Silvana Kappeler Suter

Zuhören und erzählen

Dialogisches Lesen in der KiTa

Co-Autorin: Natalie Plangger

Kinder lieben Bücher und Geschichten. Doch Vorlesen macht nicht nur Spaß, sondern fördert ganz nebenbei auch die Sprachentwicklung der Kinder, vor allem dann, wenn diese aktiv beteiligt sind. Lesen Sie hier, was das so genannte Dialogische Lesen ausmacht, wie Sie mit den Kindern einen Dialog herstellen können und was Sie bei der Durchführung beachten sollten.

Was ist Dialogisches Lesen?

Vorlesen hat in Kindertageseinrichtungen und Kindergärten eine lange Tradition. Oft wird dort das Vorlesen in einer klassischen Form durchgeführt: Die erwachsene Person liest die Geschichte vor und die Kinder hören zu. Längere Beiträge der Kinder sind nicht erwünscht und werden nicht oder nur kurz kommentiert. Es finden wenige Interaktionen zwischen der erwachsenen Person und den Kindern statt. Ziel des klassischen Vorlesens ist es, die Geschichte im vorgesehen Rahmen zu Ende zu erzählen.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Grover J. Whitehurst konnte jedoch zeigen, dass Kinder sprachlich mehr profitieren, wenn sie beim Vorlesen aktiv beteiligt sind (Whitehurst et al. 1988). Whitehurst entwickelte das Konzept des Dialogischen Lesens. Diesem liegt die Idee zugrunde, dass regelmäßiges Sprechen im Austausch mit Erwachsenen einen positiven Effekt auf die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder hat.

Das Dialogische Lesen richtet sich deshalb vor allem an Kinder, die im Vorschulalter wenig Erfahrungen mit Büchern, Geschichten und Schrift machen konnten und deshalb sprachliche Defizite aufweisen. Werden mit diesen Kindern regelmäßig (Bilder-) Bücher dialogisch betrachtet, holen sie diesen Rückstand innerhalb kurzer Zeit auf (Whitehurst et al. 1988).

Im Zentrum des Dialogischen Lesens steht die Kommunikation zwischen einer erwachsenen Person und einem oder mehreren Kindern über ein Buch. Das Besondere ist, dass bei dieser Kommunikation alle Interaktionspartner eine aktive Rolle einnehmen. Während beim klassischen Vorlesen die erwachsene Person vorliest und die Kinder zuhören, werden die Kinder beim Dialogischen Lesen ermutigt, sich aktiv einzubringen.

Die erwachsene Person stellt Fragen, greift die Beiträge der Kinder auf, formuliert sie um, ergänzt sie, stellt einen Bezug zum Alltag her und gibt Impulse. Alle Beteiligten befinden sich in einem ständigen Austausch und das Kind wird für seine Beiträge gelobt. Im Vordergrund stehen der gemeinsame Spaß und positive Erfahrungen mit Sprache und Büchern. Ganz nebenbei werden die Sprach- und Sprechfähigkeiten der beteiligten Kinder gefördert.

Obwohl das Dialogische Lesen für Kinder mit einem sprachlichen Rückstand konzipiert wurde, ist es für alle Kinder geeignet, die Spaß an Büchern und Geschichten haben. Insbesondere für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, ist Dialogisches Lesen sehr wirksam. Durch das Wiederholen und das Erweitern der kindlichen Äußerungen festigen sich neue Wörter, die Sprache wird in ihrem Kontext und mit ihren grammatikalischen Strukturen gelernt. Zudem erleichtert die Verknüpfung von Auditivem (gehörter und gesprochener Sprache) und Visuellem (Bilder) den Erwerb einer neuen Sprache (Kraus 2005).

Buchauswahl

Bei der Auswahl des Buches sollte sich die Fachperson in erster Linie an den Interessen der Kinder orientieren, denn grundsätzlich lässt sich das Dialogische Lesen mit jedem Buch durchführen. Gerade für Kinder mit sprachlichen Defiziten und mehrsprachigen Kindern gibt es jedoch Bücher, die sich ganz besonders eignen.

Geeignete Bücher sind solche,
Nebst diesen Kriterien können folgende Überlegungen hilfreich bei der Buchauswahl sein:

Rahmenbedingungen

Damit sich die pädagogische Fachkraft und die Kinder ganz auf das Dialogische Lesen einlassen können, sind zudem einige Rahmenbedingungen zu beachten:

Der Dialog mit den Kindern

Damit sich ein Dialog entfalten kann und damit die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder gefördert werden, hat Whitehurst (Whitehurst et al. 1988) eine Reihe von Techniken benannt. Im Wesentlichen geht es darum, Impulse zu setzen, damit das Kind zum eigenen Sprechen animiert wird, und die Äußerungen der Kinder aufzugreifen, um zu formulieren und zu ergänzen.

Mit der Zeit stellt die pädagogische Fachkraft schwierigere Fragen und ermutigt das Kind zu immer anspruchsvolleren Äußerungen. Es entwickelt sich ein Gespräch, in dem die Beteiligten die Geschichte in eigenen Worten erzählen, weiterführen und Erlebnisse austauschen. So wird das Kind auf eine höhere Stufe der sprachlichen Entwicklung geführt. Zu beachten ist, dass die Techniken auf konstruktive Art eingesetzt werden. Auf keinen Fall darf sich das Kind ausgehorcht oder getestet fühlen.

Ein Beispiel

Der folgende Dialog hat sich im Rahmen einer Weiterbildung zum Dialogischen Lesen ergeben. Er zeigt exemplarisch, wie Kinder mit geeigneten Fragen und Impulsen zum Sprechen angeregt werden können.

