Wie Kinder die Kita sehen und erleben

In der von ihr geleiteten Studie „Kita-Qualität aus Kindersicht“, die Iris Nentwig-Gesemann gemeinsam mit Bastian Walther und Minste Thedinga im Auftrag der Kinder- und Jugendstiftung durchgeführt hat, ist es gelungen, die Kinder durchgehend in den Forschungsprozess einzubeziehen. Im Folgenden beantwortet Iris Nentwig-Gesemann im Interview mit Hilde von Balluseck Fragen zur Anlage und den Ergebnissen der Studie.

  • Inwieweit unterscheidet sich die Studie „Kita-Qualität aus Kindersicht“ von anderen Studien, in denen über Kinder geforscht wurde?
nentwig gesemann 200Es ist zwar viel von Forschung aus der Perspektive der Kinder die Rede, aber zumeist wird tatsächlich über Kinder geforscht – die Erwachsenen beanspruchen dann ganz unhinterfragt, dass sie bereits wissen, was genau man Kinder fragen muss und welche Antworten man ihnen vorgeben muss, um etwas über ihre Perspektive zu erfahren. Wir sind bewusst einen anderen Weg gegangen: Kinder haben ganz grundsätzlich ein Recht darauf, in allen sie betreffenden Angelegenheiten „Gehör zu finden“ – das ist Bestandteil der UN-Kinderrechtskonvention. Wenn sie gehört werden sollen, dann muss man sie aber erst einmal (be-) fragen und dafür die jeweils passende und für sie verständliche Form finden. Es gibt keinen überzeugenden Grund dafür, dass die Perspektive der Kinder darauf, was sie in ihrer Kita gut finden und sich wünschen, um sich wohlzufühlen, weniger wichtig sein sollte als zum Beispiel die Kriterien einer standardisierten Kindergarten-Einschätzskala. Kita-Qualität kann man natürlich nicht nur aus der Perspektive von Kindern definieren, aber auch nicht ohne ihre Perspektive. Kinder müssen zukünftig als Akteure von Qualitätsentwicklungsprozessen einbezogen werden – hierzu wollten wir mit unserer Studie einen Beitrag leisten.

  • Wie kamen Sie auf die unterschiedlichen Methoden, die Sie eingesetzt haben?
Bei manchen Methoden, der Gruppendiskussion zum Beispiel oder auch der teilnehmenden Beobachtung, handelt es sich ja um bewährte Methoden der Kindheitsforschung. Ansonsten hatten wir natürlich methodische Vorüberlegungen, haben uns dann aber in der Ausgestaltung der Erhebungen sehr stark von den Kindern leiten lassen – bei den Kita-Führungen zum Beispiel. Hier war schnell klar, dass allein die Tatsache, dass wir die Kinder als Expert*innen für ihre Kita angesprochen haben, die uns alles zeigen können, eine hochgradig motivierende und mobilisierende Wirkung hatte.

  • Wie haben die Kinder, die Eltern und die Kita-Fachkräfte reagiert?
Den Kindern konnten wir unser Anliegen schnell erklären: „Wir interessieren uns dafür, was aus Sicht von euch Kindern eine gute Kita ist: Was erlebt ihr hier, was ist euch wichtig, was gefällt euch, was hättet ihr gerne anders? Wir möchten das, was Kinder dazu denken und zu sagen haben, an die Kita-Bestimmer weitergeben. Hierfür brauchen wir eure Hilfe!“ Die Kinder verstanden das sofort: „Ihr seid sowas wie Weltallforscher oder Höhlenforscher.“ Da wir immer zwei Tage lang im engen Kontakt mit den Kindern verbracht haben und sie selbst entscheiden konnten, ob und wann sie an einer Erhebung teilnahmen und mit wem sie diese durchführen wollten, gewannen wir ihr Interesse und ihr Vertrauen sehr schnell. Sie fühlten sich als Expertinnen und Experten wertgeschätzt: Sie haben sich viel Zeit für uns genommen und sehr konzentriert mitgearbeitet.

Die Eltern haben durchgehend positiv reagiert: Sie fanden es großartig, dass auch mal die Kinder selbst gefragt werden und natürlich waren sie ebenso neugierig auf unsere Erkenntnisse wie die Fachkräfte. Für die Fachkräfte stellte es natürlich eine Irritation und Herausforderung dar, dass nicht sie, sondern wirklich nur die Kinder von uns befragt wurden. Dafür braucht man Mut und Vertrauen und wir sind sehr dankbar, dass die Teams uns das geschenkt haben. Den Zugang erleichtert hat uns sicherlich, dass wir allen Teams angeboten haben, nach der Auswertung noch einmal in die Kitas zurückzukehren und unsere Ergebnisse sowohl ihnen, als auch den Eltern und den Kindern vorzustellen.

