Kinderläden und antiautoritäre Erziehung

Modelle einer Gegengesellschaft und veränderten Erziehungskultur



„Nicht länger soll das Kind gekrümmt werden“



Kinderschule in Frankfurt/Main
„Ein paar Drei- und Vierjährige [versammeln sich; M. B.] zum Kinderrat um einen Tisch und beraten, was mittags gekocht werden soll. Die Betreuerin, Mutter eines der Kinder, rät den Besuchern: ‚Sie können gern zusehen, aber sie müssen damit rechnen, daß die Kinder Sie rausschmeißen‘“... Später „ziehen sich ein Junge, 4, und ein Mädchen, so alt wie er, nackt aus und spielen nach, was ihnen gerade erst erzählt worden ist: Geburt. Sie krümmt sich in den Wehen, er ist Vater und Geburtshelfer zugleich. Die anderen Kinder schauen den beiden zu“ (o. V. 1970a, S. 62).

Kinderhaus Neuenheim in Heidelberg
„Jule und Maurice spielen mittags Ausziehspiele. Das Einzige, was ich richtig mitbekommen habe, ging folgendermaßen: Julia zieht sich die Unterhose aus, setzt sich auf den Tisch und spreizt die Beine ganz weit. Maurice schnüffelt ihr am Arsch und an der Scheide. Ich tippe auf ‚Arztspiel‘, in Wirklichkeit probieren sie aus, ‚wie das riecht‘, ‚wie Pisse und Kacke riechen‘. Simone sitzt ganz baff daneben und guckt zu. Später geht es draußen auf der Vordertreppe weiter, Patrick macht auch mit. Dann wollen die beiden Jungen lieber in der Abgeschlossenheit des Matrazenzimmers weiterspielen“ (Billau/Jansen/Jutzi 1980, S. 88).

Kinderladen im West-Berliner Stadtteil Neukölln
„Die Kinder... stülpen sich... gegenseitig ihre Nachttöpfe wie Helme über den Kopf. Ein Junge schmiert einem Mädchen Bananenbrei in die Haare. Ein anderer fährt immer wieder mit einem Dreirad gegen die Wand... Jim Kruse berührt das alles nicht... Erst als seine zweieinhalbjährige Tochter Anna in anstupst, blickt er auf und fragt sie: ‚Mußt du scheißen?‘ Anna nickt. Er zieht ihr die Hosen aus und setzt sie auf den Topf“ (o. V. 1970, S. 154).


Voranstehende Beispiele schildern einen normalen Alltag in drei verschiedenen KinderlädenKinderläden||||| Die Kinderladenbewegung entstand in den 1986 in Frankfurt mit ersten selbstverwalteten Kindergärten, oftmals Elterninitiativen, in denen Kinder verschiedenster Alter  betreuut wurden. Es wurde die Maxime eines antiautoritären Erziehungsstil vertreten, um neue Erfahrungen für Kinder zu ermöglichen, sowie die Ansicht, dass Regeln von "Autoritäten" nicht blind verinnerlicht werden dürften. Dies führte und führt noch heute zu Diskussionen und fälschlichen Verwechslungen mit dem Laissez-Faire Erziehungsstil.   (1). Es war die Ära der 1968er-Generation, der APO (Außerparlamentarischen Opposition), Studentenrevolten, sexuellen Revolution, der Gründung von studentisch-feministischen Weiberräten und Emanzipation der Frauen, der Hausbesetzungen und Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg sowie der Springer-Presse u.a. m., um plakativ einige politisch / gesellschaftliche Ereignisse dieser Jahre zu nennen, die den Zeitgeist eindrucksvoll in Erinnerung rufen, als auch Veränderung und Dynamik dieser Zeit widerspiegeln. Damals gewannen auch neue pädagogische Ideen an Einfluss und ehe man sich versah, war die „Kinderladenbewegung“ bzw. „antiautoritäre Erziehung“ (2) in aller Munde. Diese pädagogische Bewegung lockte die einen und schockte die anderen (vgl. o. V. 1970a, S. 62), letzteres bis in die heutige Zeit hinein. Auch heute noch verbindet man mit Kinderläden verschmierte Wände, verschmierte Hände, Chaos und Disziplinlosigkeit.

Heute existieren in größeren Städten und Ballungsräumen Deutschlands eine erstaunlich hohe Anzahl von Kinderläden, die „nach dem Zerfall der politischen Bewegung in Reformprojekte mündeten“ (Sander/Wille 2008, S. 660). Elterninitiativen formierten sich, und organisierten Kitas als „alternatives Projekt“ innerhalb der öffentlichen Kleinkindererziehung. Diese werden von öffentlicher Seite „in der Regel als Elterninitiativ-Kindertagesstätten bezeichnet, intern heißen sie jedoch bis heute häufig Kinderladen“, wobei jedoch die für die Gründungszeit „beschriebene gesellschaftspolitische Situation nicht mehr aktuell“ (Iseler 2010, S. 32) ist. Manche Einrichtungen können auf die Hochgründungszeit der Kinderläden zurückblicken, beispielsweise: „Kinderhaus Limburger Straße e. V“. in Osnabrück, kinderladen1 Kinderladen in West-Berliner Stadtteil Neukölln; Quelle: Ida-Seele-Archiv„Kinderladen Felix“ in Berlin-Wilmersdorf, „Kinderladen Kleine Kaiser“ in Bonn, „Kinderwerkstatt e. V.“ in Bochum, „Das Kind e. V.“ in Düsseldorf, „Kinderladen Stärkestrasse e.V.“ in Hannover, „Kinderladen Perlach e. V. in München, „Kinderhaus Floßmannstraße“ in München-Pasing, „Kinderladen Austraße 42. Verein für Kindergartenpädagogik e. V.“ in Nürnberg oder „Kinderladen. Aktion Vorschulerziehung e. V.“ in Stuttgart, gegründet 1968 von Grit und Georg Kiefer, der wohl älteste Kinderladen auf deutschen Boden.



Vom Gleichschritt zum aufrechten Gang

Der Journalist und Autor von „Die Revolution missbraucht ihre Kinder. Sexuelle Gewalt in deutschen Protestbewegungen“ (2015), Christian Füller, tadelte noch im Jahre 2013 in, „der Freitag“, einer Wochenzeitung mit linker bis linksliberaler Ausrichtung, dass die Kinderläden, wenn auch eine Minderheit, „fundamentalistische ‚Jeder-darf-alles‘-Läden [waren]“, in denen die „Kinder nackt herumliefen, sich gegenseitig genital erforschten und die Wände wahlweise mit Exkrementen und/oder Spagetti beschmierten“ (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/grosser-kinderladen-brd). Diesem Ressentiment steht die Intention der Kinderladenbewegung bzw. antiautoritäre Erziehung gegenüber, die sich nicht nur auf „Jeder-darf-alles-Läden“, nackte und herumschmierende Kinder reduzieren lässt:

„Nicht mehr zum Gleichschritt soll erzogen werden, sondern zum ‚aufrechten Gang‘, wie der Philosoph Ernst Bloch es nannte. Nicht länger soll das Kind gekrümmt werden, damit ein Häkchen daraus wird. Den aufrechten Gang soll es schon lernen, wenn es die ersten Schritte tut“ (o. V. 1970a., S. 77).

Die Kinderladen-Bewegung war eine Reaktion auf:
1) den drastischen Mangel an Kindergartenplätzen, verbunden mit einer geringen ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem  Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.   der Fachkräfte,
2) die Vereinsamung in der bürgerlichen Kleinfamilie (zunehmend Einzelkinder), „in der das Kind durch seine materielle und emotionale Abhängigkeit zum Besitzobjekt seiner Eltern degradiert wird“ (Reißmann 1980, S. 34),
3) den in den herkömmlichen Vorschuleinrichtungen vorherrschenden affirmativen Erziehungsstil, der auf Gehorsam, Ordnungssinn, Reinlichkeit, Anpassung, Unterdrückung der kindlichen Sexualität u.dgl.m. abzielte,
4) die Auseinandersetzung mit tradierten Rollenzuschreibungen, der sich verändernden Rolle der Frauen, die nicht mehr nur für die Erziehung der Kinder verantwortlich sein wollten und schließlich
5) die Überzeugung, dass jede Erziehung politische Folgen hat, auch wenn sie sich noch so privat und persönlich versteht.

Am 1. Dezember 1969 wurde im ARD-Fernsehen ein Film mit dem provokativen Titel „Erziehung zum Ungehorsam“ ausgestrahlt, für den der liberale Autor und leitender Redakteur beim NDR-Fernsehen, Gerhard Bott, das Drehbuch verfasste. Die mediale Dokumentation kontrastierte die herkömmlichen Kindergärten mit den antiautoritären Kinderläden in Berlin, Frankfurt/Main, Hamburg und Stuttgart: Die traditionellen Vorschuleinrichtungen boten ein trauriges Bild: lustfeindliche, autoritäre Kindergärtnerinnen, kaum Freiräume für Kinder, „Gehorsam, Ruhe sind hier oberstes Gebot“ (Bott 1970, S. 85). Die Kinderläden, mit ihren ungestümen, enthemmten und freien Kindern, sorgten für einen wahren „Shitstorm“, die „deutsche Volksseele kochte“ (Reißmann 1980, S. 33). In den Tagen nach der Sendung sind 646 Zuschriften eigegangen und unmittelbar nach der Sendung und am Tage darauf 200 Anrufe, von denen fast die Hälfte (um die 45 %) ablehnend war (vgl. Bott 1970, S. 109). Die durch den Fernsehfilm ausgelösten und heftig (teilweise diffamierend) geführten Diskussionen über die Ziele und Methoden der antiautoritären Kinderladenbewegung kreisten um die üblichen Vorurteile, um nackte, ungehorsame, sexualisierte Kinder, die sich gegenseitig erigierte Penisse zeigen und diese anmalen, um kleine Revoluzzer, „die die Weltrevolution auf ihren Schultern tragen“ (Baader/Sager 2010, S. 265), um chaotische Anarchie in den Kindergruppen und verletzte moralische Vorstellungen: die Kinder widersprechen ihren Eltern und Erziehern, grüßen Erwachsene kaum noch, zumindest nicht mehr so wie früher, werfen ihr Besteck in den Suppentopf, machen sich schmutzig, toben, schreien, spucken sich an, beschmieren Wände mit Deckfarbe etc.(3) Die Kinderläden wurden pauschal „zu Kulturschändern stilisiert“ (Reichardt 2014, S. 756), in denen „Mao das Rotkäppchen“ (zit. n. Sager/Wille 2008, Sp. 671) verdrängt hatte. Nein, für solche anarchischen Einrichtungen war schlichtweg „kein Platz... im Lande Fröbels“ (o. V. 1970, S. 147), in dem bekanntlich Friedrich Fröbel 1840 in dem kleinen thüringischen Städtchen (seit 1911 Bad) Blankenburg den Kindergarten „stiftete“. Diesen weit verbreiteten pauschalen Desavouierungen hielt die Politikerin Hildegard Hamm-Brücher entgegen, dass nicht allein Kennzeichen der antiautoritären Erziehung sei, „seine Notdurft vor aller Augen und überall zu verrichten, seine Aggressionen an beliebigen toten oder lebendigen Gegenständen abzureagieren und herrschaftsfreies Zusammenleben durch Preisgabe aller Spielregeln zu demonstrieren“ (zit. n. o. V. 1970a, S. 66).

Die negative gesellschaftliche Einstellung den APO-Kinderläden bzw. der antiautoritären Erziehung gegenüber wurde von der Presse aufgegriffen und ausgeschlachtet (vgl. o. V. 1970, S. 145 ff. u. Friedrich 2008, S. 70 ff.). Das „stern magazin“ vom 2. März 1969 brachte es an den Tag: Heiko Gebhardt beschreibt in seinem Artikel „Kleine Linke mit großen Rechten“ die West-Berliner APO-Kinderläden als Stätten von Chaos und Libertinage, Schmutz und Anarchismus. In einer in einem schäbigen Mietshaus untergebrachten Einrichtung trägt die Kindergärtnerin „einen Vollbart, hat eine Pelzmütze auf dem Kopf und ist Mitglied der SEW, wie sich Westberlins SED neuerdings nennt“ (Gebhardt 1969, S. 42). Die männliche Vollbart-Kindergärtnerin weist auf die pädagogischen Fortschritte hin, die die üblichen Regelkindergärten vermissen lassen:

„‚Wir stören unsere Kinder nicht beim Onanieren, und wir lassen sie auch beim Geschlechtsspiel in Ruhe. Viele Kinder haben schon auf den Topf gemacht. Jetzt scheißen sie wieder in die Hose. Sie holen ihre anale Phase nach. Das ist gut. Weißt du, daß die meisten KZ-Wächter in ihrer Kindheit anale Schwierigkeiten hatten‘“ (zit. n. ebd., S. 44).

Übrigens: Sofort nach Erscheinen des stern-Heftes packten wutschäumend 30 Kinderladen-Eltern ihre unartigen Sprösslinge, stürmten das damalige neue West-Berliner Verlagshaus von „Gruner und Jahr“ „und zerstörten die sterile Atmosphäre der Stern-Redaktion... Nachdem die Kinder ihre erste Beklemmung über die keimfreie Einrichtung der Stern-Weißmacher überwunden hatten, fingen sie an, die Wände zu bemalen, Papierkörbe auszukippen, Schreibmaschinen zu bearbeiten, einen Feuerlöscher in Gang zu setzen, sich mit Musik, Geschrei und Bewegung eine Umgebung zu schaffen, die ihren vielfältigen Bedürfnissen entsprach“ (o. V. 1970, S. 158).

Als die „antiautoritäre Welle“ schon im Abklingen war, sorgte erneut die ARD mit ihrer Sendung „Kinder und ihre Sexualität“, ausgestrahlt am 3. Oktober 1974, für Aufsehen. Da die Eltern immer noch, trotz der (vermeintlichen) Liberalisierung der kindlichen Sexualität durch die 68er Bewegung, mit den erotischen Bedürfnissen ihrer Kinder Schwierigkeiten hatten, versuchten die Autoren des Fernsehfilms, Gerburg Dahl-Rhode und Frans van der Meulen, in "Lockerungsübungen" Hilfestellung zu geben: Diskussionen mit dem Berliner Psychologen Helmut Kentler (4), aufklärerische Kurzszenen und Erlebnisberichte von Eltern sollten „positive Beispiele“ einer ganz natürlichen Sexualerziehung liefern. Der Film hatte für Verunsicherung gesorgt. Ein Kindergarten berichtet:

„Am Morgen, nachdem der Film in Fernsehen gezeigt worden war, kamen Eltern zu uns und haben uns über unsere Meinung gefragt. Manche waren ziemlich schockiert und meinten, sie würden so etwas nie zulassen. Eine Mutter meinte sogar zu uns: ‚Aber nicht wahr, Sie lassen so etwas doch nicht zu, daß sich die Kinder einfach ausziehen dürfen und sich benehmen dürfen wie die Erwachsenen!‘ Wir haben ziemlich unterschiedliche Meinungen von den einzelnen Müttern an diesem Morgen gehört“ (Deutsches Jugendinstitut 1980, S. 62).