Teilnehmende Kinder

Buch
Heike fragt zuerst die Kinder, ob sie das Buch schon kennen; Kim kennt es. Anschließend schlägt sie die erste Seite auf, liest sie vor und lässt die Kinder die Seite und die Bilder betrachten. Dann fragt sie:

PF: „Was seht ihr denn da?"
(längere Pause)

Die pädagogische Fachkraft passt ihr Lese- und Sprachtempo den Kindern an – Zuhören, Verstehen und das Formulieren brauchen Zeit – gerade bei mehrsprachigen Kindern.

K: „Ein Frosch und ein Igel!"
PF: „Ja genau, einen Frosch und einen Igel."
J: „Der Igel sitzt im Auto"
PF: „Genau. (Zu Kim) Weshalb sitzt der Igel im Auto?"

Erinnerungsfragen fordern die Kinder auf, sich an bestimmte Aspekte aus dem Buch zu erinnern und in eigenen Worten wiederzugeben. Das freie Erzählen der Kinder wird gefördert, aber auch kognitive Leistungen wie das Gedächtnis.

K: „Die wollen eine Reise machen."
PF: „Ja genau, der Igel und der Frosch wollen eine große Reise machen."

Eine Erweiterung greift die Äußerung des Kindes auf und versieht diese mit zusätzlichen Informationen. Dem Kind wird damit die Möglichkeit geboten, seine Äußerung in einer elaborierteren Form zu hören. Neuer Wortschatz und neue grammatikalische Strukturen können so erworben werden.

Die Kinder blättern die nächste Seite um und betrachten die Bilder.

J: „Der Frosch ist eingesteigt."
PF: „Ja, der Frosch ist zum Igel ins Auto eingestiegen.

Beim korrektiven Feedback wird die fehlerhafte Äußerung des Kindes von der pädagogischen Fachkraft korrekt wiedergegeben, ohne dass das Kind direkt auf seinen Fehler hingewiesen wird. Direkte Verbesserungen sind den Kindern unangenehm und hemmen die Sprechfreude. Beim korrektiven Feedback hört das Kind die korrekte Form und fühlt sich verstanden.

PF: Aber bevor sie abfahren können, muss sich der Frosch ..."
J und K (gleichzeitig): „Angurten!"
PF: „Genau. Der Frosch muss zuerst den Sicherheitsgurt anlegen. Sonst kann man nicht abfahren.“

Bei der Komplettierung lässt die Fachperson bewusst Lücken, damit die Kinder diese mit dem passenden Wort oder Satz vervollständigen können.

PF: „Wieso muss man sich denn überhaupt angurten?"
K: „Weil sonst kommt die Polizei."
J: „Wenn der Papa fest bremsen muss, dann tut man sich sonst ganz fest weh."

Distanzierende Fragen führen die Kinder aus der Geschichte heraus und knüpfen an eigene Erlebnisse an oder beziehen sich auf persönliche Gedankengänge, Gefühle oder Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die zum Zeitpunkt des Sprechens nicht sicht- oder greifbar sind. Wenn Kinder Eindrücke, Erlebnisse etc. schildern, verwenden sie Sprache losgelöst von der unmittelbaren Situation. Dies ist anspruchsvoll, denn die Kinder müssen Erlebnisse im Geist aufrufen, ordnen und sprachlich verfügbar machen. Mit distanzierenden Fragen regt die pädagogische Fachkraft also sowohl die Sprach- als auch die Denkentwicklung der Kinder an.

PF: „Super, Jakub, genau. Wenn man abbremsen muss oder einen Unfall hat und nicht angegurtet ist, kann man
sich verletzen."
PF: „Seid ihr auch schon einmal verreist?"

Offene Fragen regen die Kinder zu längeren Äußerungen an und zu weiterem Nachdenken. Sie fördern die Erzählkompetenzen der Kinder und den Aufbau von grammatischen Strukturen. Offene Fragen können den Dialog in Gang bringen, unterstützen die Kinder, sich auf die Details der Geschichte zu konzentrieren und die Geschichte mit eigenen Worten zu erzählen.

K: „Ich war in Kanada. Mit dem Flugzeug."
PF: „Nach Kanada bist du geflogen? Aha! Weil deine Großeltern in Kanada wohnen, nicht wahr?“
K: „Aber ich wohne in Amerika."
PF: „Ja, du hast in Amerika gewohnt, bevor ihr in die Schweiz gezogen seid. Und du, Esin, wohin bist du schon hingefahren?"

Esin ist eher zurückhaltend und braucht eine direkte Ansprache, bevor sie sich traut, etwas zu sagen. Kim und Jakub haben eine ausgeprägte Erzählfreude. In kleineren Gruppen kann die pädagogische Fachkraft auf die unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen und das individuelle Erzählbedürfnis der einzelnen Kinder eingehen. Dies ist gerade für mehrsprachige Kinder und/oder schüchterne Kinder besonders wichtig.


Die Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz führte in Kooperation mit dem Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien ein Pilotprojekt durch mit dem Ziel, das Dialogische Lesen in Spielgruppen und Kindertageseinrichtungen in der Schweiz zu verankern. Dazu wurde eine Weiterbildung entwickelt, die pädagogischen Fachpersonen das Rüstzeug für die selbständige Umsetzung des Dialogischen Lesens in ihren Institutionen vermittelt. Zudem wurden praxisnahe Materialien entwickelt: eine Kiste mit Büchern, die sich für das Dialogische Lesen mit Kindern zwischen 2 und 4 Jahren besonders gut eignen, sowie ein Leitfaden. Dieser erklärt die wichtigsten Prinzipien des Dialogischen Lesens in knapper Form und gibt konkrete Hinweise zur Durchführung.



Literatur


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus klein&groß 11-2017, S. 24 - 27

AdmirorFrames 2.0, author/s Vasiljevski & Kekeljevic.

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