Zeit mit dem Kind, Vater, Mutter oder Großeltern?
  • Was mag das Kind, was nicht? Was beschäftigt es zurzeit besonders?
  • Wie wird der Alltag in der Familie gelebt?
  • Was isst und trinkt das Kind gern? Wie geht es schlafen?
  • Wie werden Pflegesituationen gestaltet? Welche Rituale oder Gewohnheiten
  • gibt es?



Tipps für ihre Praxis

  • Fragen Sie im Aufnahmegespräch nach Trost- und Beruhigungswörtern, Lieblingswörtern, speziellen Familienwörtern, nach wichtigen Wörtern zur Gestaltung des Alltags und mit welchen Worten das Kind seine Bedürfnisse ausdrückt. Diese können in einem „Miniwörterbuch“ oder in einer für alle Mitarbeiter sichtbaren Tabelle notiert und genutzt werden.
  • In vielen Einrichtungen gibt es kleine „Ich-Bücher“, die Eltern mit Fotos von der Familie des Kindes o. Ä. am Anfang der Kita Zeit gestalten. Ermutigen Sie auch Familien mit Migrationshintergrund dazu. Vielleicht benötigen die Eltern etwas Anleitung und Unterstützung bei der Umsetzung. Regen Sie Patenschaften oder Freundschaften unter den Eltern an.
  • Familienbilder von allen Kindern in den Gruppenräumen lassen die Kinder erfahren, dass es viele Formen von Familien gibt.
  • Schaffen Sie möglichst viele Anknüpfungspunkte für Kinder und Eltern. Ein „Herzlich Willkommen“ in den in der Kita vertretenen Sprachen im Eingangsbereich lädt ein, zeigt Interesse und schafft Vertrauen.
  • Gestalten Sie Elternecken z. B. mit Einrichtungsgegenständen, Bildern o. Ä. aus den Heimatländern der Eltern. Hierbei unterstützen die Eltern Sie sicher gern.
  • Spiegeln Sie die Vielfalt Ihrer Kinder, Eltern und ggf. auch Ihres Teams in den Räumen und Materialien wider. Warum nicht auch einmal ein Puppenhaus oder eine Rollenspielecke der Kinder international einrichten, eine Lebensmittelpyramide mit internationalen Lebensmitteln bestücken oder mit Puppen verschiedener Hautfarben spielen?
  • Lassen Sie Eltern am Alltag ihrer Kinder teilhaben, indem Sie Hospitationen anbieten und Dokumentationen vom Erleben ihrer Kinder in Form von Bildern anfertigen. Sie können auch analphabetische oder fremdsprachige Eltern durch den Einsatz von digitalen Bilderrahmen, Visualisierungen von Essensplänen, Tagesabläufen und Elternbriefen in Symbolsprache und einfacher Sprache erreichen.


Literatur

  • Borke, Jörn/Keller, Heidi: Kultursensitive Frühpädagogik. Kohlhammer 2014
  • Gielen, Marc/Peeters, Jan: Ein Wiegenlied für Hamza. Kindertagesstätten als Orte der Begegnung. DVD. Verlag das Netz 2004
  • Keller, Heidi (Hrsg.): Interkulturelle Praxis in der Kita. Herder 2013


Übernahme mit freundlicher Genehmigung aus klein & groß 1-2018, S. 20-23


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