Während des ersten bundesdeutschen Vorschulkongress 1970 in Hannover kam es zu heftigen „Grabenkämpfen“ zwischen VertreterInnen der antiautoritären Erziehung und den „Alt-Pädagogen“. Ein Extrem der Auseinandersetzungen war der Vorwurf revolutionärer StudentInnen, dass die gegenwärtige öffentliche Kleinkindererziehung „nichts anderes im Sinn hätte, als die Kinder zu willfährigen Opfern eines ausbeuterischen Kapitalismus zu formen... Sich als links begreifende Erziehungswissenschaftler proklamierten, daß die kapitalistische Gesellschaft sich selbst notwendigerweise zugrunde richten müßte, bräuchte sie doch zu ihrem Fortbestehen eben solche Menschen, die mit Grundqualifikationen wie Kooperationsfähigkeit, Flexibilität, Neugier, Bereitschaft zu lebenslangem Lernen, Mobilität, Kritik- und Konfliktfähigkeit ausgerüstet seien, um langfristig auf dem internationalen Arbeitsmarkt konkurrenzfähig zu bleiben. Und Menschen, die diese Grundqualifikationen besäßen, würden sich zwangsweise gegen eine Klassengesellschaft und gegen das Diktat des Kapitals zu Wehr setzen" (Preissing 1995, S. 65). Die Kindergärtnerinnen wurden beschuldigt, dass "sie die immensen Lernpotentiale kleiner Kinder jahrzehntelang sträflich vernachlässigt hätten", andererseits "wurden sie angeklagt, ihr Hauptaugenmerk auf den Drill sogenannter Sekundärtugenden preußischen Charakters (Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Fleiß) gelegt zu haben" (ebd.). Die hochgeschätzte Kindergartentheoretikerin und Fröbelexpertin Erika Hoffmann, die in einer über vier Jahrzehnte intensiven Tätigkeit die Gestaltung der öffentlichen Kleinkindererziehung prägend mitbestimmte, wurde auf dem Vorschulkongress wegen ihres antiquierten Kindergarten-Weltbildes aufs schärfste kritisiert. Die promovierte Erziehungswissenschaftlerin vertrat die Ansicht, dass die familienergänzende Institution Kindergarten die „Blütezeit der Menschwerdung“ (zit. n. Berger 2016, S. 142) versinnbildlicht. Demzufolge muss der Kindergarten ein „Schonraum“, ein Ort der „Nachreife“ (zit. n. ebd.) sein, der an der behütenden und beschützenden Familienerziehung anknüpft und der den das Vorschulkind überfordernden gesellschaftlichen wie kulturellen Bedingungen „geradezu retardierend entgegenwirkt“ (Hoffmann 1968, S. 30). Die VertreterInnen der antiautoritären Erziehung konterten:

"Daß auch Kinder schon etwas leisten können und wollen, daß es darum geht, ihre Neugierde in Wißbegierde umzuwandeln, wird in den Kindergärten häufig noch immer brüsk abgelehnt. Alt-Pädagogin Erika Hoffmann, Vorstandsmitglied des PestalozziPestalozzi||||| Johann Heinrich Pestalozzi`s (1746 - 1827) pädagogisches Ziel war es eine ganzheitliche Volksbildung zu erreichen, und die Menschen in ihrem selbstständigen und kooperativen Wirken in einem demokratischen Gemeinwesen zu stärken. Er legte Wert auf eine harmonische und ganzheitliche Förderung von Kindern in Bezug auf intellektulle, sittlich-religiöse und handwerkliche Fähigkeiten. Grundidee ist dabei, ähnlich wie in der Montessori-Pädagogik, dass die Menschen die Fähigkeit entwickeln, sich selbst zu helfen.   -Fröbel-Verbandes: 'Wir sind überzeugt, einen pädagogischen Widerstand gegen die Frühreife setzen zu müssen. Diesen Widerstand soll und kann der Kindergarten leisten.' Und weil die Förderung kindlicher Intelligenz mit Frühreife verwechselt wird, gilt in den meisten Kindergärten nach wie vor, daß die 'Lust an der eigenen Leistung... in diesem fröhlichen Miteinander und Füreinander noch einmal für eine Weile zurücktreten' muß, wie Erika Hoffmann resolut befindet“ (o. V. 1970a, S. 82).

Ferner wurde auf dem Kongress der traditionellen Kindergartenpädagogik vorgeworfen, „ein günstiger Ansatz für die Blut- und-Boden-Ideologie, die sich nach 1933 auch in den Kindergärten ausbreitete“ (ebd.) zu sein.


Keine eigene wissenschaftsmethodisch überzeugende Theorie

Auf der Suche nach einem alternativen Erziehungskonzept setzten die AktivistInnen der antiautoritären Erziehung nicht auf eine eigenständige Theorie. Sie orientierten sich an (älteren) psychoanalytischen und sozialistischen Schriften der 1920er Jahre (vgl. Göddertz 2016, S. 24 ff.), die meist als schlechtgeheftete Raubdrucke (z. B. „spartakus“) erschienen, die aber durchaus einen erheblichen (Nutz-)Effekt hatten:

„Erstens sind sie wesentlich billiger als die im Buchhandel ‚offiziell‘ verkauften Bände und zweitens machen sie häufig genug Texte der Öffentlichkeit zugänglich bzw. wieder zugänglich, die vorher mehr oder weniger verschollen waren. Jedenfalls hängt diesen Bänden von Anfang an der Hauch des Verbotenen und Verlorenen an, erscheinen sie eng mit der Ikonik des Untergrunds verbunden: Illegal sind sie, und sie transportieren Unerwünschtes“ (Bilstein 2008, S. 214).

Die 1968er-Bewegung war geprägt von dem Bestreben der kulturellen Überwindung einer übermächtig autoritätsfixierten Zeit, die nach Ansicht der Philosophen und Soziologen der sog. „Frankfurter Schule“ (Theodor W. Adorno, Erich Fromm, Jürgen Habermas, Max Horkheimer, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse) den antisemitischen Wahn, der in Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Majdanek, Mauthausen, Sobibor, Treblinka und weiteren Orten wütete, zu verantworten hatte, weil die Autoritätsverhältnisse in der bürgerlichen Familie autoritäre Charaktere erzogen und damit eine wesentliche Voraussetzung für den nationalsozialistischen Unstaat geschaffen hatten. Damit solch eine politische und gesellschaftliche Entgleisung nie wieder passiert, ist eine Erziehung der heranwachsenden Generation zu Freiheit, Selbstbestimmung und Stärkung seines ICHS erforderlich, um Widersprüche der Gesellschaft zu erkennen und um sich „nicht in blinder Anpassung ihren Anforderungen zu unterwerfen“ (Aden-Grossmann 2014, S. 75). Besonders faszinierte die AktivistInnen der antiautoritären Erziehung / Kinderladenbewegung der 1924 erschienene Aufsatz über die „repressionsfreie Erziehung“ in einem Moskauer „Kinderheim-Laboratorium“ (5), verfasst von der in der Ukraine geborenen Psychoanalytikerin V(W)era Fjodorowna Schmidt. Die linke Kinderladenbewegung verstand diese Veröffentlichung „als ersten Schritt zu einem vorläufigen praktischen Ziel: der Wiederholung und Weiterführung ähnlicher Versuche in Westberlin und in der Bundesrepublik“ (o. V. 1970, S. 50). In dem Moskauer Kinderheim wurde nach den neuesten psychoanalytischen Erkenntnissen erzogen, die Verknüpfung von Sexualität, Klassenkampf und Erziehung in der Praxis umgesetzt. Die unikale Erziehungsstätte ist herausragendes Beispiel für die kurzfristige Illusion einer vom Glück begünstigten Liaison zwischen Freudianismus und Bolschewismus. Die Vorschläge zur frühkindlichen Erziehung, abgeleitet von der psychoanalytischen Sexualtheorie, „wurden der Einfluss des Unbewussten, die Herrschaft des Lustprinzips und das polymorph-perverse Sexualleben von Kindern zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr betont. In der Sexualentwicklung, die vom Autoerotismus zur Objektwahl verlaufe, sei es die Aufgabe der antiautoritären Erziehung, durch eine Sublimierung des infantilen Lustprinzips das Realitätsprinzip der Kinder zu fördern. Aus Liebe zur Bezugsperson und ohne jedwede Strafe sollte das Kind seine Triebe selbst beschränken“ (Reichardt 2014, S. 727).


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Vera Schmidts Broschüre und Prospekt über Raubdrucke, archiviert im Ida-Seele-Archiv
Die Aufgabe der Pädagogik bestand für Schmidt darin, den Kindern den notwendigen Weg vom Lust-zum Realitätsprinzip unprätentiös zu ermöglichen. Die Kinder durften ihre sexuelle Neugierde befriedigen, an heißen Tagen liefen sie nackt herum, sie durften ihre Körper gegenseitig untersuchen und betrachten, Bestrafung und Verbote waren verpönt. „Stürmische Liebesäußerungen“ sowie „heiße Küsse, innige Umarmungen“ seitens der Bezugspersonen waren strengstens untersagt, da solche Äußerungen „das Kind erregen und seine Selbstwertgefühl erniedrigen“ (Schmidt 1924, S. 22). Die kindliche Lust sollte nicht einfach unterdrückt, sondern auf ein höheres, realitätsgerechteres Niveau gehoben, in der Sprache der Psychoanalyse ausgedrückt, sublimiert werden. Was damit gemeint ist, erläuterte die Laboratorium-Leiterin an folgendem Beispiel:

„In Beziehung zur Hauterotik steht das Bestreben eines unserer Mädchen, sich am ganzen Körper mit dem eigenen Kot zu beschmieren. Sie pflegte das frühmorgens zu machen, wenn alle noch schliefen. Tagsüber behielt sie dann eine deutlich gehobene Stimmung und einen freudigen Glanz in den Augen. Wir tadelten sie nicht dafür, wuschen sie einfach und wechselten ihre Wäsche; nur bemühten wir uns, sie im richtigen Augenblick auf den Topf zu setzen, um ihr Tun sozusagen auf natürlichem Wege zu verhindern. Im Alter von zweieinhalb Jahren bekam sie Farben zur Verfügung. Anfangs verschmierte sie sie einfach mit dem Finger über das Papier, später lernte sie, den Pinsel dazu zu gebrauchen. Es stellte sich heraus, daß sie ein feines Farbengefühl besaß und die Farben mit viel Vergnügen und Verständnis wählte und kombinierte. Ihre Malerei war immer gegenstandslos, bestand nur aus gut zusammengestellten Farbenflecken, die aber einen geradezu künstlerischen Eindruck machten. Diese Beschäftigung wurde mit der Zeit so anziehend für sie, daß sie ihr früheres Vergnügen ohne Schwierigkeiten aufgab; es war durch das neue, dem Wesen nach analoge, aber kulturell und sozial höherstehende ersetzt worden.“ (ebd., S. 24)

Auch die Schriften von Wilhelm Reich, der noch als Student 1920 in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen wurde, standen hoch im Kurs, wurden regelrecht „zu einem Vademekum“ (Reichardt 2014, S. 652) der antiautoritären Erziehungsbewegung. In seinem epochalen Werk „Die sexuelle Revolution“ konstatiert der österreichisch-US-amerikanische Sexualforscher und Psychoanalytiker, dass dem Kind in der Familie das Korrektiv einer Kindergemeinschaft fehlen würde, und darum sich seine sexuellen Triebe nicht auf Gleichaltrige richten können. Darum muss es seine Strebungen verdrängen. Somit verstärken sich beim Kind unbewusste Schuld- und Angstgefühle sowie „die Fixierung an die Eltern, die zur Anlehnungsbedürftigkeit, Führersehnsucht, Autoritätshörigkeit der erwachsenen Individuen, zur konservativen Struktur der Psyche führen“ (zit. n. Dermitzel 1971, S. 127). Die Kinderladenkinderkollektive wirken in diesem Zusammenhang neutralisierend, indem sie „dem Kind die Möglichkeit geben, aus der Verfilzung und Ausschließlichkeit der affektiven Beziehungen in der Familie auszubrechen und libidinöse Bindungen zu anderen Kindern im Kollektiv einzugehen“ (ebd.).

Ebenso ging eine überaus exorbitante Faszination von den Ideen des Reformpädagogen Alexander Sutherland Neill und der von ihm gegründeten und geleiteten Demokratischen Schule Summerhill aus. Sein Standardwerk „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung war „mit Abstand [das; M. B.] erfolgreichste Werk jener Zeit“ (Höffer-Mehlmer 2003, S. 238). Neill lehnte jeden erzieherischen Druck und Zwang ab, da diese Methoden die Schöpferkraft und Kreativität der Kinder zerstören. Der Pädagoge wollte nicht als Gallionsfigur der antiautoritären Erziehung gelten. Dazu äußerte er in einem Interview: „Laßt mich bloß in Ruhe mit den deutschen 68ern“ (Ehlers 2007, S. 65). Während die linksalternative Kinderladenbewegung die liberalen Elemente von Neills antiautoritärer Erziehung begrüßten, gab es auch Kritik, vor allem hinsichtlich des Klientels, demzufolge Summerhill nichts anderes sei als „eine elitäre Insel für Kinder des zahlungskräftigen Establishments“ (Weidele/Gieselbusch1971, S. 7). Die Kinderladengründerin Monika Seifert und der Kinderladengründer Georg Kiefer standen ebenfalls dem Neill‘schen Konzept skeptisch gegenüber. Obwohl für Erstgenannte, neben den Schriften von Wilhelm Reich, Paul und Jean Ritter u. a., die Veröffentlichung von Neill, den sie als den „Vorkämpfer für die Freiheit der Kinder“ bezeichnete, eine wichtige Diskussionsgrundlage darstellt, bemängelte sie, dass der Schulleiter „seine Praxis nicht als Teil einer politischen Bewegung verstanden [hat M. B.]. Zugleich ist er der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Problemen ausgewichen: er hat sich auf das Land zurückgezogen“ (Seifert 1970, S. 60). In der Publikation „Zucht oder antiautoritäre Erziehung“ befindet sich eine ausführliche Kritik der Neillschen Erziehungspraxis, die, wie Verfasser vorliegenden Aufsatzes annimmt, von Georg Kiefer verfasst wurde. Dort ist zu lesen:

„Die Neillsche Erziehung hat den positiven Ansatz, daß sie die Liebe als Grundprinzip des Lebens sieht, eine bewußte Selbstkontrolle des Individuums schafft und die Kinder Freiheit als Verantwortlichkeit erleben läßt. Die Verwirklichung dieses positiven Ansatzes wird jedoch durch das gesellschaftliche Desinteresse Neill’s wieder neutralisiert. Ich halte es deshalb nicht für sinnvoll, das Neillsche Erziehungskonzept unkritisch zu übernehmen. Wesentliche Änderungen sind notwendig, um der Idee der kindlichen Selbstentfaltung auf gesellschaftlicher Ebene zum Durchbruch zu verhelfen“ (o. V. 1970b, S. 91)

Allgemein waren sich die führenden VertreterInnen der antiautoritären Erziehung in Bezug auf Summerhill nicht einig:

„Auf der einen Seite herrschte Begeisterung über die Repressionsfreiheit, über Selbstverwaltung... Andererseits sahen einige schon die Gefahr eben jener verherrlichenden Neutralität - sozialistisches Bewußtsein verlangt Parteilichkeit - und der ‚heilen Welt‘, die auf der ‚Insel‘ Summerhill geschaffen und vorgegaukelt wird“ (Breiteneicher/Mauff/Triebe 1971, S. 43).

Ungeachtet aller Versuche und Rückgriffe auf verschiedene politische und psychoanalytische Schriften, existiert bis heute keine wissenschaftsmethodisch überzeugende antiautoritäre Theorie, kein einheitliches pädagogisches Konzept (vgl. Silvester 2000, S. 18 ff.). Es ergab sich keine durable Entwicklung, „eine Kontinuität die gerade beim Aufbau pädagogischer Altenativen wichtig ist“ (Hebenstreit 1980, S. 68). Letztlich handelt es sich um „ein Gemisch von politischer Argumentation, Erziehungstheorien und praktischer Erfahrung, was bekanntlich in der dialektischen Praxis nicht trennbar ist“ (Kiefer 1970, S. 15). Bereits 1977 formulierte der DDR-Wissenschaftler Gerhard Sielski treffend:

„Schon der Versuch der Ausarbeitung einer geschlossenen Konzeption wäre offensichtlich ein autoritäres Rudiment... Es gibt mehr oder weniger anerkannte Autoren, mehr oder weniger anerkannte Positionen dieser Autoren, die in einer Reihe gestellt zeigen, daß es Vertreter verschiedener philosophischer Richtungen, verschiedener Weltanschauungen und politischer Überzeugungen sowie theoretisch-pädagogischer und psychologischer Strömungen sind. So ist das ‚antiautoritäre‘ Erziehungsverständnis ein überaus komplizierter, eklektischer und widerspruchsvolle Komplex von Ideen und Prinzipien“ (Sielski 1977, S. 53 f).


Anfänge und Entwicklung in Westdeutschland

demo volksuni 69Plakate mit Forderungen des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen und der Kindergärtnerinnengruppen (Aus: "Mitten im Malestream", Film von Helke Sander, Foto: Susanne Beyeler)Die ersten Gründungen antiautoritärer Vorschuleinrichtungen entstanden in etwa zur gleichen Zeit und unabhängig voneinander als Selbsthilfeorganisationen, in Frankfurt, West-Berlin und Stuttgart, den Frontstädten der antiautoritären Bewegung (vgl. Göddertz 2016, S. 32 ff.). Es wurden vor allem „Tante-Emma-Läden“, die durch das Aufkommen von Supermärkten schließen mussten und daher frei waren, zu günstigen Bedingungen angemietet. Darum die Titulierung Kinderläden, von denen im Jahre 1971 allein in West-Berlin an die 100 existierten. Sie verstanden sich als Alternative zu den klassischen Kindergärten in kommunaler oder konfessioneller Trägerschaft, die „eher Friedhöfen“ (o. V. 1970, S. 51) glichen, als Modelle einer „Gegengesellschaft“, in der nicht nach den Prinzipien von „Konkurrenzkampf“ und „Leistung“ erzogen wurde (vgl. Baader 2008, S. 21). Aus einem Bericht der Deutschen Presseagentur (dpa) vom 10. Juni 1969 geht hervor, dass die meisten Vorschuleinrichtungen in der BRD, „noch immer nichts anderes als Verwahranstalten [sind; M. B.]. Viele der in ihren Mauern versorgten rund 1,1 Millionen Kinder atmen täglich noch den Muff pädagogischer Provinz. Gruppen bis zu 40 Kindern sind in vielen Kindergärten... der Bundesrepublik keine Seltenheit. Bei manchen staatlichen, kirchlichen und privaten Trägern gilt: Je mehr Kinder und je billiger die Kräfte, desto größer die Rentabilität des Kindergartens“ (zit. n. Bott 1970, S. 9). Selbst die damalige SPD-Bundesfamilienministerin Käte Strobel musste einräumen:

„Unsere Kindergartenarbeit ist veraltet und wird den Maßstäben nicht gerecht, die an ein modernes Bildungswesen zu stellen sind“ (zit. n. o. V. 1970a, S. 77).

