Kinderläden und antiautoritäre Erziehung

Modelle einer Gegengesellschaft und veränderten Erziehungskultur

Inhaltsverzeichnis

  1. Vom Gleichschritt zum aufrechten Gang
  2. Keine eigene wissenschaftsmethodisch überzeugende Theorie
  3. Anfänge und Entwicklung in Westdeutschland
  4. Anfänge und Entwicklung in Ostdeutschland
  5. Antiautoritäre Sexualerziehung/-aufklärung
  6. Selbsterziehung der Erwachsenen - Vom Kinderladen zum Elternladen
  7. Anpassung an den Mainstream?
  8. Wegweisende Impulse gesetzt
  9. Neueste wissenschaftliche Studien
  10. Anmerkungen
  11. Literatur

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Wegweisende Impulse gesetzt

Zuerst stellt sich folgende Fragen: Was ist aus den antiautoritär erzogenen („schlimmen“) Kindern geworden? Erfüllte sich die Prophezeiung von Günter Ammon, Psychoanalytikers und Begründer der „Berliner Schule der Dynamischen Psychiatrie“ sowie der „Deutschen Akademie für Psychoanalyse“, der 1969 verkündete, seine jüngsten Patienten mit seelischen Störungen „sind Kinder aus den antiautoritären KinderlädenKinderläden||||| Die Kinderladenbewegung entstand in den 1986 in Frankfurt mit ersten selbstverwalteten Kindergärten, oftmals Elterninitiativen, in denen Kinder verschiedenster Alter  betreuut wurden. Es wurde die Maxime eines antiautoritären Erziehungsstil vertreten, um neue Erfahrungen für Kinder zu ermöglichen, sowie die Ansicht, dass Regeln von "Autoritäten" nicht blind verinnerlicht werden dürften. Dies führte und führt noch heute zu Diskussionen und fälschlichen Verwechslungen mit dem Laissez-Faire Erziehungsstil.   “ (zit. n. Gebhardt 1969, S. 46). Eine von der Psychologin Franziska Henningsen bereits 1973 herausgegebene Untersuchung zeigt auf, dass antiautoritär erzogene Kinder auf keinem Fall der Verwahrlosung anheimfielen, letztlich die negativen Folgen ausblieben, wie so oft befürchtet und prophezeit. Allerdings unterscheiden sich die antiautoritär erzogenen Kinder von den „normal“ erzogenen weit weniger als anfangs „erträumt“. Sie sind, laut Henningsen, spielfähiger, phantasievoller und kooperationsbereiter, sie besitzen „eine größere Bereitschaft zu originellem und triebhaften Ausdruck“, verfügen über eine „gute und sehr gute DispositionDisposition|||||Wörtlich gemeint ist damit sowohl eine Anordnung von Material, als auch die  physische und psychische Verfassung, Anlage, Empfänglichkeit zum Beispiel zum Lernen.  zu einer gesunden Ichentwicklung“, über einen „erhöhten Ideenreichtum“, sowie über eine „hohe Bereitschaft“, in „sozialen Konfliktsituationen kooperative Lösungen anzubieten. Zudem besitzen sie ein „flexibleres Über-Ich“, das ihnen „hohe Phantasietätigkeit“, „triebhaften Ausdruck“ sowie eine „gute Fähigkeit im Erfassen und Verbalisieren sozialer Situationen“, von Kooperationsmöglichkeiten und Konflikten ermöglicht. Sie zeigen aber auch verstärkt „In-group-Verhalten“ sowie eine größere Unselbständigkeit in den praktischen Fragen des Alltags (vgl. Henningsen 1973, S. 158 ff.).

Die Illustrierte „stern“ hat 1981, zwölf Jahre nach dem Artikel über „Kleine Linke mit großen Rechten“, sämtliche Kinder aus der Kinderladen-Reportage besucht und beschrieben. Und siehe da:

„Sie machten Lehren, gingen aufs Gymnasium, arbeiteten in der Schülerzeitung mit, wollten Tierärztin, Stahlbauschlosser oder Architekt werden. Igor Janitzki plante, Musiktherapie zu studieren. Alfa Conradt besuchte das Gymnasium und interessierte sich nur mäßig für Politik... Alfa Conradt hat im November ihr erstes Kind zur Welt gebracht, einen Sohn. Sie wird ihn nicht antiautoritär erziehen... Sie ist Filmemacherin geworden - wie ihr Vater - und hat einen sehr bewegenden Film über den Selbstmord ihrer Mutter gedreht ("Mutterkind"). Ihr nächstes Projekt könnte ein Film über jene Kinder sein, mit denen sie einst im Kinderladen war. Derzeit recherchiert sie, wer wo wie lebt. ‚Das allein ist spannend."‘ Sie leben verstreut in ganz Deutschland, in Doppelhaushälften, Villen oder Mietwohnungen im Wedding. Sie sind Ärzte, Sozialpädagogen, Künstler, Schauspielerinnen, Hausfrauen oder führen das Familienunternehmen in der x-ten Generation weiter. ‚Aus uns ist genau das nicht geworden, was viele vorhergesagt haben‘, sagt Igor Janitzki“ (vgl. hier).

Ohne Zweifel: Die Kinderladenbewegung bzw. antiautoritäre Erziehung veränderten die damals regelhafte Kindergartenpädagogik. Sie hat „ durch Integration bestimmter Elemente antiautoritärer Erziehung einen Teil ihrer historisch bedingten Rückständigkeit aufgeholt und sich pädagogisch legitimiert“ (Hebenstreit 1980, S. 59).Vieles, was damals für Unruhe sorgte, teilweise als Unmöglichkeit und Provokation empfunden wurde, ist heute in den vorschulischen Einrichtungen eine Selbstverständlichkeit: Mitspracherecht der Eltern, Anerkennung der Kinder als eigenständige, selbstregulierende Persönlichkeiten, als Akteure ihrer körperlichen und emotionalen Bedürfnisse, als Personen mit eigenen Rechten sowie Mitbestimmung (Partizipation) der Kinder bei der Gestaltung des pädagogischen Alltags. Eine nicht zu unterschätzende Merite ist „das neue Verständnis der Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen. Die Kinder wurden als prinzipiell gleichberechtigte (nicht gleichartige) Partner gesehen“ (ebd., S. 33). Treffend resümiert Franz-Michael Konrad, dass durch den „freien Umgang mit Zeitstrukturen, der Betonung des sozialen Lernens, der pädagogischen Öffnung der Einrichtung zum gesellschaftlichen Umfeld, einer neuen Erzieherrolle und Ähnlichem mehr die Kinderläden Impulse gesetzt [haben M. B.], die die ganze spätere Kindergartenentwicklung... nachhaltig befruchtet[e]“ (Konrad 2012, S. 190).

Die Akzeptanz der kindlichen Sexualität setzte viel „revolutionären Schwung“ und Hoffnung in Gang und zwang die Vorschuleinrichtungen zu Reformen. Für Meike Sophie Baader ist die größte Errungenschaft der „68er-Bewegung“ die Anerkennung einer eigenen kindlichen Sexualität, trotz all seiner Vielschichtigkeit:
„Was jedoch alle Ansätze einigt, ist eine Enthierarchisierung des Verhältnisses von Erwachsenen und Kindern und die Sicht auf Kinder als Personen mit eigenen Bedürfnissen. Dazu gehört auch die Anerkennung einer eigenen kindlichen Sexualität. Dies dürfte als größte Hinterlassenschaft der Erziehungskonzepte von ‚1968‘ bezeichnet werden“ (Baader 2008a, S. 75).

Dass hinsichtlich der hohen Bedeutung, die man der kindlichen Sexualität einräumte, nicht deutlich genug zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität unterschieden wurde, die in den Kinderläden, aber auch in Wohngemeinschaften – wie etwa in der „Kommune 2“ - zu beobachten war, ist, wie der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik und die Professorin für Allgemeine Pädagogik Meike Sophia Baader konstatieren, „einer der theoretischen Irrtümer dieser Pädagogik“ (vgl. hier).

Christin Sager bezeichnet die in der antiautoritären Erziehung erfolgte aktive Förderung der kindlichen Lustfähigkeit als „historischen Sonderweg“:

„Mit der Reinszenierung der kindlichen Unschuld ist das Prinzip der sexuellen Lust des Kindes der Abschreckung von der dunklen Seite der Sexualität gewichen. Kinder sollen nicht primär befähigt werden, ihre Wünsche zu äußern, sondern sich zunächst einmal vor sexuellen Übergriffen schützen, indem sie einstweilen nicht lernen, ‚JA‘ zu sagen, sondern ‚NEIN‘“ (Sager 2008, S. 68).