  • Wie muss man denn Kinder fragen, damit an zu verwertbaren Antworten kommt?
Das erfordert tatsächlich eine hohe forschungsmethodische Kompetenz und auch eine zuhörende, die Kinder anerkennende Haltung. Wenn man Kindern nicht als Experten ihrer Lebenswelt anerkennt und wirkliches Interesse daran hat, ihre Perspektive zu verstehen, dann wird man wenig von ihnen erfahren. Wichtig ist meines Erachtens, dass man sehr offen fragt und ihnen nicht dauernd Themen oder gar Antworten in den Mund legt. Durch erzählgenerierendes Fragen lassen sie sich gerne dazu anregen, von ihren Erfahrungen und Erlebnissen zu erzählen. Man kann also Themen aufwerfen, sollte es dann aber den Kindern überlassen, über das zu reden, was sie daran beschäftigt und bewegt. Zudem ist es ganz wichtig, das engagierte und lebhafte Austauschen von Sichtweisen und Argumenten unter den Kindern anzuregen, zu achten und zu fördern. Kollektive Assoziationsketten in der Kindergruppe – auch wenn diese zunächst für den/die Erwachsene unverständlich bleiben – sollte man keinesfalls unterbrechen. Wichtig ist auch, sich von den Kindern in Gespräche verwickeln zu lassen, ohne dabei aber suggestive, bewertende oder die Themen lenkende Fragen bzw. Impulse einzubringen.

  • Ihre Studie ist ganz auf das Erleben in der Kita bezogen - der familiäre und sonstige Hintergrund der Kinder, der ja Wahrnehmungen, Entwicklungen und Bildungschancen stark beeinflusst, spielt bei ihnen keine Rolle. Kann man das Erleben der Kinder in der Kita so unabhängig von ihrem sozialen Kontext sehen?

Uns standen nur sehr wenig Zeit und noch begrenztere Forschungsmittel zur Verfügung – eine milieu-vergleichende Studie war daher schlicht nicht realisierbar. Der Forschungsauftrag war aber auch anders gelagert: Wir sollten herausfinden, was Kinder – die dann tatsächlich aus sehr unterschiedlichen Milieus, Familien und Kitas kamen – ganz allgemein über ‚gute‘ Qualität denken, was sie sich wünschen, was ihnen gefällt oder nicht. Uns interessierten also die Gemeinsamkeiten, Erfahrungen und Perspektiven von Kindern, die wir als homologe Muster immer wieder vorfanden. Daraus sind unsere Qualitätsdimensionen aus Kindersicht entstanden – deren Berücksichtigung erfordert nicht, dass Fachkräfte vorab ein Kind als Kind mit Migrationsgeschichte, aus einem bildungsfernen Milieu, mit Behinderung etc. pp. klassifizieren bzw. stereotypisieren. Wir finden, dass das in besonderer Weise dem Recht aller Kinder auf die Berücksichtigung ihrer Bedarfe und Bedürfnisse gerecht wird.

  • Was wollten Sie genau von den Kindern wissen?
Indem wir sie beobachtet, sie befragt und mit ihnen gesprochen haben, indem sie uns durch ihre Kita geführt und von ihren Erfahrungen und Erlebnissen dort, haben wir einen Zugang dazu erhalten, was Orte, Menschen und Situationen sind, die ihnen Freude machen, die der Grund dafür sind, dass sie sich wohl, sicher und als kompetente Akteure wertgeschätzt fühlen. Man kann nicht einfach abfragen, was ihnen gefällt oder nicht – auch da erfährt man einiges, aber damit hätten wir nicht das herausfinden können, was nun Ergebnis der Studie ist. Kinder verfügen ja über ein Erfahrungswissen, über eine nicht-reflexive Perspektive auf die Dinge: Sie können uns vieles eher zeigen, mit dem Körper, mit ihrem Gefühlsausdruck, durch die Art und Weise, wie sie (re-) agieren; und sie können wunderbare Geschichten von Erlebnissen erzählen, an die sie sich erinnern – an schöne und nicht so schöne.