Diesen unerfreulichen Zuständen innerhalb der traditionellen Vorschulerziehung wollten die Kinderläden mit ihrem „alternativen Konzept“ entgegenwirken.

Der Beginn der repressionsfreien / antiautoritären Erziehung begann im September 1967, in Frankfurt/Main. Monika Seifert (6), Tochter des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich und Adorno-Schülerin, war mit vier Gleichgesinnten auf der Suche nach einer geeigneten Vorschuleinrichtung für ihre Tochter, ähnlich der „Kirkdale School“, die sie während ihres einjährigen Studienaufenthalts in London kennen gelernt hatte. Rückblickend resümierte Seifert in einem Interview:

"Kindergärten fand ich unmöglich, sie kamen für mich nicht infrage, auch nicht Waldorf oder Montessori. Es sollte ein Kindergarten sein, der auf die Bedürfnisse der Kinder eingeht und nicht einer, der erzieht" (zit. n. Finkbeiner 1988, S. 42).

Zunächst wurden in einem Raum eines Nachbarschaftsheims fünf Kinder im Alter von noch nicht drei und fünf Jahren „unter Anwesenheit einer ‚neutralen Bezugsperson‘ (Malerin) und jeweils einem Elternteil“ (Seifert 1971, S. 160) betreut. Die Kinder kamen zweimal wöchentlich und blieben vorerst nur zwei, später drei Stunden in der „Mal- und Spielgruppe“. Am 1. April 1968 übersiedelte die Vorschulbetreuung, mit kurzer Zwischenstation in einen Raum im “Walter-Welker-Heim“, in eine Erdgeschoßwohnung in einem vierstöckigen Altbau, Eschersheimer Landstraße 107. Dazu gehörte ein kleiner Garten hinter dem Haus. Ihre pädagogische Konzeption der „repressionsfreien / antiautoritären Erziehung“ fasste die die "Mutter der antiautoritären Kinderläden" (Negt 1995, S. 298) unter folgenden drei Punkten zusammen:

"* Daß Kind muß sein Bedürfnis frei äußern und selbst regulieren können.
* Die Kinder müssen ohne Schuldgefühle - also frei von dem, was wir heute Moral nennen - in funktional begründeter Rücksichtnahme aufwachsen können.
* Das Lernen muß primär von den Fragen des Kindes ausgehen und nicht auf einem für das Kind notwendig abstrakt erscheinenden Programm beruhen" (Seifert 1977, S. 13).).

Entschieden wehrte sich Seifert gegen das sich schnell verbreitende Vorurteil, dass in ihrer Einrichtung chaotische Zustände, Zügellosigkeit und Hemmungslosigkeit vorherrschen würde, hervorgerufen durch den waltenden „Laissez-faire-Stil“. Dem hielt Seifert entgegen, dass das in ihrer Einrichtung herrschende Erziehungsprogramm auf dem Prinzip der Freiheit, der Selbstregulierung der kindlichen Bedürfnisse beruht. Für sie ist ein „selbstregulierendes Kind kein sich selbst überlassenes Kind im Sinne des ‚Laissez-faire-Stils‘. Das Kind kann seine Bedürfnisse nur dann regulieren und seine eigene Interessenvertretung lernen, wenn es sich in der Geborgenheit eines stabilen Bezugsrahmens (Elternhaus, Kinderkollektiv) befindet. Die Voraussetzung für Selbstregulierung ist ein liebevolles Klima, wo affektive Zuwendung möglich ist, in dem keine festen rigiden Deutungsmuster von den erwachsenen Bezugspersonen vorgegeben sind, sondern der Erfahrungsspielraum für das Kind in jeder Hinsicht offengehalten wird. Häufig werden von Kritikern des Prinzips der Selbstregulierung Bedenken geäußert, daß diese Freiheit in chaotische Freiheit umschlage, in Zügellosigkeit und Hemmungslosigkeit der Bedürfnisse – kurz: in Tyrannei des Kindes. Ein tyrannisches Kind aber ist kein freies Kind, es ist ein zwanghaftes, unfreies Kind. Ein Kind, das ‚hemmungslose‘, unstillbare Bedürfnisse äußert und nicht zufriedenzustellen ist, ist ein unglückliches, gestörtes, krankes Kind, dessen Bedürfnisse nach Liebe und Zuwendung nicht oder mangelhaft gestillt werden oder in vorausgegangenen Phasen vernachlässigt wurden und das nun das Gefühl hat ‚zu kurz‘ zu kommen“ (Seifert 1971, S. 164). Auch für die Mitglieder der berühmt berüchtigten „Kommune 2“ bedeutete antiautoritäre Erziehung, nicht „die Kinder völlig sich selbst [zu] überlassen“, vielmehr gehe es darum „eine Form der Realitätsbewältigung ohne Angst zu vermitteln“(Kommune 2 1969, S. 109). Und die damalige Bonner Staatssekretärin des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft und FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Bücher attestierte den antiautoritären Einrichtungen „eine konsequent freiheitliche und konsequent demokratische Erziehung [die; M. B.] in keinem Augenblick mit Zügellosigkeit zu verwechseln [ist; M. B.]“ (o. V. 1970a, S. 66).

In etwa zur selben Zeit als Seifert ihre Kinderschule ins Leben rief, hatte sich der Frankfurter „Sozialistische Deutsche Studentenbund“ (SDS )um die Errichtung von weiteren Kinderläden bemüht. Im Frühjahr 1969 wurde in der Leerbachstraße, in einem ruinösen Haus, ein Kinderladen seiner Bestimmung übergeben. Es folgten weitere Einrichtungen in der Finkenhofstraße und der Böhmerstraße. Auf der Suche nach einem festen Bleibe für die SDS-Kinderläden wurde man eines Hauses in der Vogelweidstraße, das die Caritas räumte, fündig. Anfang der 1970er Jahre fanden alle Kinderladengruppen mit etwa 120 Kinder darin Platz.

kinderladen3 Die Frauen der ersten Stunde: Monika Seifert und Helke Sander, Quelle: bkp/Absiag Tüllmann/Helke Sander 7)Die ersten Kinderladengründungen in West-Berlin sind eng verknüpft mit der zweiten Welle der Frauenbewegung und dem „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“: Während die „im akademischem Milieu verankerte“ Kinderschule von Monika Seifert sich als „psychoanalytisch fundierte Alternative zur traditionellen Kindergartenerziehung“ (Sander/Wille 2008, Sp. 662) verstand, ging im Unterschied dazu das Berliner Konzept „von der Situation der Frau aus. Zunächst als Selbsthilfe unter Frauen gedacht, um sich gegenseitig zu entlasten“ (ebd.). Erst im zweiten Schritt sollte die „öffentlicher Erziehung“ einer Veränderung unterzogen werden. Anfang Januar 1968 wurde ein Flugblatt zur „Kinderfrage“ verteilt und zugleich zu einer Kundgebung an der Freien Universität eingeladen. Den Flyer hatten die feministische Filmstudentin Helke Sander (8), die Journalistin und spätere RAF-Terroristin Marianne Herzog (9) sowie Dorothea Ridder (10), Mitbegründerin der berühmt berüchtigten Kommune 1 und Unterstützerin der RAF, verfasst. Im gleichen Monat gründete sich der schon genannte „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ (11), bestehend aus sieben Frauen des SDS. Anfänglich war geplant, dass die antiautoritären Einrichtungen „Kinderläden des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“ heißen sollten, „in ‚Psychodiskussionen‘ habe sich dann jedoch der Begriff ‚antiautoritäre Kinderläden‘ durchgesetzt“ (Baader 2008, S. 23). Helke Sander, die Hauptinitiatorin der West-Berliner Kinderladenbewegung, schreibt dazu 40 Jahre später auf ihrer Homepage:

„Auf diesem Treffen im Januar 1968, zu dem ca. hundert Frauen und ein paar Männer kamen, wurden die ersten fünf Kinderläden gegründet. Die Initiatorinnen fragten: Wer wohnt in Kreuzberg, Charlottenburg, Neukölln usw.? Mehrere Hände hoben sich, die ersten fünf Gruppen bildeten sich. Nach ca. drei Wochen war der erste Laden bezugsfertig. Schon beim zweiten Treffen eine Woche später im grössten Raum vom Republikanischen Club kamen mehr Frauen, die sich an diesem Abend den Namen ‚Aktionsrat zur Vorbereitung der Befreiung der Frauen‘ gaben. Die „Vorbereitung” wurde schon nach dem dritten oder vierten Treffen fallen gelassen und es hiess nur noch ‚Aktionsrat zur Befreiung der Frauen‘ oder ‚Aktionsrat‘“ (s.a. hier).

Zirka sechs Monate später nach Gründung des Aktionsrats formierte sich am 10. August 1968 unter überwiegend männlicher Ägide der „Zentralrat der sozialistischen Kinderläden West-Berlin“. Dieser verfolgte verstärkt eine proletarische Erziehung und bemühte sich, die Kinderläden in „Arbeiterviertel zu verlegen. Bekannt wurde vor allem das Rote Kollektiv Proletarische Erziehung (Rotkohl) mit dem Arbeiterkinderclub Rote Panther“ (Reinhardt 2014, S. 730).

Helke Sander hielt als Mitglied des „Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“ auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS, September 1968 in Frankfurt/Main, einen Vortrag (12), in dem sie die vorhandenen Geschlechterverhältnisse sowie Geschlechterarbeitsteilung, als auch das vorherrschende Betreuungssystem von Kleinkindern, welches letztens auf Kosten weiblicher Bildungsbeteiligung und der Emanzipation der Frauen geht, einer scharfsinnigen Kritik unterzog (vgl. Heider 2014, S. 94 ff.):

„wir konzentrierten unsere arbeit auf die frauen mit kindern, weil sie am schlechtesten dran sind. frauen mit kindern können über sich erst wieder nachdenken, wenn die kinder sie nicht dauernd an die versagungen der gesellschaft erinnern. da die politischen frauen ein interesse daran haben, ihre kinder eben nicht mehr nach dem leistungsprinzip zu erziehen, war die konsequenz die, daß wir den anspruch der gesellschaft, daß die frau die kinder zu erziehen hat, zum ersten mal ernst nehmen. und zwar in dem sinne, daß wir uns weigern, unsere kinder weiterhin nach den prinzipien des konkurrenzkampfes und leistungsprinzips zu erziehen, von denen wir wissen, daß auf ihrer erhaltung die voraussetzung zum bestehen des kapitalistischen systems überhaupt beruht. wir wollen versuchen, schon innerhalb der bestehenden gesellschaft modelle einer utopischen gesellschaft zu entwickeln. In dieser gegengesellschaft müssen aber unsere eigenen bedürfnisse endlich einen platz finden. so ist die konzentration auf die erziehung nicht ein alibi für die verdrängte eigene emanzipation, sondern die voraussetzung dafür, die eigenen konflikte produktiv zu lösen. die hauptaufgabe besteht darin, daß unsre kinder nicht auf inseln fernab jeglicher gesellschaftlichen realität gedrängt werden, sondern darin, den kindern durch unterstützung ihrer eigenen emanzipatorischen bemühungen die kraft zum widerstand zu geben, damit sie ihre eigenen konflikte mit der realität zugunsten einer zu verändernden realität lösen können“ (zit. n. o. V. 1970, S. 60).

Eine weitere Initialzündung ging von dem vom SDS und der „Brüsseler Konferenz“ organisierten Internationalen Vietnamkongress aus, welcher am 17. und 18. Februar 1968 im Audi-Max der Berliner TU stattfand, den die autoritäre linke Kinderladenbewegung für sich „als Geburtsstunde der Kinderläden“ (ebd., S. 33) reklamiert (13). Am Rande der Veranstaltung spielten im „Garderobenraum der TU etwa 40 APO-Kinder. Die Frauen des Aktionsrates waren es müde gewesen, Zaungäste zu bleiben. Sie organisierten während des Kongresses und der Demonstration einen Kindergarten, in dem Eltern und freiwillige Helfer abwechselnd die Aufsicht übernahmen, so daß alle, die sonst wegen der Kinder zu Hause bleiben mußten, am Kongreß teilnehmen konnten. Die Kinder, die sonst ängstlich und vereinzelt im Gedränge herumgeschubst worden waren, erlebten so einen Teil der Begeisterung mit, die die Erwachsenen ergriffen hatte. Aus Stöcken und Stoffetzen machten sie sich Fahnen und spielten auf ihre Weise Demonstration. Zum erstenmal machten die Eltern und besonders die Mütter die Erfahrung, daß ihre Familienprobleme nicht privat bleiben mußten. Mit diesem ersten öffentlichen Auftreten des Aktionsrats deutete sich die Möglichkeit einer kollektiven Lösung an“ (ebd., S. 33 f). Aus den Zeilen wird ersichtlich, dass das Problem der Unterbringung der Kinder und ihre Erziehung als politische Angelegenheit in seiner Bedeutung für die Emanzipation der Frau gesehen wurde. Bei den Kinderladen-Müttern (Eltern) war das Bedürfnis groß, aus der Isolation der Kleinfamilie auszubrechen. Ein vom „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ herausgegebenes Flugblatt, das in der Freien Universität an Studentinnen verteilt wurde, begründete seine politisch motivierten Vorstellungen dazu wie folgt:

„Die Repressivität der Gesamtgesellschaft entlädt sich nach wie vor auf die Frau, die ihrerseits die von der übrigen Gesellschaft empfangene Aggressivität an die Kinder weitergibt. Aus Zeitmangel ist die Frau nicht in der Lage, über ihre Situation nachzudenken und daraus Konsequenzen zu ziehen. Selbst in Organisationen, die die Mitarbeit der Frauen wünschen, sind die Frauen nicht nur in der Minderzahl, ihre Teilnahme ist auch weniger produktiv als die der Männer... Es gibt ein akutes Bedürfnis nach einer Organisationsform, die den Müttern zu bestimmten Zeiten ihre Kinder abnimmt, um arbeiten zu können. Dieses Bedürfnis läßt sich vor allem aus zwei Gründen nicht befriedigen:

a) gibt es zu wenig Kindergärten
b) sind die Kindergärten, die es gibt, autoritär geleitet, so daß es für die Kinder schädlich wäre, sie in eine solche Anstalt zu schicken.
Daraus folgt: es müssen schnellstens Kindergärten gegründet werden“ (zit. n. ebd., S. 75 f).

Der erste West-Berliner Kinderladen wurde in einem leerstehenden ehemaligen Gemüseladen im Kiez Neukölln ins Leben gerufen (vgl. Michl/Birgmeier 2016, S. 245). Die Einrichtung war kapitalistischen Figuren „wie Frau Saubermann oder dem Weißen Riesen... verwehrt“ (Gebhardt 1969, S. 44). Diesem Kinderladen folgte bald ein weiterer in Schöneberg, der bewusst im Herbst 1969 ihr Domizil vom bürgerlichen Stadtteil in den Arbeiterbezirk Kreuzberg verlegte, denn eine politische Arbeit konnte erst fruchtbringend wirken, wenn es gelingt, große Zahlen von Arbeiterkindern zu mobilisieren und zu organisieren. Doch solch ein Unterfangen, welches die erforderliche Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess zugleich als Ziel formulierte, war von vornherein mit Schwierigkeiten behaftet, wie folgendes Zitat präzisiert:

„Die revolutionäre Arbeiterklasse galt als Voraussetzung für eine Verbesserung der Lage der Arbeiterkinder. Obwohl keinerlei revolutionäre Entwicklungen der Arbeiterklasse in Sicht waren, sollten die Kinder nicht bis zur Revolution vertröstet werden, denn schon die Teilnahme am Emanzipationskampf der Arbeiter befreie das proletarische Kind von der bürgerlichen Knechtsideologie, die Teilnahme am Klassenkampf öffne ihm die Augen für den wahren Charakter des Kapitalismus. Die Erziehung der Kinder müsse zu einem Prozess werden, der diesen Kampf unterstützt... Somit sollten die Kinder eine Art Vorreiter sein und nach dem Verlassen der sozialistischen Kinderläden in der Schule den ‚Schulkampf‘ mit der Errichtung von ‚roten Schulvorposten‘ aufnehmen“ (Michl/Birgmeier 2016, S. 249 f).