Jedenfalls bescherte die Akzeptanz der frühkindlichen Sexualität eine wahre Flut diverser Veröffentlichungen, die hier nicht alle genannt werden können (z. B.: Bonnekamp 1987, Furian 1978, Gebhardt 1976; Krug/Seehausen 1978, Janzing 1976). Doch kam die Liberalisierung auch in der Kindergartenpraxis an? Oder haben letztlich, wie der Sexualwissenschaftler Norbert Kluge es formuliert, die „Extremformen ideologisch-politischer Sexualerziehung, praktiziert in den Kinderläden und Kommunen, die für die Kleinkindererziehung verantwortlichen verschreckt und zu mannigfachen Vorurteilen geführt?“ (Kluge 1978, S. 83). Möglichenfalls Ja! Zumindest scheint hinsichtlich der Sexualerziehung in den Kindergärten nicht viel Bewegung gekommen zu sein, wie eine Befragung von Kindergärtnerinnen im Frühjahr 1986 zu belegen scheint (vgl. Berger 1988, S. 45 ff). Dafür ein Beleg: Im Jahre 1981 veröffentlichte Helga Wichert in der renommierten Fachzeitschrift „Welt des Kindes“ einen Beitrag mit dem Titel „Mein Körper – dein Körper“. Darin beschreibt die Autorin einige Situationen aus ihrem Kindergartenalltag in Frankfurt, u.a. dass die Kinder nackt herumtollen, sich zum Schmusen und Kuscheln in eine Ecke zurückziehen, ihren nackten Körper mit Kleisterfarbe bemalen oder ihre Vorstellungen von Geburt ausspielen. Eine Flut von empörten Leserbriefen überrollte die Schriftleitung, die sich daraufhin genötigt sah, die Frage nach der „christlichen Toleranz“ zu stellen:

„Wir waren erstaunt bis erschüttert, als wir die Leserbriefe durchgingen... In einer Zeit, in der Tausende von kirchlichen Mitarbeitern in den kirchlichen Fortbildungseinrichtungen in eigens angebotenen Kursen über Erfahrung und Selbsterfahrung, Eutonie, verbale und nonverbale Kommunikation und vieles andere mehr versuchen, sich ihrer Berührungsängste und Verklemmungen, Verknotungen und Verkrampfungen bewußt zu werden und mit Hilfe der Gruppe zu mindern, in einer solchen Zeit wird der Bericht einer kirchlich engagierten Leiterin eines Kindergartens auf eine Weise in den Dreck gezogen, daß uns das Schamgefühl verbietet, solche Hetzschreiben zu veröffentlichen. Oder finden Sie, liebe Leserin oder Leser es angemessen, von einem ‚Saustall’, ‚Verführung zur Unzucht‘, ‚Kleinkindersexladen‘, ‚Schweinerein der kleinen Nackedeis‘ ‚Gehirnwäsche‘ u.a. zu sprechen und die Leiterin als ‚Wildsau‘ zu bezeichnen, um diesen Bericht zu charakterisieren? Sind Ihrer Meinung nach Unterstellungen, Verdrehungen und Verdächtigungen oder persönliche Verunglimpfung und Beleidigungen christliche Formen des Umgangs miteinander?“ (Liegele 1981, S. 228).

Nochmals: die „antiautoritäre Kinderladenerziehung der [1900; M. B.]sechziger / siebziger Jahre hat, trotz vieler Mängel und Fehler, die Vorschuldiskussion in der Bundesrepublik belebt, wichtige Denkanstöße gegeben und produktiv provoziert“ (Tiemann 1978, S. 22). Vermutlich wäre mancher Träger und auch manche/r Ezieher/in erstaunt, „würde man ihnen sagen, dass auf der Grundlage des Situationsansatzes heute in öffentlichen, kirchlichen oder sonst wie verbandlich organisierten Kindergärten wesentliche inhaltliche Prinzipien der Kinderladenbewegung realisiert werden“ (Iseler 2010, S. 32). Was verbindet die antiautoritäre Erziehung und den Situationsansatz? Die Frage beantwortet Karen Silvester in ihrer Dissertation folgendermaßen:

„In den Eltern-Kind-Initiativen der 80er Jahre wurde die antiautoritäre Praxis, die sich während der 70er Jahre rudimentär erhalten hatte, endgültig vom Situationsansatz abgelöst, der sich in den 70er Jahren parallel zur Kinderladen-Pädagogik entwickelte hatte... So wurde der Situationsansatz spätestens in den 80er Jahren zum Charakteristikum der Eltern-Kind-Initiativen und zeichnete sich durch folgende Standards aus...: Soziales Lernen wurde stärker betont als sachbezogenes. Lernen fand überwiegend in altersgemischten Gruppen und in einer natürlichen Umwelt statt. Die Kinder sollten lernen, sich in Alltagssituationen zurecht zu finden. Deshalb wurden sie in die Planung der Aktivitäten maßgeblich einbezogen. Die Räume von Eltern-Kind-Initiativen waren auf die Eigeninitiative der Kinder ausgerichtet und sollten Lust auf Ausprobieren und Spielen machten. Insgesamt war der der Kindergarten-Alltag weniger einem festen Rhythmus als einer situationsabhängigen Routine unterworfen“ (Silvester 2000, S.35 f).

In den aktuellen Diskussionen um frühpädagogische Konzepte wird die Öffnung der Kitas, wie die Kindergärten heute neudeutsch heißen, gefordert. Die Kinderläden verstanden sich, wie Reinhart Wolff, seinerzeit einer der prominentesten Kinderladenverfechter, resümiert, als offener sozialer Ort. Demzufolge beginnt mit ihnen konzeptionell „die Öffnung moderner Kita-Pädagogik. Die Öffnung der Kindertageserziehung in die Nachbarschaft hinein hat mit den Kinderläden angefangen. Die Türen waren offen. Die Kinder waren auf der Straße, auch wenn das nicht immer ganz ungefährlich war. Man kann die Öffnung aber auch weiter auf die Gemeinde und die Stadt beziehen... so sind die ersten Kinderläden in die so viele Anregungen bergende Stadt gegangen und ich erinnere noch gut den Aufstand, den es bei den ‚Berliner Wasserwerken‘ gab, als wir mit einer Gruppe 3- und 4-jähriger Kinder ein Wasserwerk besichtigen wollten. Das sei viel zu gefährlich, heiß es, was sich natürlich nicht bestätigte. Wir sind aber auch in den öffentlichen Verkehr hinein gegangen und nicht zuletzt in die Arbeitswelt... Jürgen Zimmer und seine Mitarbeiterinnen im ‚Deutschen Jugendinstitut‘ haben dazu weitere Erkundungsprojekte erfunden. Das liegt alles in schönen Handbüchern vor“ (Wolff 2016, S. 110).

Reinhart Wolffs Behauptung, dass mit den Kinderläden die Öffnung der Kindergartenerziehung anfing, ist historisch gesehen nicht korrekt. Beispielsweise hatte schon Ende der 1950er / Anfang der 1960er Jahre, als die nach 1945 restaurierte alte, stark erwachsenenzentrierte Kindergartenpädagogik noch den Alltag in den vorschulischen Einrichtungen dominierte, die sich heute nennende „Schörlpädagogik“ auf die Relevanz der Öffnung der Kindergartenerziehung hingewiesen. Demnach ist eine wesentliche Aufgabe der Kindergärtnerin gewisse Bildungsanlässe zu schaffen, bspw. durch „Ausgänge“ mit den Kindern ins Freie oder in die Gemeinde/Stadt hinein (vgl. Schörl/Schmaus 1964, S. 149). Diese seien „der notwendige Unterbau für fast jede andere Bildungsarbeit des Kindergartens... Daraus sollte jeder Kindergärtnerin klar werden, wie notwendig es ist, die Kinder aus dem Kindergarten hinauszuführen, um sie etwas sehen und hören zu lassen... Aber außer den Beobachtungsgängen in die Natur sollte man oft auch solche zu Baustellen aller Art unternehmen, zu Haus-, Straßen-, Kabel-, Kanal-und ähnlichen Bauten“ (Schmaus 1958, S. 13 ff.). Hinzu kommen Visitationen einer Autowerkstatt, einer Bäckerei, Glaserei, Gärtnerei u.dgl.m. (ebd., S. 15 f).


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