  • Was hatten Sie gedacht, was sie herausfinden?
Die von mir vertretene Art der Forschung verzichtet ganz grundsätzlich darauf, schon mit Vorerwartungen oder gar Hypothesen in die Forschung zu starten. Wir wollten etwas Neues entdecken, rekonstruieren, was wir im beforschten Feld vorfinden, Antworten auf Fragen finden, von denen wir vorab gar nicht wussten, dass wir sie stellen sollten. Ich war mir aufgrund meiner Forschungserfahrungen mit Kindern lediglich sicher, dass sie uns eine ganze Menge zu der Thematik zu sagen haben, wenn wir nur die richtigen methodischen Zugänge finden, die ihnen ermöglichen sich uns verständlich zu machen. Das ist uns, so meine ich, sehr gut gelungen.

  • Hat sich die Erwartung bestätigt – oder haben sich ganz andere Punkte ergeben?
Eigentlich erübrigt sich die Frage damit. Doch etwas erstaunlich fanden wir, dass die Fachkräfte selbst so wenig von den Kindern thematisiert wurden – während die anderen Kinder, das Spielen mit ihnen, von allergrößter Relevanz ist. Ich würde das als Kompliment an die Fachkräfte betrachten: Für die 4-6-Jährigen ist es wichtig, dass diese ihnen eine anregende und sichere Umgebung bereit stellen, sie mitreden und mitbestimmen lassen, sie ernstnehmen und anerkennen – ist das der Fall, dann können sie sich ganz auf das konzentrieren, worum es in diesem Alter geht und gehen muss: Um die Entwicklung von Individualität und Autonomie, das Spielen mit den Freund/innen und das Finden der eigenen Rolle, um das Erkunden der Welt und die Beschäftigung mit existentiellen Lebensfragen.

Auch nicht überraschend, aber in dieser Intensität dann doch sehr berührend fand ich, wie sehr sich die Kinder, ihr Recht auf den heutigen Tag wünschen. Sie wünschen sich, nicht immerzu gehetzt zu werden, sich in das, was sie gerade tun, wirklich anhaltend vertiefen zu können. Sie wünschen sich Diskretion der Erwachsenen – Kinder brauchen nicht jederzeit kontrollierte und pädagogisierte Orte, an denen sie ungestört ihre Spielwelten entfalten und das soziale Miteinander über können. Das Argument der Aufsichtspflicht ist meines Erachtens zwar ernst zu nehmen, aber auch schnell zu entkräften: Natürlich müssen die Erwachsenen dafür sorgen, dass die Kinder an ihren ‚geheimen Orten‘ keinen Gefahren ausgesetzt sind. Wenn die Fachkräfte sich fragen, was passieren könnte, wenn die Kinder sich im Garten ein wenig ins Gebüsch zurückziehen, dann wird ihnen wohl kaum etwas einfallen, das zu einem Verbot, diesen Ort aufzusuchen, führen würde.

  • Ein Ergebnis Ihrer Studie ist, dass Kinder nicht pädagogisierte Räume brauchen, um sich voll entfalten zu können. Kommen die Bedürfnisse der Kinder damit nicht in Widerspruch zum Anspruch der Fachkräfte, pädagogisch wirksam zu sein?
Kinder nehmen interessante Bildungsangebote sehr gerne an, sie freuen sich, wenn es den Fachkräften gelingt, ihr Interesse zu wecken, spannende Fragen aufzuwerfen und gemeinsam nach Antworten zu suchen – aber das muss ja nicht den ganzen Tag lang so sein! Kinder lernen nicht für das Morgen oder weil sie gut auf die Schule vorbereitet sein wollen - sie lernen ganz einfach, weil sie ein inneres Bedürfnis danach haben, sich und die Welt zu erkunden, Kinder wollen sich ‚bilden‘ in dem Sinne, dass sie immer wieder nach neuen Wegen und Formen suchen, sich selbst und die Welt neu oder anders zu erfahren und mitzugestalten und sich dabei selbst zu verändern. Ich wünschte mir, dass die Erwachsenen mehr Respekt vor den Selbstbildungspotenzialen der Kinder hätten, dass sie aufmerksamer beobachten, den Kinder mehr Fragen stellen und ihnen dann auch wirklich zuhören würden. Die Erwachsenen würden eine Menge Erstaunliches erfahren!


Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann, geb. 1964, Diplompädagogin, Professorin für Bildung im Kindesalter und Leiterin des Studiengangs Erziehung und Bildung im Kindesalter an der Alice Salomon Hochschule Berlin.Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Forschung in der Frühpädagogik und Kindheitsforschung; ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem  Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.  sprozesse und Kompetenzentwicklung; Methoden qualitativer Bildungs- und Evaluationsforschung, insbesondere Dokumentarische Methode; Sprachbildung und Gesprächskultur in der Kindheit.
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Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung von




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