Noch 1968 hatte der Berliner „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ in Zusammenarbeit mit Kindergärtnerinnen beschlossen, einen Warnstreik vorzubereiten, der bessere Bedingungen in den öffentlichen Kindergärten West-Berlins durchzusetzen wollte. Am 10. Juni 1969 sollte die Demonstration von statten gehen, vorab wurden diverse Flugblätter verteilt, u.a. auf der 1. Mai Demonstration. Aber es kam anders, wie Helke Sander berichtet:

„Im Aktionsrat wurden diese Streikvorbereitungen hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt unterstützt, an diesem einen Tag zum erstenmal Frauenmacht öffentlich zu demonstrieren. Die Flugblätter wurden an die Frauen und die wenigen Väter vor den Kindertagesstätten verteilt und die meisten Eltern dieser Kinder erklärten sich bereit, den Streik zu unterstützen. Mit dem Streik sollte die Berliner Wirtschaft für einen Tag lahm gelegt und die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Frauen gerichtet werden. Die Eltern, besonders die Frauen, die in den Fabriken oder als Angestellte überhaupt nur Zugang zu Kindergärten hatten, würden an diesem 10. Juni 69 nicht zur Arbeit erscheinen. Diese Machtdemonstration der Frauen sollte uns ein Bewusstsein der eigenen Kraft und Stärke geben. Dieser Streik sollte ein Gegengewicht bilden zu der verbreiteten Ansicht, dass Frauen nicht alleine Politik machen und eigene Ziele formulieren können. Allerdings waren wir alle damals politisch unerfahren und aus Unwissenheit leicht zu manipulieren. Die Reaktionen der Eltern waren ungeheuer positiv und das Streikvorhaben sprach sich herum. Die Gewerkschaften ÖTV und Komba (Fachgewerkschaft für Beschäftigte der Kommunen; M. B.) schalteten sich ein, zunächst mit dem Versprechen, die Kindergärtnerinnen und ihren Streik zu unterstützen. Die Hilfe bestand in der Übernahme der schon geschaffenen Infrastruktur. Tatsächlich zerstörten diese Organisationen die ganze Aktion. Sie brachten die Kindergärtnerinnen dazu, sich zu spalten in solche, die Mitglieder der Gewerkschaften waren und solche, die es nicht waren. Sie verlegten den Streiktermin, der seit Monaten fest stand und schliesslich wurde nicht gemeinsam, wie ursprünglich geplant, sondern verteilt auf verschiedene Bezirke und ohne nennenswertes Presseecho hier und da gestreikt. Es war ein herber Rückschlag, sowohl für die Kindergärtnerinnen wie für den Aktionsrat. Dazu kam die Enttäuschung über die ‚eigenen‘ Leute. Die Frauen im Aktionsrat waren in der grossen Mehrheit links bzw. Teil der Studentenbewegung. Die Flugblätter für den Streik wurden verschiedenen Wortführern im SDS vorgelegt und sie wurden um Unterstützung gebeten. Sie wurden dort nicht einmal diskutiert, weil die männliche Linke vollkommen auf den männlichen Arbeiter fixiert war und keineswegs begriff, was sich bei den Frauen abspielte und anbahnte“ (http://www.helke-sander.de/2008/01/die-entstehung-der-kinderlaeden/)14).

Wenige Tage vor dem geplanten Kindergärtnerinnenstreik hatte die West-Berliner „Kommune 99“, die von ihrer Namensgeberin, Schriftstellerin und Aktivistin der Kinderladenbewegung Ute Erb (15) mitgegründet wurde, auf eigene Initiative zu einer Kinder-Demonstration aufgerufen. „93 APO-Zöglinge“ zogen mit ihren Eltern am 1. Juni 1969 durch die Straßen von Steglitz und forderten auf Transparenten: „‚Kinder aller Länder, vereinigt euch‘ und ‚Starfighter nein, Kindergärten ja‘“ (o. V. 1969, S. 85).
Flugblätter verkündeten:
* „‚Es gibt weder genug Kinderspielplätze noch genug schöne Kindergärten‘,
* ‚es gibt nicht genug gutbezahlte Kindergärtnerinnen‘,
* ‚Kinderspielzeug wird so hergestellt, daß es sofort kaputtgeht‘.
Und die Mamis klagten im Chor: ‚Mütter von zwei Kindern brauchen stärkere Nerven als Testpiloten‘“ (ebd.).

Entgegen aller Unkenrufe und Anfeindungen hatten die ersten (sozialistischen) Kinderläden, „eine starke gesellschaftliche Ausstrahlung... [Sie; M. B.] schossen nicht nur in Universitätsstädten wie Pilze aus dem Boden“ (Notz 2009, S. 198). Als im April 1969 in West-Berlin der SDS-Kongress tagte, „konnten bereits 30 deutsche Städte solche Einrichtungen vorweisen. Anfang 1970 listete die Zeitschrift vorgänge in ihrem Schwerpunktheft zum Thema ‚Antiautoritäre Erziehung / Kinderläden‘ insgesamt 38 Kinderläden in 15 Städten auf, wobei Berlin mit 13 Kinderläden, Hamburg mit fünf sowie München und Münster mit jeweils vier Kinderläden die regionalen Schwerpunkte bildeten“ (Reichhardt 2014, S. 732). In West-Berlin wuchs in den Jahren von 1970 bis 1974 die Zahl von 58 auf über 300 Kinderläden an (vgl. hier).

Auf Initiative von Grit und Georg Kiefer wurde am 9. Januar 1968 in Stuttgart der Verein „Aktion Vorschulerziehung e. V.“ ins Leben gerufen. Am Anfang waren die zu betreuenden Kinder in einem Dachstuhl in einem Fabrikgebäude untergebracht. Aber schon im Frühjahr 1969 mussten aus baupolizeilichen Gründen die Räume verlassen werden. In Wirklichkeit hatten die Nachbarn, denen das Treiben der Kinder und ihrer BetreuerInnen seltsam erschien, eine Anzeige erstattet. Schließlich wurde ein alter „Konsumladen“ frei: „Wir hatten unseren Kinderladen‘!“ (Kiefer 1970, S. 17). Das pädagogische Angebot beschränkte sich anfänglich auf Leselernspiele und didaktische Spiele für Drei- bis Fünfjährige. Den theoretischen Hintergrund bildeten die Veröffentlichungen des Münchener Psychologen Heinz-Rolf Lückert u.a. zur vorschulischen Frühlesebewegung. Dabei war das Hauptziel, „für Arbeiterkinder vor dem Eintritt in die Schule die Chancengleichheit zu erhöhen“ (ebd., S. 16). Ferner sollten das Sozialverhalten und die Solidaritätsfähigkeit der Kinder gefördert werden, da dies „notwendige Voraussetzungen für den zu leistenden Klassenkampf sind. Klassenkampf ist ein politisch-ökonomischer Begriff, dessen Zusammenhänge von Kindern noch nicht durchschaut werden können. Sie können aber durchaus Teilaspekte der in der kapitalistischen (imperialistischen) Gesellschaft bestehenden Abhängigkeiten (Autoritäten, Hierarchien, Konkurrenzverhalten, Unterdrückung) erleben, nachvollziehen, begreifen, und man kann ihnen deren ökonomische Bedingtheit in adäquater Form und Sprache vermitteln. (Beispiel: Wir gehen mit den Kindern auf verbotene Rasenflächen, weil wir und die Kinder es für richtig halten. Dabei erfahren sie und wir die Konfrontation mit Autoritäten)“ (Bott 1970, S. 20).

Die Kinderläden, egal ob in den bisher genannten Städten oder in Hamburg, München, Nürnberg, Göttingen usw., waren ein Im Vergleich mit öffentlichen Kindergärten relativ teures Unternehmen. Die angemieteten (Laden-)Räume mussten erst einmal renoviert werden, was einen erheblichen finanziellen (und auch zeitlichen) Aufwand bedeutete. Obwohl von den Eltern und den KinderladenbetreuerInnen viel in Eigenleistung erledigt wurde, stieß die Sache schnell an gewisse Grenzen:

„Daß man möglichst kostensparend vorging, versteht sich von selbst. Problematisch erwies sich die Arbeit dennoch für Studenten, die das Handwerk nur vom Zuschauen aus dem bürgerlichen Elternhaus kannten und nun selbst Hand anlegen wollten. Es wurden einige Genossen engagiert, die etwas mehr handwerkliche Erfahrung hatten“ (Breiteneicher/Mauff/Triebe 1971, S. 40).

So musste auch die Kinderschule von Monika Seifert ihren Betrieb einstellen, da das nötige Geld für dessen Sanierung fehlte, „und die Kräfte der Selbsthilfe nicht ausreichten, um die Sanierung selbst durchzuführen“ (Aden-Grossmann 2014, S. 138).

Im Laufe der Jahre wichen Entrüstung ebenso wie Enthusiasmus einer sich allerorts breitmachenden Ernüchterung. Die KinderladenaktivistInnen begannen um das Übliche zu kämpfen: Personalschlüssel/-kosten, ausreichend (Spiel-)Platz, hohe Mietkosten, bezahlte Vorbereitungszeit für pädagogische Diskussionen und Elternmitbestimmung. Hinzu kam die zunehmende politische Instrumentalisierung, so dass der Kinderladen immer mehr als „politisches Projekt“ (Kätzel 2001, S. 168) firmierte und „die ursprüngliche Idee, Frauen Zeit zu verschaffen, sich sogar in ihr Gegenteil“ (ebd.) verkehrte. Dabei war vor allem das Interesse der Männer „weit weniger auf die ‚praktische‘ Kinderarbeit als auf die politisch-strategische Bedeutung der Kinderladenbewegung gerichtet“ (Jansa 1997, S. 147). Aber auch ihr diskursiver Erfolg hatte über die Jahre hinweg, wie Paul Walter bereits 1986 in einem Abgesang auf die Kinderladenbewegung bemerkte, „eine Haltung begünstigt, sich auf den Lorbeeren der Vergangenheit auszuruhen. Die resignative Normalität des eigenen Tuns wird mit dem grandiosen Bewußtsein kaschiert, sich auf den richtigen, progressiven Pfad zu bewegen, ohne dafür noch etwas Besonderes leisten zu müssen. Auf diese Weise verkümmert die theoretische und argumentative Potenz, die einst die Kinderladenbewegung zum ernstgenommenen Widerpart der etablierten Pädagogik gemacht hat“ (Walter 1986, S. 25). Aber auch durch die verstärkte Radikalisierung der „Erziehung zum Klassenkampf“ ging der „zweitweise beachtlichen Einfluß“ der Kinderladenbewegung „auf die Vorschuldiskussion weitgehend verloren“ (Heiland/Klaßen 1974, S. 112). Kinderladenvater Jens Reißmann ist der Ansicht, dass Versuche der einzelnen Kinderläden eine beständige Zusammenarbeit zu organisieren, „zumeist sehr bald infolge Unverbindlichkeit, personeller Fluktuation und Desinteresse... scheiterten“ (Reißmann 1980, S., 36).

In der damaligen BRD (einschl. West-Berlin) entwickelt sich immer mehr eine Vielzahl neuer Erziehungskonzepte, „subsumiert unter dem Begriff ‚antiautoritäre Erziehung‘ – ein einheitliches Konzept, wie es schließlich mit dem Label DIE antiautoritäre Erziehung in der Gesellschaft (bis heute) popularisiert wurde, gab es nicht“ (Schmid 2011, S. 136 f). Es entstand eine Vielzahl von Mischformen und Ausprägungen an Erziehungspraktiken/-vorstellungen und Einrichtungen. Beispielsweise nannten sich einige Institutionen weiterhin Kindergarten und wählten für ihren Erziehungsstil das Wort „repressionsfrei“ (vgl. Ullner 1973, S, 11), „zwangsfrei“ (vgl. Baader 2008, S. 22) oder „unautoritär“ (vgl. Bott 1970, S. 21). Durch eine andere Wortwahl sollten eventuelle Unklarheiten über den Terminus antiautoritär, als auch jede Art der Politisierung ausgeklammert werden (vgl. Ullner 1973, S. 11). Für die pädagogische Profession wurde „von dem Begriff ‚antiautoritär‘ soviel übernommen, als wir verhindern möchten, daß sich die autoritären Verhaltensweisen zwischen die Beziehung vom Kind zum Erwachsenen stellen und sich in der kindlichen Charakterstruktur verändern“ (ebd.).
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Einige repressionsfreie Einrichtungen blieben bei der traditionellen Titulierung Kindergarten; Quelle: Ida-Seele-Archiv



Anfänge und Entwicklung in Ostdeutschland

Die aktuellen Publikationen zur Historiographie des Kindergartens haben bisher so gut wie nicht registriert, dass auch in der damaligen DDR Versuche unternommen wurden, vom Staat unabhängige frühkindliche Einrichtungen ins Leben zu rufen. Anfang der 1970er Jahre initiierten mehrere junge Leute in Halle verschiedene politisch motivierte Projekte (vgl. Grashoff 2011, S. 115 ff.). Dazu gehörte auch die im Jahre 1973 erfolgte Gründung „eines Kinderladens, um ‚die Kinder vor der staatlich verordneten Behandlung in Krippen zu schützen‘... Die gemeinsam organisierte Betreuung der Kinder fand in einer leer stehenden Erdgeschosswohnung in der Fleischerstraße 13 statt, währte jedoch nur einige Monate“ (ebd., S. 119).

1980 hatte die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe (16), über die und ihren Mann das „Ministerium für Staatssicherheit“ (MfS) spätesten ab 1976 „einen umfangreichen Operativen Vorgang (‚Zirkel‘)... anlegte (Wentker 2012, S. 348), im Ost-Berliner Kiez Prenzlauer Berg, Husemannstraße 14, einen Kinderladen ins Leben gerufen. Die Kinderladenaktivistin berichtet über ihre Motivation einen Kinderladen – „nach westlichem Vorbild!“ - (ebd., S. 346) zu gründen, dass sie ihr erstes Kind nicht in eine staatliche Einrichtung geben wollte, da die „Betreuung dort einer Fließbandarbeit geglichen... habe, die Kinder seien kaum beschäftigt, sondern eher abgefertigt worden“ (zit. n. http://www.berliner-zeitung.de/der-einzige-kinderladen-in-der-ddr-16030154). Ab Oktober 1980 nahm der Kinderladen, der in Eigenarbeit renoviert und eingerichtet wurde, seine Arbeit auf; „anfangs waren dort sechs, später acht Kinder untergebracht , darunter auch Jonas und Johanna Poppe (geboren 1980 und 1981)“ (Wentker 2012, S. 347).Für die Betreuung der Kleinen wurde eine Kinderkrankenschwester angestellt. Außerdem war immer ein Elternteil in der Einrichtung anwesend. Eine ehemalige Kinderladenerzieherin erinnerte sich:

"Wir wehrten uns gegen die vom Ministerium für Volksbildung, geleitet von Margot Honecker, diktatorisch und zentralistisch verordneten Bildungs- und Erziehungsziele. Wir definierten uns als eine freie und unabhängige Einrichtung, jenseits aller sonst üblichen sozialistischen Bevormundung und totalitärer Erziehung. So sollten unsere Kinder ihre Individualität und ihr Selbstbewusstsein sowie ihre Kreativität und Gemeinschaftsfähigkeit frei entfalten können... Wir wollten die Kinder auch nicht ‚antiautoritär‘ sondern demokratisch erziehen, auf keinen Fall wollten wir einen Beitrag zur Erziehung einer 'ganzheitlich gefestigten sozialistischen Persönlichkeit' leisten... Mit Interesse verfolgten wir die 'anti-autoritäre Bewegung' in Westdeutschland... Dabei interessierten uns vor allem die in unserer unmittelbaren, aber doch so weit entfernten Nachbarschaft existierenden Kinderläden, nämlich die in West-Berlin. Über Besucher und Verwandte hörten wir davon... Aber es war uns strengstens untersagt über den ‚Tellerrand‘ hinaus zu blicken. So waren wir letztlich allein auf uns gestellt, immer mit der Befürchtung im Hintergrund, die Stasi steht schon in den Startlöchern um uns ‚auszumerzen‘, zumal unsere Einrichtung von den ‚Realsozialisten‘ als pure Provokation gesehen wurde“ (zit. n. Visconti 2012, S. 35).

Die "revolutionäre" Einrichtung, in welcher „individuelle Förderung“, „Kritikfähigkeit“ und „Kreativität“ die pädagogischen Leitbilder waren (vgl. hier), erregte sehr schnell das Interesse der "lieben Nachbarn". Diese gaben öfter Meldungen an die Stasi über die Erziehungs- und Betreuungseinrichtung, die „als Treffpunkt 'alternativ' denkender junger Leute und als 'Hort' einer sich gegen den Staat richtenden Erziehung verdächtigt" (Friedrich 2008, S. 83) wurde. Eines Tages kamen zwei Beamte, „die den Kinderladen durchsuchen wollten, weil ihnen zu Ohren gekommen war, dass sich dort Rauschgift befände“ (vgl. hier). Die Ermittler fanden nichts, was dafür gesprochen hätte, den Kinderladen zu schließen. Letztendlich forderten die politisch Verantwortlichen im Oktober 1982 die KinderladenbetreiberInnen auf, ihre aberrante Einrichtung zu schließen, da man die Ladenräume für eine kinderreiche Familie benötige. Poppe verfasste ein Gesuch an die zuständige Administration. Daraufhin wurde sie und weitere Kinderladeneltern vor den Bezirksbürgermeister geladen. Dort war auch der Volksbildungschef anwesend. Dieser meinte, wie Poppe sich erinnert, dass seit „Makarenko die Zeit der Experimente vorbei [wäre M. B.]. Die Argumentation des Stadtrats war die, dass die DDR weltbekannt für ihre hervorragende Kinderbetreuung sei und wir ein Gegenmodell schafften, das das widerlegen wolle“ (zit. n. http://www.deutschlandradio.de/archiv/dlr/sendungen/merkmal/246462/index.html). Die Feststellung des Volksbildungschefs verwundert nicht, galt doch die „kleinbürgerlich-revolutionaristische ‚ antiautoritäre‘ Erziehungsauffassung“ (Sielski 1977, S. 155) als eine „theoretisch-ideologische Reflexion einer kleinen ‚Elite‘, die meint, daß ihre Ideen für ‚alle Menschen‘ Geltung hätten, der Emanzipation ‚aller‘ dienen würden“ (ebd., S. 159). Außerdem gehört zum politischen Wesen antiautoritärer Erziehungsauffassungen, dass durch sie ihre AnhängerInnen „vom organisierten Kampf der Arbeiterklasse unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei ferngehalten werden und sie objektiv zur Spaltung der antiimperialistischen Bewegung beitragen und objektiv Bundesgenossen des Imperialismus sind“ (ebd.).

Poppe und ihre MitstreiterInnen versuchten sich die Solidarität der Nachbarschaft zu sichern. Die "staatsfeindliche Einrichtung" lud zu einem „Tag der offenen Tür“ ein. Dessen ungeachtet fuhr am 16. Dezember 1983, vier Tage nach Frau Poppes Verhaftung, frühmorgens um sechs Uhr ein LKW vor und der Kinderladen wurde auf Befehl des MfS in Windeseile geräumt und zugemauert (vgl. hier). Damit war der erneute Versuch nach Halle eine alternative, staatsunabhängige Vorschulerziehung in der DDR zu etablieren ein für alle Mal gescheitert. Die freigewordenen Räume wurden nicht, wie behördlicherseits angekündigt, von einer kinderreichen Familie bezogen, sie standen bis zur Wende leer (vgl. Hein/Kittel/Möller 2012, S. 343 ff.).

Im gleichen Jahr der gewaltsamen Auflösung von Ulrike Poppes Kinderladen, gründete der kirchliche Jugendsozialarbeiter und aktiv in der kirchennahen DDR-Untergrundszene tätige Uwe Kulisch (17) in einem Hinterhaus im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichhain, Mühsamstraße 63, eine „Kinderkommune“. Diese diente vorrangig dem Ziel, „die autoritären Hierarchien der Elterngenerationen nicht fortzusetzen“ (Grashoff 2011, S. 114). Die Wohngemeinschaft beherbergte fünf Erwachsene und vier Kinder. Während die Väter und Mütter ihre eigenen Zimmer hatten, schliefen die Kinder zusammen in einen Raum, „nahmen die Mahlzeiten gemeinsam ein, mit der Betreuung wechselten sich die Eltern ab. Zwei weitere Kinder von Freunden gesellten sich tagsüber hinzu. Freude und Spaß für Kinder standen im Mittelpunkt, der Tagesablauf richtete sich nach den Kindern, deren Individualität gefördert werden sollte. Die Idee, die hinter diesem Modell stand, bezog sich auf ein 1970 veröffentlichtes Buch des US-amerikanischen Psychologen Thomas Gordon. Durch sogenannte ‚Familienkonferenzen‘ sollten Eltern einen gewaltfreien Umgang mit Kindern erreichen und ihre Kinder erziehen, ohne zu strafen“ (ebd., S. 113). Aus diesem Grund wurden die Kinder auch nicht in staatliche Krippen oder Kindergärten gegeben, da dort als Erziehungsziel nicht der frei und selbständig denkende Mensch, sondern die „sozialistische Persönlichkeit“ vorgegeben war.


"Die Hose muss runter"
- Antiautoritäre Sexualerziehung/-aufklärung

Neben der Regelhaftigkeit des Tagesablaufs, den autoritären und festgefahrenen Strukturen sowie der mangelnden Einbeziehung der Eltern in die Kindergartenarbeit, kritisierten die Kinderladentheoretiker /-praktiker insbesondere die Unterdrückung der kindlichen Sexualität, entsprechend der Freud’schen / Reich‘schen Theorie, dass in der „Sexualunterdrückung des Kindes die Voraussetzung für dessen Domestikation und Manipulierbarkeit“ (Paffrath 1972, S. 37) besteht. Um spätere „Seelen-Verklemmungen“ zu verhindern bedarf es einer frühzeitigen Erziehung zur freien Sexualität. Die „repressionsfreie Sexualerziehung“ war Garant „für eine nicht-autoritäre Persönlichkeitsentwicklung und in der Folge für eine gewalt- und aggressionsfrei Gesellschaft“ (Eder 2015, S. 48). Das Kind ist ein von Anfang an sexuell aktives, triebhaftes Wesen, das peu à peu in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt den komplexen psychischen Apparat des Erwachsenen aufbaut:

„Die ‚sexuelle Lust‘ avancierte zum entscheidenden Moment des Sexualitätsdispositivs und wurde nicht länger nur den Erwachsenen, sondern auch explizit dem Kind zugesprochen. Eine Erziehung zur Lustfähigkeit sollte der Unterdrückung der infantilen Sexualität entgegensteuern, um so die Ausbildung autoritärer Charakterstrukturen zu unterbinden... Das Kind wurde als sexuelles Subjekt mit gleichen Rechten wahrgenommen, nicht aber als Sexualobjekt der Erwachsenen, auch wenn aus heutiger Perspektive teilweise sexuelle Grenzüberschreitungen aufgetreten sind“ (Sager 2015, S. 179).

Diesem Verständnis der kindlichen sexuellen Lust zufolge durften die Kinder nackt spielen und herumtoben, bekamen die Möglichkeit, sich absondern zu können, um ihre Körper zu erkunden. Sie konnten jederzeit Doktorspiele durchführen, wobei eine Grenzziehung erfolgte, wenn Verletzungsgefahr bestand. Eine umfassende sexuelle Aufklärung war eine Selbstverständlichkeit. Bezugnehmend auf Wilhelm Reichs „freudomarxistischen Ansatz“ (Zellmer 2011, S. 84) sollten die sexuellen Spiele / Äußerungsformen der Kinder über das „bloße Dulden oder Gestatten“ seitens der Erwachsenen hinausgehen, denn diese Reaktionen bieten „kein Gegengewicht gegen den übermächtigen Druck der gesellschaftlichen Atmosphäre“ (o. V. 1970, S. 103). Vielmehr bedarf es einer unmissverständlichen Bejahung des kindlichen Geschlechtslebens, wobei die eigene Sexualverdrängung der Erwachsenen (Eltern, Erziehungs-/Betreuungspersonal), ihre eigenen längst im Unbewussten verankerten Schuldgefühle, das größte Hindernis darstellen und sich negativ auf die Kinder auswirkten, in dem diese ihre sexuellen Bedürfnisse verdrängen oder nur noch unterschwellig äußern:

„Es kann sich also völlig negativ auswirken, wenn der Erwachsene die sexuellen Spiele eines Kindes, seine Lust und Befriedigung verbal hervorhebt und bejaht, sein Gesicht aber gleichzeitig Ekel, Angst oder Skepsis ausdrückt (z. B. wenn sich die Kinder irgendwelche Gegenstände in Vagina oder After stecken oder mit dem Finger darin rumbohren o. ä. – die Eltern werden in solchen Situationen häufig auf Grund ihrer eigenen Problematik Abwehr oder Ekel empfinden, die mit der Angst, die Kinder könnten sich verletzen rationalisiert wird)“ (ebd., S. 104).

Natürlich kann, wie die die antiautoritären TheoretikerInnen und PraktikerInnen einräumten, die Angst vor Verletzungsgefahren bei aufkommenden Sexspielen „u. U. gerechtfertigt sein; in solchen Fällen müssen wir die Kinder sehr behutsam darauf hinweisen, daß sie sich auch wehtun können; möglicherweise in der Form, daß man sie darauf hinweist, mit dem Genital des anderen behutsam umzugehen. Wenn sie behutsam sind, können sie das Genital des anderen auch besitzen, daran beteiligt sein; die Verarbeitung des Geschlechtsunterschieds (Penisneid) kann dadurch erleichtert werden. Eine bereits erfolgte Verdrängung der sexuellen Bedürfnisse führt häufig dazu, daß die Kinder diese Bedürfnisse nur noch unterschwellig äußern“ (ebd.).

Die Biografin von Frau Seifert gibt an, dass in der Frankfurter Kinderschule sexuelle Aktivitäten seitens der Erwachsenen mit Kindern kategorisch abgelehnt wurden:

„Monika Seifert hob hervor, dass hierdurch der Erwachsene Macht über das Kind ausübe und die Wahrung der Generationsschranke für eine freie Entwicklung des Kindes eine unabdingbare und notwendige Voraussetzung sei. Damit war die Position klar und unmissverständlich formuliert: Jede Form erotisch-sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern - der Begriff Pädophilie wurde zur damaligen Zeit noch nicht verwendet - wurde entschieden abgelehnt" (Aden-Grossmann 2015, S. 83).

Jedoch: Bei genauerer Betrachtung relativiert sich diese kategorische Ablehnung. So fragte Seifert selbstkritisch ob das Ausbleiben „von versuchter, direkter, zielgerichteter sexueller Aktivität eines Kindes mit einem Erwachsenen“ (Seifert 1971, S. 172) in ihrem Projekt als Manko oder als Erfolg zu bewerten sei. Schließlich hatte sie zuvor zu verstehen gegeben, dass sich die „sexuelle Wißbegier der Kinder, ... wenn sie sich durch keine Verbote gehemmt wird, auch auf den Erwachsenen erstreckt“ (ebd.). In typisch tiefenpsychologisch orientierter Weise führte Seifert dazu aus:

„Es mag daran liegen, daß diese Kinder an keine der erwachsenen Bezugspersonen einseitig fixiert sind und sie deshalb die Möglichkeit haben, sich mit Gleichaltrigen zu identifizieren (die für Familien typischen Fixierungskonstellationen bestehen hier nicht). Es ist also möglich, daß die Kinder deshalb keinen Versuch machen, die Erwachsenen direkt als Sexualobjekt einzubeziehen, weil sie ihre sexuellen bzw. genitalen Bedürfnisse im Kinderkollektiv realitätsgerecht mit Gleichaltrigen befriedigen können. Andererseits - da wir von den Schwierigkeiten der Erwachsenen wissen - muß als mögliche Ursache dessen auch berücksichtigt werden, daß es die eigenen Hemmungen und Unsicherheiten der Erwachsenen sein können, die solchen Bedürfnissen der Kinder von vornherein Grenzen setzen. Dies würde bedeuten, daß die Kinder durch das unbewußte reagieren der Erwachsenen ihre sexuelle Neugierde an diesem Punkt unterdrücken und sie aus diesem Grunde über gewisse Ansätze zur Einbeziehung der Erwachsenen nicht hinausgehen“ (ebd.).

Dass Kinderladen-BetreuerInnen sich aktiv an sexuellen Spielen mit Kindern beteiligten, sexuelle Grenzen überschritten, belegen folgende zwei exemplarisch ausgewählte Beispiele:

„Ein Teil der Kinder sitzt am Tisch beim Mittagessen. Ich stehe daneben, da kommt Ida zu mir und streichelt mein Knie, dann geht sie höher und krabbelt mit den Händen unter meinem Rock. Ich lächle sie an und sage: 'Das kitzelt ja so. Ist es denn da so schön warm? Macht das denn so Spaß?' Sie sagt: 'Ja, ich will dich mal kitzeln' - und sie streichelt meine Schenkel rauf und runter. Nina hat uns von Anfang an genau beobachtet; als sie meine Reaktion sah, legte sie en Löffel aus der Hand und kommt zu uns. Sie will auch unter meinem Rock kitzeln. Der Rock rutscht immer höher, ich stehe praktisch in der Unterhose da, da kommt auch Annette Z., und wir vier haben einen Mordsspaß daran, wie sie unter meinem Rock herumfummeln. Sie krabbeln mit den Fingern über den Bauch, sehen ein Stück nackte Haut und freuen sich darüber, dann schieben sie meinen Pullover hoch, und streicheln meine Brust, bis die Hände am Halsausschnitt herauskommen. Ich rate immer, welche Finger nun wohl zu wem gehören. Bero will sich an den Spaß auch beteiligen und tätschelt sanft meinen Popo. Das zieht sich so ungefähr 20 Minuten hin... Das Ganze geht sehr gelöst vor sich, und jeder ist der Meinung, daß es jedem Spaß macht. Utku kommt dazu und fängt an, an meinem Rock herumzureißen. Er ist ganz aufgeregt und ruft: 'Die Hose muß runter, ich ziehe die Hose runter.' Er reißt wild an meinen Kleidern herum, leckt an meinem Bauch und beißt in die Haut. Ich sage, daß es mir zu kalt sei, und ich keine Lust hätte, mich ausziehen zu lassen. Das wird nicht akzeptiert, und er reißt weiter an meinen Schamhaaren. Da nehme ich seine Hand heraus und sage, daß es mir wehtut, und ich das nicht gut fände... Martin ist hinzugekommen und interessiert sich sehr dafür, was hier passiert... Utuku ruft ständig: ‚Die Hose runter, ich zieh die Hose runter.‘ Als er wieder an meinen Schamhaaren herumreißt, ziehe ich seine Hand weg. Martin steh steht jetzt abseits und spricht mit Tili (Pädagogin). Er sagt zu ihr: ‚Du, helf mir doch mal, ich kriege meine Hose nicht mehr zu. Manchmal, da habe ich einen ganz steifen Pimmel, und das tut dann auch oft weh.‘ Da sagt Tiki: ‚Da mußt du ihn streicheln.‘ Er: ‚Ja, das habe ich schon oft gemacht‘“ (Bott 1970, S. 43 f).
kinderladen6 Doktorspiel im Matratzenzimmer; Quelle: Ida-Seele-Archiv, 89407 Dillingen18)Ein weiteres fragwürdiges Beispiel, das inzwischen hunderte Male zitiert wurde, ist der Fall der noch nicht ganz vierjährigen Grischa aus dem Kinderladen der West-Berliner „Kommune 2“, deren Mitglieder die Lehren von Wilhelm Reich und Vera Schmidt hundertprozentig zu praktizieren versuchten (vgl. Kätzel 2002, S. 259 ff.). Im August 1967 waren drei Frauen und vier Männer in eine 7 1/2 Zimmer große Altbauwohnung in die Giesebrechtstraße 20, Berlin-Charlottenburg, gezogen. Zur „Kommune 2“, die bereits ein Jahr später wieder aufgelöst wurde, gehörten noch zwei Kleinkinder, das schon genannte Mädchen Grischa und der vierjährige Nessim. Die BewohnerInnen der Kommune protokollierten akribisch ihre „Ansätze sexualfreundlicher Kindererziehung“. Beispielsweise veröffentlichten Christel Bookhagen, Eike Hemmer, Jan Raspe, der spätere RAF-Terrorist, und Eberhard Schultz einen Beitrag über „Kindererziehung in der Kommune“ im Kursbuch 17, erschienen1969. Darin findet sich folgendes „soziales Experiment“, das als Beispiel für eine nicht bloße Duldung, sondern für uneingeschränkte Bejahung der kindlichen Sexualität ausgewiesen wurde. Kommunarde Eberhard Schultz (19), heute Menschenrechtsanwalt, protokollierte am 4. April 1968:

„Nach dem Ausziehen kommt Grischa zu mir: ‚Will bei dir schlafen.‘ Da ich müde und frustriert bin, lege ich mich angezogen zu ihr aufs Bett, will sie möglichst schnell einschläfern. Grischa hält mich mit Zeitungsblättern und Warum-Fragen wach. Ich darf die Augen nicht zumachen. Auf Fragen nach dem Grund, was ich denn sehen soll, antwortet sie nicht mit Worten. Sie ist nur sehr unruhig, reibt die Beine aneinander, steckt sich die Decke dazwischen, zieht wiederholt an Pullover und Strumpfhose. Ich finde keine Möglichkeit, auf ihr sexuelles Interesse einzugehen, und nach zwanzig Minuten zieht sie frustriert mit ihrem Kopfkissen wieder in ihr Zimmer ab. Als ich ihr folge, schickt sie mich zuerst raus, dann soll ich Geschichten erzählen, dann mich zu ihr legen. Nasser ist schon beim Einschlafen, deshalb flüstert sie mir irgendwelche Fragen zu, die ich nicht verstehe. Es gelingt mir nicht, ein Schlafbedürfnis bei ihr zu wecken. Als ich sie frage, ob sie in ihrem Zimmer oder bei mir schlafen will, geht sie freudig in mein Zimmer. Ich lege mich in Unterhose und Unterhemd zu ihr aufs Bett. Grischa sagt, sie braucht keine Decke zum Einschlafen. Außerdem soll ich nicht die Augen zumachen. Dann will sie mich streicheln, Hände und Gesicht. Ich darf sie erst streicheln, wenn sie gestreichelt hat, dann auch nur kurz. Zum Bauchstreicheln muß ich mein Hemd hochziehen. Ich liege auf dem Rücken. Grischa streichelt meinen Bauch, wobei sie meine rausstehenden Rippen als Brüste versteht. Ich erkläre ihr, daß das Rippen sind, ich nur eine flache Brust und Brustwarzen habe. Sie streichelt meine und zeigt mir ihre Brustwarzen. Wir unterhalten uns über die Brust von Mädchen. wenn sie älter sind. Dann will sie meinen ‚Popo‘ streicheln. Ich muß mich umdrehen. Sie zieht mir die Unterhose runter und streichelt meinen Popo. Als ich mich wieder umdrehe, um den ihren wie gewünscht zu streicheln, konzentriert sich ihr Interesse sofort auf ‚Penis‘. Sie streichelt ihn und will ihn ‚zumachen‘ (Vorhaut über die Eichel ziehen), bis ich ganz erregt bin und mein Pimmel steif wird. Sie strahlt und streichelt ein paar Minuten lang mit Kommentaren wie ‚Streicheln! Guck ma Penis! Groß! Ma ssumachen! Mach ma klein!‘ Dabei kniet sie neben mir, lacht und bewegt vom ganzen Körper nur die Hände. Ich versuche ein paarmal, sie zaghaft auf ihre Vagina anzusprechen, sage, daß ich sie auch gern streicheln würde, wodurch sie sich aber nicht unterbrechen läßt. Dann kommt doch eine ‚Reaktion‘: Sie packt meinen Pimmel mit der ganzen linken Hand, will sich die Strumpfhose runterziehen und sagt: ‚Ma reinstecken.‘ Ich hatte zwar sowas erwartet (Marion hatte von Badewannenspielen erzählt, wo Nasser seinen Pimmel vor Grischas Bauch hielt und sie sich so zurückbeugte, daß man ‚Penis in Vagina reinstecken‘ konnte, was aber mangels Erektion nicht gelang), war dann aber doch so gehemmt, daß ich schnell sagte, er sei doch wohl zu groß. Darauf gibt Grischa sofort ihre Idee auf, läßt sich aber die Vagina sehr zurückhaltend streicheln. Dann holt sie einen Spiegel, in dem sie sich meinen Pimmel und ihre Vagina immer wieder besieht. Nach erneutem Streicheln und Zumach-Versuchen kommt wieder der Wunsch ‚Reinstecken‘, diesmal energischer als vorher. Ich: ‚Versuch’s mal!‘ Sie hält meinen Pimmel an ihre Vagina und stellt dann resigniert fest: ‚Zu groß‘“ (Kommune 2 1969, S. 169).

Der Kommentar zu voranstehenden Protokoll versucht zu belegen, dass „die Kinder selbst die Unmöglichkeit, ihrer genitalen Wünsche mit Erwachsenen zu befriedigen“ (ebd., S. 169) realisieren:

„Bei einer bejahenden Einstellung zur Sexualität der Kinder wird sich früher oder später das sexuelle Interesse der Kinder auch auf die Genitalien der Erwachsenen richten... Das sexuelle Interesse der Kinder, wenn es nicht durch Einschüchterungen und Verbote gehemmt wird, geht bis zu koitusähnlichen Nachahmungen der Erwachsenensexualität“ (ebd., S. 168 f).

Voranstehendes Beispiel aus der „Kommune 2“ zeigt, dass hier der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kind völlig verschwimmt. Eberhard Schultz und seinen MitbewohnerInnen haben anscheinend übersehen /-lesen, dass z. B. ihr theoretisches Vorbild Vera Schmidt, ihren Erzieherinnen „alles untersagte, was das Kind‚ erregen und sein Selbstgefühl erniedrigen‘ könnte“ (Heider 2014, S. 108).

Die Doktorspiele wurden anscheinend selbst dann nicht unterbunden, wenn die ErzieherInnen kindliche Formen von Geschlechtsverkehr registrierten, wie folgendes Protokoll aus dem autonomen Kinderhaus Neuenheim in Heidelberg belegt:

„Im Schwimmbad mit der großen Gruppe: Yohan und Sean setzen sich auf den Boden, anstatt sich anzuziehen, und spielen, jeder mit seinem Pimmel. Sie machen sich einen ‚Steifen‘... Bei Yohan ist mir schon oft aufgefallen, daß er beim Anziehen, nach dem Schwimmen sexuelle Gefühle kriegt. Er hat schon öfter versucht, seinen Pimmel in die Scheide von einem Mädchen oder in Sean’s Arsch zu stecken, oder den Pimmel an einer Scheide zu reiben, was die Mädchen je nach Yohanns Behutsamkeit und ihrer eigenen Laune verschieden - lustvoll bzw. ablehnend – aufnahmen“ (Billau/Jansen/Jutzi 1980, S. 86).

Die geschilderten sexuellen Grenzüberschreitungen waren zur damaligen Zeit keine Randerscheinung, sondern ein Segment des linken Mainstreams (20) Zum Beispiel ging es den Protagonisten der „Kommune 2“ nicht darum, wie sie glaubhaft zu versichern suchten, Sex mit Kindern anzupreisen, vielmehr wollten sie damit den notwendigen Zwischenschritt in der psychischen Entwicklung der Kinder und der freien Entfaltung ihrer sexuellen Bedürfnisse darzustellen. Folgend wenden die Kinder ihre genitale Sexualität Gleichaltrigen zu:

„Daß die Kinder diese Erfahrung wirklich ausleben konnten, hatte zur Voraussetzung, daß die Erwachsenen nicht nur keine Verbote aussprachen, sondern ihre eigenen Hemmungen überwinden konnten. Die bewußt gemachte eigene Erfahrung wirkt für die Kinder als Antrieb, ihre genitale Sexualität realitätsgerechter mit gleichaltrigen statt mit Erwachsenen zu befriedigen“ (Kommune2 1979, S. 93).

Die Frage nach einer Grenzüberschreitung, nach dem wie nah ist zu nah, nach einem eventuellen Synkretismus von kindlicher und erwachsener Sexualität wurde von den KommundarInnen nicht gestellt. Dass selbstregulierende Kinder auch NEIN sagen könnten, kam ihnen nicht in den Sinn.

Die antiautoritären Sex-Vorkommnisse sorgten im „Kreise des nicht nur pädagogischen Establishments“ für Entsetzen, obwohl die Öffentlichkeit noch nicht gegen Kindesmissbrauch so sensibilisiert war wie heute. Die geschilderten Szenen widersprachen allem, was gemeinhin als moralisch und pädagogisch vertretbar galt. Die Psychagogin Christa Meves kritisierte die Praxis des sexuellen Umgangs in den Kinderläden, als "frühe Kindesverführung", die "psychosomatische Erkrankungen, schwere Hysterie oder sexueller Verwahrlosung" (Meves 1970, S. 95) hervorrufe. In ihrer Schrift „Mut zum Erziehen“ wandte sich die Psychagogin gegen die antiautoritäre Bewegung, Kinderläden, Studentenbewegung etc., gegen die Dominanz „des Themas Sexualität in Filmen und Illustrierten, in zahllosen wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Publikationen, die man unter das Motto stellen könnte: So herrsche den Sexus – wobei es vor allem um die Auflösung von sogenannten Tabus und ihrem tausendjährigen Muff geht“ (ebd., S. 98). Und der Psychotherapeut Günther Bittner missbilligte diese Art der Sexualpädagogik als "Verstoß... im Namen einer aufklärerischen, das andere Mal im Namen einer curricularen Anforderung; das dritte Mal im Namen dessen, was man für Triebbedürfnisse des Kindes hielt" (zit. n. Berger 2016, S. 161). Auch der "Deutsche Ärztinnenbund" verwahrte sich auf dem Vorschulkongress 1970 vehement gegen diese „Form der Kindesverführung“ (vgl. o. V. 1970a, S. 63).


Selbsterziehung der Erwachsenen - Vom Kinderladen zum Elternladen

In angeordneten Gruppendiskussionen, die immer mehr zu psychoanalytischen Selbsterfahrungsgruppen ausarteten, besprachen die Eltern (und andere Bezugspersonen) der Kinderladenkinder, neben ihre eigenen „autoritären Sozialisation“ und entsprechender „Autoritätsfixierungen“, ebenso ihre individuellen sexuellen Verdrängungen, Verkrampfungen und Projektionen, ihre enormen Unsicherheiten im Umgang mit der kindlichen Sexualität. Denn nur dem Erwachsenen, der die ihm anvertrauten Kinder nicht mit dem verklemmten „Kind in sich“ (Bernfeld 1925, S. 141) belastet, gelingt eine repressionsfreie (Sexual-)Erziehung - das bedeutete auch, sich von den Eltern, die alle (professionell) Erziehenden mit sich schleppen, zu befreien. Dadurch bedingt rückte in kürzester Zeit, wie Christin Sager schreibt, neben allgemeinen Erziehungsfragen, die Sexualität der Erwachsenen „in den Vordergrund und der Kinderladen fungierte mehr und mehr als ‚Elternladen‘: Nicht nur die Erziehung der Kinder stand im Fokus, sondern vor allem die eigene sexuelle Sozialisation, als auch die Selbsterziehung der Erwachsenen. Intimste Details wurden vor der Gruppe ausgebreitet, analysiert, protokolliert und schließlich publiziert. Wurde im Anschluss an den Faschismus vehement geschwiegen, musste nun alles ‚Private‘ öffentlich gemacht werden“ (Sager 2015, S. 175).

Für Monika Seifert produzieren die erwachsenen Bezugspersonen des Kindes gerade hinsichtlich der Sexualität die meisten Abwehrmechanismen und leisten darin die größte Verdrängungsarbeit. Dies hat zur Folge, dass unbeabsichtigtes Fehlverhalten und nicht reflektierte Fehlleistungen die Sexualerziehung negativ beeinflussen. Um unbewusste Verschleierungen und Manipulationen zu vermeiden, forderte sie:

„1. Die Erwachsenen müssen versuchen, ihre sexuellen Schwierigkeiten in der ganzen auto-biographischen und gesamt-gesellschaftlichen Komplexität aufzudecken und zu analysieren, was gleichzeitig
2. bedeutet, daß sie diese eigene Problematik kollektiv im politischen Kontext zu verarbeiten suchen müssen.
3. Sie müssen ihre Beziehungen zu den Kindern relativieren, d. h. ihre Fixierungen an das Kind abbauen, um damit autoritäre Fixierungen an die Erwachsenen und die Übertragung ihrer sexuellen Problematik auf die Kinder von vornherein zu verhindern. Von diesen Forderungen her gesehen, ist zwar eine liberale Einstellung zur Sexualität der Kinder ein Fortschritt, kann jedoch nicht den Ansprüchen einer Erziehung zur Selbstregulierung genügen“ (Seifert 1971, S. 169).

Damit unbewusste Übertragungen, Manipulationen und Verschleierungen seitens der Erziehenden auf die ihnen anvertrauten Kinder von vorherein ausgeschaltet werden, sollten a) „Fixierungen einzelner Kinder auf einzelne Erwachsene und umgekehrt vermieden werden“ und b) „Gruppenprozesse gefördert werden, die es den Kindern ermöglichen, kollektiv zu lernen, mit neu auftretenden Bedürfnissen umzugehen. Das heißt, daß auch die sexuellen Bedürfnisse und Äußerungsformen der Kinder auf der Grundlage solidarischen Verhaltens als Ausdrucksform zwischenmenschlicher Kommunikation eingeübt werden“ (ebd., S. 170).

Für Georg Kiefer ist es für Erwachsene äußerst problematisch die kindliche „Genitalerziehung“ in den Kinderladen miteinzubeziehen. Diesbezüglich kommt es „leicht zu Fehleinschätzungen, Bedeutungsüberhöhungen, Projektionen eigener Versagungen auf das Kind. Dazu kommt weiterhin, daß wir nicht einmal in der Lage sind die infantile Lustbefriedigung zu beachten, meist aus Verkrampfung jeden Ansatz abwehren, auch durch unbewußte Haltungen das Kind abschrecken, Verbote auferlegen, deren Sinn Kinder nicht verstehen, ihm ein Kommunikationsbedürfnis nehmen... Wir bemerken nicht einmal die bewußt streichelnde Hand des Kindes und wenn, wehren wir oft ab. Das Problem liegt also bei uns Erwachsenen. Um uns dies bewußtzumachen und Lösungen zu finden, haben wir einen Arbeitskreis über Sexualität mit einigen Eltern angefangen“ (Kiefer 1970, S. 39).

Durch die anstrengenden Gruppendiskussionen, an deren Folgen „viele Beziehungen kaputt... gingen“ (Kätzel 2002, S. 168), entstand ein hoher Leistungsdruck bei den TeilnemerInnen, der dazu führte, dass die Magnitude der kindlichen Befreiung miteinander verglichen und aus dem Verhalten der Kinder Rückschlüsse auf die jeweiligen Eltern gezogen wurden. Dieses Vorgehen widersprach letztlich der Intention einer antiautoritären Erziehung. Gabriele Flessenkemper erinnert sich:

„So schämten wir uns, wenn unsere Kinder ‚zu früh‘ nicht mehr in die Hosen machten, keine Lust hatten, ständig Spagetti-Ketschup-Schlachten zu veranstalten, in ihrer Scheiße oder ihren Genitalien nicht besonders interessiert waren“ (Flessenkemper 1983, S. 22).


Anpassung an den Mainstream?

2001 hatte Alice Schwarzer auf die angebliche Affinität von Daniel Cohn-Bendit, Odenwaldschüler und später Kinderladenbetreuer in einer Kita der Frankfurter Universität, zu dessen Pädophilie hingewiesen (vgl. Heider 2014, S. 304 ff.). Genannter schrieb unverblümt in seinen frühen Erinnerungen unter dem Titel „Der große Basar“, dass er sich mehrmals von Kleinkindern am Hosenlatz streicheln ließ:

„Es ist mir mehrmals passiert, daß einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln. Ich habe je nach den Umständen unterschiedlich reagiert, aber ihr Wunsch stellte mich vor Probleme: Ich habe sie gefragt: ‚Warum spielt ihr nicht untereinander, warum habt ihr mich ausgewählt und nicht andere Kinder?‘ Aber wenn sie darauf bestanden, habe ich sie dennoch gestreichelt“ (Cohn-Bendit 1975, S. 143).

Wie sich später herausstellte, war dies angeblich eine frei erfundene Szene, die Cohn-Bendit nur deshalb in Umlauf brachte, „um sich im Stile des haltlosen Provokateurs gegen die spießige Sexualfeindlichkeit in Szene zu setzen“ (Reichardt 2014, S. 765). Jedoch in einem weitgehend unbeachteten Auftritt im französischen Fernsehen vom 23. April 1982, äußerte der Grünen-Politiker über seine pädagogische Tätigkeit im Kinderladen:

"Um neun Uhr morgens gehe ich hin zu meinen acht kleinen Knirpsen zwischen 16 Monaten und 2 Jahren. Ich wasche ihnen den Popo ab, ich kitzle sie, sie kitzeln mich, wir schmusen... Wissen Sie, die Sexualität eines Kindes ist etwas Phantastisches. Man muss aufrichtig sein, seriös. Bei den ganz Kleinen ist es etwas anderes, aber bei den Vier- bis Sechsjährigen: Wenn ein kleines fünfjähriges Mädchen beginnt, Sie auszuziehen, es ist großartig, weil es ein Spiel ist. Es ist ein wahnsinnig erotisches Spiel" (vgl. hier).

Anderen Ort antwortete Cohn-Bendit auf die Frage, ob es damals zu unzüchtigen Handlungen seinerseits mit Kindern kam:

„Nein, Nein. Das hat auch nie jemand behauptet. Weder Eltern noch Kinder. Im Gegenteil. Beim großen Fest zu meinem 68. Geburtstag kamen Kinder aus dem Kinderladen von damals, mittlerweile 40 Jahre alt. Sie waren alle entsetzt über die Diffamierungen“ (vgl. hier).

Hier stellen sich abschließend zwei Fragen: Sind letztlich die aufgezeichneten, teilweise äußerst skandalösen Beispiele über die kindliche Sexualität in den Kinderläden nicht auch dem damaligen Mainstream (siehe Anmerkung 20) geschuldet? Wurden Kinder in den antiautoritären Einrichtungen von ihren BetreuerInnen sexuell missbraucht? (21)

Zur ersten Frage: In „Bilder und Texte vom Kinderhaus Neuenheim in Heidelberg“ ist ein Interview mit ehemaligen Kinderhauskindern abgedruckt, die inzwischen verschiedene Schulen besuchten. Das Interview wurde von einem Kinderhauserzieher und einer -erzieherin, Christian (26 Jahre) und Anette (26 Jahre), am 15. Dezember 1979 mit Felix, Marlene, Mai und Dan, durchgeführt. Daraus eine kurze Sequenz der subtilen Fragerei:

“C[ristian]: Und wie ist eure Lehrerin, Mai?
F[elix]: Unsere ist ganz nett, so - Spitze! Wow-wow-wow
C: Was ist denn mit der, kann man mit der gut schmusen?
Alle: Nee! (Gelächter)
C: Was ist den gut bei der?
F (zu Marlene): Unsere – gelt – die ist sexy!
A[nette], C.: Was heißt das? (Großes Gelächter)
A: Woran merkt man das?
F: Oh, was meinst du, wie die ankommt, in Unterhose... (Gelächter)
Ma[rlene]: Frau Schmitt kommt nicht in Unterhose an!
F: Aber mit nackigem Busen. Da gucken die Schwabbel raus.
...
C: Was macht ihr, wenn jemand verknallt ist?
D[an] Phhh... Dann ist sie halt verknallt, ist mir doch egal. Die anderen, wenn die mitkriegen, daß einer verknallt ist, die erzählen das dann gleich der halben Klasse.
F: Und dann steht man dumm da. Da lachen die einen alle aus. Dann sagen die das immer weiter, dann geht das von der ersten Klasse bis zur letzten. Weißt du, die sagen dann: ‚Du fickst sie ab.‘
M[ai]: Was ist denn ficken?
F: Vögeln“ (zit. n. Billa/Jansen/Jutzi 1980, S. 115 ff.).

Als Felix fast ein Jahr später den von seinen ehemaligen Kinderhausbetreuern verfassten Bericht zu Gesicht bekam, war er von den vorgenommenen Veränderungen mehr als überrascht. Seine Mutter brachte des Jungen Aussagen zu Papier:
kinderladen7Dokument archiviert im Ida-Seele-Archiv

Ist dieses Dokument ein Beweis dafür, dass die Interviewer ihren Bericht bewusst den antiautoritären Mainstream anpassten, eine erwartete pädagogische Gesinnung transportierten, die das eigene Weltbild bestätigen sollten?

Zur zweiten Frage. Diese wird von den renommierten Erziehungswissenschaftlern Micha Brumlik und Meike Sophie Bader kurz und bündig wie folgt beantwortet: „Bislang [d. h. 2008; M. B.] gibt es keine Zeugen für Missbrauch in den Kinderläden“ (http://www.taz.de/!482654). Bisher konnte auch Verfasser vorliegenden Beitrags keine Äußerungen von ehemaligen Kinderladenkinder finden, die über sexuellen Missbrauch berichten. Die meisten Kinderladenerinnerungen gehen in folgende Richtung: Der 15-jährige Oliver C. sagt über seine Kinderladenerfahrungen in einem Filminterview: „‚Der Kinderladen hat meine Entwicklung beeinflusst‘, vor allem habe er dazu beigetragen ein ‚Gemeinschaftsgefühl‘ auszuprägen und dafür sensibel zu werden ‚was läuft in der Welt‘“ (zit. n. Schäfer 2015, S. 379). Und die Jugendliche Nina äußert in einem Gespräch: „Antiautoritär heißt ja nicht, Kinder völlig verwildern zu lassen. Es heißt ja nicht, daß sie alles machen können, was sie wollen, nämlich Laisser-faire. Die Grenzen kannten wir, ganz klar, Strafen dagegen nicht“ (zit. n. ebd.).


Wegweisende Impulse gesetzt

Zuerst stellt sich folgende Fragen: Was ist aus den antiautoritär erzogenen („schlimmen“) Kindern geworden? Erfüllte sich die Prophezeiung von Günter Ammon, Psychoanalytikers und Begründer der „Berliner Schule der Dynamischen Psychiatrie“ sowie der „Deutschen Akademie für Psychoanalyse“, der 1969 verkündete, seine jüngsten Patienten mit seelischen Störungen „sind Kinder aus den antiautoritären Kinderläden“ (zit. n. Gebhardt 1969, S. 46). Eine von der Psychologin Franziska Henningsen bereits 1973 herausgegebene Untersuchung zeigt auf, dass antiautoritär erzogene Kinder auf keinem Fall der Verwahrlosung anheimfielen, letztlich die negativen Folgen ausblieben, wie so oft befürchtet und prophezeit. Allerdings unterscheiden sich die antiautoritär erzogenen Kinder von den „normal“ erzogenen weit weniger als anfangs „erträumt“. Sie sind, laut Henningsen, spielfähiger, phantasievoller und kooperationsbereiter, sie besitzen „eine größere Bereitschaft zu originellem und triebhaften Ausdruck“, verfügen über eine „gute und sehr gute Disposition zu einer gesunden Ichentwicklung“, über einen „erhöhten Ideenreichtum“, sowie über eine „hohe Bereitschaft“, in „sozialen Konfliktsituationen kooperative Lösungen anzubieten. Zudem besitzen sie ein „flexibleres Über-Ich“, das ihnen „hohe Phantasietätigkeit“, „triebhaften Ausdruck“ sowie eine „gute Fähigkeit im Erfassen und Verbalisieren sozialer Situationen“, von Kooperationsmöglichkeiten und Konflikten ermöglicht. Sie zeigen aber auch verstärkt „In-group-Verhalten“ sowie eine größere Unselbständigkeit in den praktischen Fragen des Alltags (vgl. Henningsen 1973, S. 158 ff.).

Die Illustrierte „stern“ hat 1981, zwölf Jahre nach dem Artikel über „Kleine Linke mit großen Rechten“, sämtliche Kinder aus der Kinderladen-Reportage besucht und beschrieben. Und siehe da:

„Sie machten Lehren, gingen aufs Gymnasium, arbeiteten in der Schülerzeitung mit, wollten Tierärztin, Stahlbauschlosser oder Architekt werden. Igor Janitzki plante, Musiktherapie zu studieren. Alfa Conradt besuchte das Gymnasium und interessierte sich nur mäßig für Politik... Alfa Conradt hat im November ihr erstes Kind zur Welt gebracht, einen Sohn. Sie wird ihn nicht antiautoritär erziehen... Sie ist Filmemacherin geworden - wie ihr Vater - und hat einen sehr bewegenden Film über den Selbstmord ihrer Mutter gedreht ("Mutterkind"). Ihr nächstes Projekt könnte ein Film über jene Kinder sein, mit denen sie einst im Kinderladen war. Derzeit recherchiert sie, wer wo wie lebt. ‚Das allein ist spannend."‘ Sie leben verstreut in ganz Deutschland, in Doppelhaushälften, Villen oder Mietwohnungen im Wedding. Sie sind Ärzte, Sozialpädagogen, Künstler, Schauspielerinnen, Hausfrauen oder führen das Familienunternehmen in der x-ten Generation weiter. ‚Aus uns ist genau das nicht geworden, was viele vorhergesagt haben‘, sagt Igor Janitzki“ (vgl. hier).

Ohne Zweifel: Die Kinderladenbewegung bzw. antiautoritäre Erziehung veränderten die damals regelhafte Kindergartenpädagogik. Sie hat „ durch Integration bestimmter Elemente antiautoritärer Erziehung einen Teil ihrer historisch bedingten Rückständigkeit aufgeholt und sich pädagogisch legitimiert“ (Hebenstreit 1980, S. 59).Vieles, was damals für Unruhe sorgte, teilweise als Unmöglichkeit und Provokation empfunden wurde, ist heute in den vorschulischen Einrichtungen eine Selbstverständlichkeit: Mitspracherecht der Eltern, Anerkennung der Kinder als eigenständige, selbstregulierende Persönlichkeiten, als Akteure ihrer körperlichen und emotionalen Bedürfnisse, als Personen mit eigenen Rechten sowie Mitbestimmung (Partizipation) der Kinder bei der Gestaltung des pädagogischen Alltags. Eine nicht zu unterschätzende Merite ist „das neue Verständnis der Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen. Die Kinder wurden als prinzipiell gleichberechtigte (nicht gleichartige) Partner gesehen“ (ebd., S. 33). Treffend resümiert Franz-Michael Konrad, dass durch den „freien Umgang mit Zeitstrukturen, der Betonung des sozialen Lernens, der pädagogischen Öffnung der Einrichtung zum gesellschaftlichen Umfeld, einer neuen Erzieherrolle und Ähnlichem mehr die Kinderläden Impulse gesetzt [haben M. B.], die die ganze spätere Kindergartenentwicklung... nachhaltig befruchtet[e]“ (Konrad 2012, S. 190).

Die Akzeptanz der kindlichen Sexualität setzte viel „revolutionären Schwung“ und Hoffnung in Gang und zwang die Vorschuleinrichtungen zu Reformen. Für Meike Sophie Baader ist die größte Errungenschaft der „68er-Bewegung“ die Anerkennung einer eigenen kindlichen Sexualität, trotz all seiner Vielschichtigkeit:
„Was jedoch alle Ansätze einigt, ist eine Enthierarchisierung des Verhältnisses von Erwachsenen und Kindern und die Sicht auf Kinder als Personen mit eigenen Bedürfnissen. Dazu gehört auch die Anerkennung einer eigenen kindlichen Sexualität. Dies dürfte als größte Hinterlassenschaft der Erziehungskonzepte von ‚1968‘ bezeichnet werden“ (Baader 2008a, S. 75).

Dass hinsichtlich der hohen Bedeutung, die man der kindlichen Sexualität einräumte, nicht deutlich genug zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität unterschieden wurde, die in den Kinderläden, aber auch in Wohngemeinschaften – wie etwa in der „Kommune 2“ - zu beobachten war, ist, wie der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik und die Professorin für Allgemeine Pädagogik Meike Sophia Baader konstatieren, „einer der theoretischen Irrtümer dieser Pädagogik“ (vgl. hier).

Christin Sager bezeichnet die in der antiautoritären Erziehung erfolgte aktive Förderung der kindlichen Lustfähigkeit als „historischen Sonderweg“:

„Mit der Reinszenierung der kindlichen Unschuld ist das Prinzip der sexuellen Lust des Kindes der Abschreckung von der dunklen Seite der Sexualität gewichen. Kinder sollen nicht primär befähigt werden, ihre Wünsche zu äußern, sondern sich zunächst einmal vor sexuellen Übergriffen schützen, indem sie einstweilen nicht lernen, ‚JA‘ zu sagen, sondern ‚NEIN‘“ (Sager 2008, S. 68).

Jedenfalls bescherte die Akzeptanz der frühkindlichen Sexualität eine wahre Flut diverser Veröffentlichungen, die hier nicht alle genannt werden können (z. B.: Bonnekamp 1987, Furian 1978, Gebhardt 1976; Krug/Seehausen 1978, Janzing 1976). Doch kam die Liberalisierung auch in der Kindergartenpraxis an? Oder haben letztlich, wie der Sexualwissenschaftler Norbert Kluge es formuliert, die „Extremformen ideologisch-politischer Sexualerziehung, praktiziert in den Kinderläden und Kommunen, die für die Kleinkindererziehung verantwortlichen verschreckt und zu mannigfachen Vorurteilen geführt?“ (Kluge 1978, S. 83). Möglichenfalls Ja! Zumindest scheint hinsichtlich der Sexualerziehung in den Kindergärten nicht viel Bewegung gekommen zu sein, wie eine Befragung von Kindergärtnerinnen im Frühjahr 1986 zu belegen scheint (vgl. Berger 1988, S. 45 ff). Dafür ein Beleg: Im Jahre 1981 veröffentlichte Helga Wichert in der renommierten Fachzeitschrift „Welt des Kindes“ einen Beitrag mit dem Titel „Mein Körper – dein Körper“. Darin beschreibt die Autorin einige Situationen aus ihrem Kindergartenalltag in Frankfurt, u.a. dass die Kinder nackt herumtollen, sich zum Schmusen und Kuscheln in eine Ecke zurückziehen, ihren nackten Körper mit Kleisterfarbe bemalen oder ihre Vorstellungen von Geburt ausspielen. Eine Flut von empörten Leserbriefen überrollte die Schriftleitung, die sich daraufhin genötigt sah, die Frage nach der „christlichen Toleranz“ zu stellen:

„Wir waren erstaunt bis erschüttert, als wir die Leserbriefe durchgingen... In einer Zeit, in der Tausende von kirchlichen Mitarbeitern in den kirchlichen Fortbildungseinrichtungen in eigens angebotenen Kursen über Erfahrung und Selbsterfahrung, Eutonie, verbale und nonverbale Kommunikation und vieles andere mehr versuchen, sich ihrer Berührungsängste und Verklemmungen, Verknotungen und Verkrampfungen bewußt zu werden und mit Hilfe der Gruppe zu mindern, in einer solchen Zeit wird der Bericht einer kirchlich engagierten Leiterin eines Kindergartens auf eine Weise in den Dreck gezogen, daß uns das Schamgefühl verbietet, solche Hetzschreiben zu veröffentlichen. Oder finden Sie, liebe Leserin oder Leser es angemessen, von einem ‚Saustall’, ‚Verführung zur Unzucht‘, ‚Kleinkindersexladen‘, ‚Schweinerein der kleinen Nackedeis‘ ‚Gehirnwäsche‘ u.a. zu sprechen und die Leiterin als ‚Wildsau‘ zu bezeichnen, um diesen Bericht zu charakterisieren? Sind Ihrer Meinung nach Unterstellungen, Verdrehungen und Verdächtigungen oder persönliche Verunglimpfung und Beleidigungen christliche Formen des Umgangs miteinander?“ (Liegele 1981, S. 228).

Nochmals: die „antiautoritäre Kinderladenerziehung der [1900; M. B.]sechziger / siebziger Jahre hat, trotz vieler Mängel und Fehler, die Vorschuldiskussion in der Bundesrepublik belebt, wichtige Denkanstöße gegeben und produktiv provoziert“ (Tiemann 1978, S. 22). Vermutlich wäre mancher Träger und auch manche/r Ezieher/in erstaunt, „würde man ihnen sagen, dass auf der Grundlage des Situationsansatzes heute in öffentlichen, kirchlichen oder sonst wie verbandlich organisierten Kindergärten wesentliche inhaltliche Prinzipien der Kinderladenbewegung realisiert werden“ (Iseler 2010, S. 32). Was verbindet die antiautoritäre Erziehung und den Situationsansatz? Die Frage beantwortet Karen Silvester in ihrer Dissertation folgendermaßen:

„In den Eltern-Kind-Initiativen der 80er Jahre wurde die antiautoritäre Praxis, die sich während der 70er Jahre rudimentär erhalten hatte, endgültig vom Situationsansatz abgelöst, der sich in den 70er Jahren parallel zur Kinderladen-Pädagogik entwickelte hatte... So wurde der Situationsansatz spätestens in den 80er Jahren zum Charakteristikum der Eltern-Kind-Initiativen und zeichnete sich durch folgende Standards aus...: Soziales Lernen wurde stärker betont als sachbezogenes. Lernen fand überwiegend in altersgemischten Gruppen und in einer natürlichen Umwelt statt. Die Kinder sollten lernen, sich in Alltagssituationen zurecht zu finden. Deshalb wurden sie in die Planung der Aktivitäten maßgeblich einbezogen. Die Räume von Eltern-Kind-Initiativen waren auf die Eigeninitiative der Kinder ausgerichtet und sollten Lust auf Ausprobieren und Spielen machten. Insgesamt war der der Kindergarten-Alltag weniger einem festen Rhythmus als einer situationsabhängigen Routine unterworfen“ (Silvester 2000, S.35 f).

In den aktuellen Diskussionen um frühpädagogische Konzepte wird die Öffnung der Kitas, wie die Kindergärten heute neudeutsch heißen, gefordert. Die Kinderläden verstanden sich, wie Reinhart Wolff, seinerzeit einer der prominentesten Kinderladenverfechter, resümiert, als offener sozialer Ort. Demzufolge beginnt mit ihnen konzeptionell „die Öffnung moderner Kita-Pädagogik. Die Öffnung der Kindertageserziehung in die Nachbarschaft hinein hat mit den Kinderläden angefangen. Die Türen waren offen. Die Kinder waren auf der Straße, auch wenn das nicht immer ganz ungefährlich war. Man kann die Öffnung aber auch weiter auf die Gemeinde und die Stadt beziehen... so sind die ersten Kinderläden in die so viele Anregungen bergende Stadt gegangen und ich erinnere noch gut den Aufstand, den es bei den ‚Berliner Wasserwerken‘ gab, als wir mit einer Gruppe 3- und 4-jähriger Kinder ein Wasserwerk besichtigen wollten. Das sei viel zu gefährlich, heiß es, was sich natürlich nicht bestätigte. Wir sind aber auch in den öffentlichen Verkehr hinein gegangen und nicht zuletzt in die Arbeitswelt... Jürgen Zimmer und seine Mitarbeiterinnen im ‚Deutschen Jugendinstitut‘ haben dazu weitere Erkundungsprojekte erfunden. Das liegt alles in schönen Handbüchern vor“ (Wolff 2016, S. 110).

Reinhart Wolffs Behauptung, dass mit den Kinderläden die Öffnung der Kindergartenerziehung anfing, ist historisch gesehen nicht korrekt. Beispielsweise hatte schon Ende der 1950er / Anfang der 1960er Jahre, als die nach 1945 restaurierte alte, stark erwachsenenzentrierte Kindergartenpädagogik noch den Alltag in den vorschulischen Einrichtungen dominierte, die sich heute nennende „Schörlpädagogik“ auf die Relevanz der Öffnung der Kindergartenerziehung hingewiesen. Demnach ist eine wesentliche Aufgabe der Kindergärtnerin gewisse Bildungsanlässe zu schaffen, bspw. durch „Ausgänge“ mit den Kindern ins Freie oder in die Gemeinde/Stadt hinein (vgl. Schörl/Schmaus 1964, S. 149). Diese seien „der notwendige Unterbau für fast jede andere Bildungsarbeit des Kindergartens... Daraus sollte jeder Kindergärtnerin klar werden, wie notwendig es ist, die Kinder aus dem Kindergarten hinauszuführen, um sie etwas sehen und hören zu lassen... Aber außer den Beobachtungsgängen in die Natur sollte man oft auch solche zu Baustellen aller Art unternehmen, zu Haus-, Straßen-, Kabel-, Kanal-und ähnlichen Bauten“ (Schmaus 1958, S. 13 ff.). Hinzu kommen Visitationen einer Autowerkstatt, einer Bäckerei, Glaserei, Gärtnerei u.dgl.m. (ebd., S. 15 f).


Neueste wissenschaftliche Studien

Gegenwärtig besteht ein auffallend hohes Interesse an der Kinderladenbewegung bzw. antiautoritären Erziehung, wie die vielen Veröffentlichungen insbesondere seit dem 40. Jahrestag der „68er“ belegen. In diesem Zusammenhang sind die mikro-und makrosoziologischen Studien von Bedeutung, die im Rahmen der NachwuchsforscherInnengruppe am Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften der TU Dresden, unter der wissenschaftlichen Leitung von Karin Bock, entstanden sind (vgl. Bock/Schäfer 2010, S. 149 ff.). Das Forschungsinteresse der Promotionsprojekte lautet: „Die Kinderladenbewegung: Biographische Auswirkungen und gesellschaftspolitische Einflüsse institutioneller Erziehungsarrangements“ (ebd., S. 149), das bedeutet, dass „sich die biographischen Auswirkungen des Kinderladens in den einzelnen Lebensgeschichten rekonstruieren lassen“ (Göddertz 2016, S. 7).

Nina Göddertz analysiert in ihrer Dissertation anhand von sieben Familien, das „Phänomen ‚Kinderladen‘ in den jeweiligen Biographieverläufen..., um zu erkennen, inwieweit die verschiedenen Generationen der Bewegung - also Eltern und Kinder – vom Kinderladen langfristig biographisch beeinflusst worden sind“ (ebd., S. 7 f). Beispielsweise hat Gerrit den Kinderladen den er besuchte in „‚schöne[r] Erinnerung‘. Dennoch bezweifelt er, dass ihn dieser entscheidend prägt[e]. Seine Schwester Greta... ist davon überzeugt, dass der Kinderladen gut für sie war, da sie früh lernt[e] Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen selbst zu treffen“ (ebd., S. 198), davon sie ihr gesamtes Leben“ (ebd., S. 214) profitierte.

Miriam Mauritz geht in ihrer wissenschaftlichen Untersuchung mit dem Titel „Das Private wird politisch. Biographische Emanzipationsprozesse in Mütter-Töchter-Beziehungen der Kinderladenbewegung“ u.a. der Frage nach, inwieweit die Zeit um 1968 das Private der Kinderladengründerinnen politisierte, ihre Erziehungsvorstellungen beeinflusste und welche Auswirkungen sich hieraus auf die Töchtergeneration, also die Kinderladenkinder, ergaben. Zum Beispiel hat die Promovendin eruiert, dass die „befragte Töchtergeneration sich an die sexuelle Aufklärung im Kinderladen, wenn überhaupt nur bruchstückhaft“ erinnert. Einige der Kinderladenaktivistinnen betonen, dass sie selbst „wenig aufgeklärt waren und somit ein gemeinsamer Aufklärungsprozess der Kinder und Eltern stattfand“ (Mauritz 2016, S. 225). Den Kinderladen als Emanzipationsort für Mütter und Töchter betreffend stellt Mauritz fest, dass einige Töchter „den Emanzipationsbestrebungen ihrer Mütter eher ablehnend gegenüber [stehen; M. B.]. Insbesondere wenn es um die Gestaltung von Familie geht, entwerfen die Töchter im Gegensatz dazu nachfolgend einen eher konservativen Lebensentwurf“ (ebd., S. 222).

Die Promovendin Franziska Schäfer interviewte für ihrer Studie ehemalige Kinderladenkinder und geht der Frage nach, inwieweit der Besuch der antiautoritären Einrichtung sich auf den weiteren Lebensweg der Kinderladenkinder auswirkte. Dazu ein Beispiel: Sven, geb. 1970, führt seine heutige soziale Einstellung auf seine Kinderladenzeit zurück, die „seines Erachtens nicht zu dem herrschenden Leistungsprinzip der Gesellschaft [passt; M. B.], mit dem umzugehen Sven schwer fällt. Es widerstrebt ihm, seine ‚Ellenbogen‘ einsetzen zu müssen, so dass er sich dieses regelrecht ‚antrainieren‘ musste, um in seinem beruflichen Umfeld als Freiberufler bestehen zu können. Sven ist der Meinung, dass eine Erziehung auch auf den ‚Konkurrenzkampf‘ im alltäglichen Leben vorbereiten sollte. Da er in einem Kinderladen war, fehlen ihm Handlungsoptionen dafür... Sven bedauert, dass er mit seiner erfahrenen Erziehung (im Kinderladen und Elternhaus) nicht genügend Ressourcen für einen adäquaten Umgang mit den Prinzipien einer Leistungsgesellschaft hat aufbauen können, er wurde nicht genügend auf seine aktuelle Tätigkeit vorbereitet“ (Schäfer 2015, S. 329).
 
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Vier Einwände gegen die autoritäre Erziehung von der seinerzeit hochgeachteten österreichischen Psychologin und Professorin für Psychologie an der Universität Graz (Quelle: Ida-Seele-Archiv)



Anmerkungen


1) Reinhard Wolff, Kinderladenaktivist der ersten Stunde, nimmt für sich in Anspruch die Wortmarke „Kinderladen“ ausgedacht zu haben (vgl. Wolff 1992, S. 73). Dem hält Heidi Berndt entgegen, dass die feministische Filmemacherin und Autorin Helke Sander diese Bezeichnung aus ihren Erfahrung mit der Puistotädit, der außerfamiliären Betreuung von kleinen Kindern in Finnland durch sog. „Parktanten“, mit nach Deutschland brachte (vgl. Berndt 1995, S. 239). Seinerzeit existieren die unterschiedlichsten Titulierungen für Einrichtungen, die sich der antiautoritären Erziehung verpflichtet fühlten. Die Bandbreite reichte von Freie Kinderschule, Freie Vorschule, Kinderforum, Kinderzentrum, Kinderhaus, Kinderklub, Mini-Club, Freier Kindergarten „bis zu Kinder-Olymp und Notgemeinschaft Kinderspielkreis“ (Reichhardt 2014, S. 725).
2) „‘Antiautoritäre Erziehung‘ war bis 1968 in Deutschland kein Begriff“ (Sander/Wille 2008, Sp. 660). Die Soziologin und Psychoanalytikerin Monika Seifert sprach zuerst von „repressionsfreier“ Erziehung. Genannte hatte, wie ihre ehemalige Freundin und Biografin vermutet, im Jahre 1968 den Fachbegriff „antiautoritäre Erziehung“ eingeführt, dabei zurückgreifend auf den Sozialphilosophen und Kopf der „Frankfurter Schule“ Max Horkheimer, der das Adjektiv „antiautoritär“ in seinem Essay „Autorität und Familie“, erschienen 1936 als Teil der „Studien über Autorität und Familie“, benutzte. Seifert verknüpfte die Wörter „antiautoritär“ und „Erziehung“ zur „Charakterisierung einer alternativen Form der Erziehung, die sich von der herkömmlichen, d. h. autoritären Erziehung abhebt“ (Aden-Grossmann 2014, S. 74).
3) Neben den vielen Fotos nackt umherspringende Kinder wurde eines „zur Ikone der Kinderladenbewegung [und steht; M. B.] für die Missachtung eines Symboles der Kultur des Bürgertums und seiner Erziehung“ (Baader 2008, S. 26): der über ein Klavier laufende Junge in der „Frankfurter Kinderschule“ (u. a. abgebildet in: o. V. 1970a, S. 90 u. Aden-Grossmann 2014, S. 97). Dabei hatte man nicht registriert, „dass das Klavier als Instrument nicht mehr spielbar war und als irreparabel der Kinderschule geschenkt worden war. Töne konnte man ihm kaum noch entlocken, es sei denn, man lief über die Tasten“ (Aden-Grossmann 2011, S. 146).
4) Helmut Kentler war zu seiner Zeit einer der gefragtesten Fachmänner zur Sexualität von Kindern und Jugendlichen. In seinen unzähligen, heute umstrittenen und äußerst fragwürdigen Publikationen tritt zutage, „dass er das Konzept des wissentlichen Einverständnisses ablehnte, da für ihn sexuelle Kontakte mit Kindern bzw. Jugendlichen und Erwachsenen keineswegs zwangsläufig ungleiche Beziehungen mit unterschiedlichen Machtpositionen bedeuten“ (Institut für Demokratieforschung Georg-August-Universität Göttingen 2016, S. 79). Demzufolge schädigt, nach Kentler, nicht die sexuelle Handlung das Kind, sondern die Tatsache, dass dieses sein Verhältnis zum „Täter“ verschweigen und verbergen muss, „weil es anderen Kindern entfremdet, weil, wenn das Verhältnis entdeckt wird, die Eltern, die Vernehmungsbeamten, Gutachter und Richter in einer Weise reagieren die das Kind schädigen“ (zit. n. ebd., S. 80). Das heißt für ihn: Schädigungen beim Kind „entstehen allenfalls sekundär“ (zit. n. ebd.). Hier hat sich der Sexualpädagoge an Alfred Charles Kinsey, der noch heute als der einflussreichste Sexualforscher des 20. Jahrhunderts gilt, orientiert. Der amerikanische „Dr. Sex“, wie Kinsey genannt wurde, vertrat die „wissenschaftliche Theorie“ „dass die gewaltfreie Annäherung eines Erwachsenen an ein Kind dieses nur verstören könne, wenn es von der herkömmlichen Moral geprägt sei. Erst die hysterischen Reaktionen von Eltern, Polizisten und Richtern nach der Entdeckung eines solchen Falles, so Kinsey, fügen dem Betroffenen nachträglich Schaden zu“ (Heider 2014, S. 283).
5) Das Anfang der 1920er Jahre gegründete „Kinderheim-Laboratorium Internationale Solidarität“, beherbergte Kinder hoch gestellter Persönlichkeiten, darunter auch Stalins Sohn Wassili (vgl. http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=hi&dig=2001%2F09%2F08%2Fa0240&cHash=aecdb1dc44).
6) Zur Biografie von Monika Seifert: Wilma Aden-Grossmann 2014.
7) Dank ergeht an Norbert Ludwig und Helke Sander für die Abdruckgenehmigung der Fotos.
8) Zur Biografie von Helke Sander s: Ute Kätzel 2002; http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/helke-sander/; http://www.ifz-muenchen.de/archiv/ed_0914.pdf.
9) Zur Biografie von Marianne Herzog: Marianne Herzog 1980.
10) Zur Biografie von Dorothea Ridder: Gabrielle Goettle 2009.
11) Nach Sven Reichhardt hatte sich der „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ im Mai 1968 konstituiert (vgl. Reinhardt 2014, S. 729).
12) Die hochschwangere Romanistikstudentin Sigrid Rüdiger schleuderte als Protest eine Tomate auf die „männlichen SDS-Köpfe“, mit ihren als chauvinistisch empfunden maskulinen Gebaren. Diese traf „ausgerechnet den schwulen, mickerigen und sehbehinderten Hans-Jürgen Krahl, den wichtigsten Theoretiker der Frankfurter Linken“ (Heider 2014, S. 96). Die „Tomatenrede“ wird manchen Orts als Auftakt der zweiten Welle der Frauenbewegung in der BRD gesehen (vgl. Schneider 2008, S. 221 u. Maurer 2016, S. 355.), bzw. wie Stefanie Pilzweger resümiert, als „Ursprungsmythos der Frauenbewegung verklärt und verkürzt“ (Pilzweger 2015, S. 21). Des Weiteren gründeten sich, von der „Tomatenrede“ angesprochen, „in sämtlichen Universitätsstädten Frauengruppen (‚Frankfurter Weiberrat‘ u.a.). Frauen, die nicht von der Kinderfrage betroffen waren, organisierten sich um andere Probleme“ (Sander/Wille 2008, Sp. 667). Es entstanden in den folgenden Jahren an zahlreichen Orten Räume speziell für Frauen, u. a. Wohngemeinschaften, Buchläden, Frauencafés- und -betriebe, die Frauenkalender, -zeitschriften, --filme,-bücher und vieles mehr produzierten.
13) Gisela Notz gibt an, dass der Internationale Vietnamkongress die Geburtsstunde der Kinderläden, die sich später in der ganzen Republik ausbreiteten“ (Notz 2009, S. 198) sei.
14) Helke Sander schreibt, dass der Kita-Streik letzten Endes zersplittert und ohne „nennenswertes Pressecho“ verlief. Auch der „Arbeitskreis der Sozialpädagogen“ berichtet vom weniger erfolgreichen Verlauf des Kita-Streiks (vgl. https://shiftingreality.wordpress.com/2014/02/14/). Demgegenüber konstatiert Manfred Kappeler, dass an dem Streik „mehrere Tausend Kindergärtnerinnen“ teilnahmen und er „neben der Heimkampagne die stärkste Manifestation des politischen Aufbruchs in der Sozialen Arbeit und im Erziehungswesen in West-Berlin in den späteren 60er Jahren“ (Kappeler 2016, S. 142 f) war.
15) Zu Biografie von Ute Erb: Wilhelm Kühlmann 2008.
16) Zur Biografie von Ulrike Poppe: Hermann Wentker 2012.
17) Zur Biografie von Uwe Kulisch: https://www.jugendopposition.de/lexikon/personen/148105/uwe-kulisch.
18) Die beiden Kinder auf dem Foto sind längst Erwachsene. Sie erteilten mir die Abdruckgenehmigung ohne Einschwärzung und versicherten, dass sie sich durch die Veröffentlichung in ihren Persönlichkeitsrechten nicht verletzt fühlen.
19) Zur Biografie von Eberhard Schulz: http://www.menschenrechtsanwalt.de/; http://www.focus.de/politik/deutschland/tid-32062/report-jetzt-reden-die-kinder_aid_998699.html.
20) „Dass damals viele so dachten, beweist ein Teilabdruck des Kommune-Buches im 1969 erschienen Kursbuch Nummer 17, der die genannten Passagen enthält. Beigelegt war ein Bilderbogen, auf dem Grischa und Nessim nackt beim Betrachten und Zeigen ihrer Genitalien zu sehen sind. Keiner störte sich damals an den kindlichen Nackedeis, während 41 Jahre später in einem Spielegel-Artikel Gesichter und Teile der Körper unkenntlich gemacht sind, so dass aus den harmlosen Fotos Kinderpornos werden. Ein Abgrund trennt die damalige von der heutigen Einstellung zum Thema Kinder und Sexualität. Einst war es die Hauptsorge moderner Eltern und Erzieher, die Kinder vor psychischen Verkrüppelungen durch Sexualverbote zu bewahren. Heute steht die Angst vor Verletzung oder Traumatisierung durch verantwortungslose Erwachsene, der Pädophilen oder ‚Kinderschänder‘, im Vordergrund“ (Heider 2014, S. 107 f).
21) Vgl.: http://www.focus.de/politik/deutschland/tid-32062/report-jetzt-reden-die-kinder_aid_998699.html.


Literatur


Weblinks

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