Kinderläden und antiautoritäre Erziehung

Modelle einer Gegengesellschaft und veränderten Erziehungskultur

Inhaltsverzeichnis

  1. Vom Gleichschritt zum aufrechten Gang
  2. Keine eigene wissenschaftsmethodisch überzeugende Theorie
  3. Anfänge und Entwicklung in Westdeutschland
  4. Anfänge und Entwicklung in Ostdeutschland
  5. Antiautoritäre Sexualerziehung/-aufklärung
  6. Selbsterziehung der Erwachsenen - Vom Kinderladen zum Elternladen
  7. Anpassung an den Mainstream?
  8. Wegweisende Impulse gesetzt
  9. Neueste wissenschaftliche Studien
  10. Anmerkungen
  11. Literatur

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Anpassung an den Mainstream?

2001 hatte Alice Schwarzer auf die angebliche Affinität von Daniel Cohn-Bendit, Odenwaldschüler und später Kinderladenbetreuer in einer Kita der Frankfurter Universität, zu dessen Pädophilie hingewiesen (vgl. Heider 2014, S. 304 ff.). Genannter schrieb unverblümt in seinen frühen Erinnerungen unter dem Titel „Der große Basar“, dass er sich mehrmals von Kleinkindern am Hosenlatz streicheln ließ:

„Es ist mir mehrmals passiert, daß einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln. Ich habe je nach den Umständen unterschiedlich reagiert, aber ihr Wunsch stellte mich vor Probleme: Ich habe sie gefragt: ‚Warum spielt ihr nicht untereinander, warum habt ihr mich ausgewählt und nicht andere Kinder?‘ Aber wenn sie darauf bestanden, habe ich sie dennoch gestreichelt“ (Cohn-Bendit 1975, S. 143).

Wie sich später herausstellte, war dies angeblich eine frei erfundene Szene, die Cohn-Bendit nur deshalb in Umlauf brachte, „um sich im Stile des haltlosen Provokateurs gegen die spießige Sexualfeindlichkeit in Szene zu setzen“ (Reichardt 2014, S. 765). Jedoch in einem weitgehend unbeachteten Auftritt im französischen Fernsehen vom 23. April 1982, äußerte der Grünen-Politiker über seine pädagogische Tätigkeit im Kinderladen:

"Um neun Uhr morgens gehe ich hin zu meinen acht kleinen Knirpsen zwischen 16 Monaten und 2 Jahren. Ich wasche ihnen den Popo ab, ich kitzle sie, sie kitzeln mich, wir schmusen... Wissen Sie, die Sexualität eines Kindes ist etwas Phantastisches. Man muss aufrichtig sein, seriös. Bei den ganz Kleinen ist es etwas anderes, aber bei den Vier- bis Sechsjährigen: Wenn ein kleines fünfjähriges Mädchen beginnt, Sie auszuziehen, es ist großartig, weil es ein Spiel ist. Es ist ein wahnsinnig erotisches Spiel" (vgl. hier).

Anderen Ort antwortete Cohn-Bendit auf die Frage, ob es damals zu unzüchtigen Handlungen seinerseits mit Kindern kam:

„Nein, Nein. Das hat auch nie jemand behauptet. Weder Eltern noch Kinder. Im Gegenteil. Beim großen Fest zu meinem 68. Geburtstag kamen Kinder aus dem Kinderladen von damals, mittlerweile 40 Jahre alt. Sie waren alle entsetzt über die Diffamierungen“ (vgl. hier).

Hier stellen sich abschließend zwei Fragen: Sind letztlich die aufgezeichneten, teilweise äußerst skandalösen Beispiele über die kindliche Sexualität in den Kinderläden nicht auch dem damaligen Mainstream (siehe Anmerkung 20) geschuldet? Wurden Kinder in den antiautoritären Einrichtungen von ihren BetreuerInnen sexuell missbraucht? (21)

Zur ersten Frage: In „Bilder und Texte vom Kinderhaus Neuenheim in Heidelberg“ ist ein Interview mit ehemaligen Kinderhauskindern abgedruckt, die inzwischen verschiedene Schulen besuchten. Das Interview wurde von einem Kinderhauserzieher und einer -erzieherin, Christian (26 Jahre) und Anette (26 Jahre), am 15. Dezember 1979 mit Felix, Marlene, Mai und Dan, durchgeführt. Daraus eine kurze Sequenz der subtilen Fragerei:

“C[ristian]: Und wie ist eure Lehrerin, Mai?
F[elix]: Unsere ist ganz nett, so - Spitze! Wow-wow-wow
C: Was ist denn mit der, kann man mit der gut schmusen?
Alle: Nee! (Gelächter)
C: Was ist den gut bei der?
F (zu Marlene): Unsere – gelt – die ist sexy!
A[nette], C.: Was heißt das? (Großes Gelächter)
A: Woran merkt man das?
F: Oh, was meinst du, wie die ankommt, in Unterhose... (Gelächter)
Ma[rlene]: Frau Schmitt kommt nicht in Unterhose an!
F: Aber mit nackigem Busen. Da gucken die Schwabbel raus.
...
C: Was macht ihr, wenn jemand verknallt ist?
D[an] Phhh... Dann ist sie halt verknallt, ist mir doch egal. Die anderen, wenn die mitkriegen, daß einer verknallt ist, die erzählen das dann gleich der halben Klasse.
F: Und dann steht man dumm da. Da lachen die einen alle aus. Dann sagen die das immer weiter, dann geht das von der ersten Klasse bis zur letzten. Weißt du, die sagen dann: ‚Du fickst sie ab.‘
M[ai]: Was ist denn ficken?
F: Vögeln“ (zit. n. Billa/Jansen/Jutzi 1980, S. 115 ff.).

Als Felix fast ein Jahr später den von seinen ehemaligen Kinderhausbetreuern verfassten Bericht zu Gesicht bekam, war er von den vorgenommenen Veränderungen mehr als überrascht. Seine Mutter brachte des Jungen Aussagen zu Papier:
kinderladen7Dokument archiviert im Ida-Seele-Archiv

Ist dieses Dokument ein Beweis dafür, dass die Interviewer ihren Bericht bewusst den antiautoritären Mainstream anpassten, eine erwartete pädagogische Gesinnung transportierten, die das eigene Weltbild bestätigen sollten?

Zur zweiten Frage. Diese wird von den renommierten Erziehungswissenschaftlern Micha Brumlik und Meike Sophie Bader kurz und bündig wie folgt beantwortet: „Bislang [d. h. 2008; M. B.] gibt es keine Zeugen für Missbrauch in den Kinderläden“ (http://www.taz.de/!482654). Bisher konnte auch Verfasser vorliegenden Beitrags keine Äußerungen von ehemaligen Kinderladenkinder finden, die über sexuellen Missbrauch berichten. Die meisten Kinderladenerinnerungen gehen in folgende Richtung: Der 15-jährige Oliver C. sagt über seine Kinderladenerfahrungen in einem Filminterview: „‚Der Kinderladen hat meine Entwicklung beeinflusst‘, vor allem habe er dazu beigetragen ein ‚Gemeinschaftsgefühl‘ auszuprägen und dafür sensibel zu werden ‚was läuft in der Welt‘“ (zit. n. Schäfer 2015, S. 379). Und die Jugendliche Nina äußert in einem Gespräch: „Antiautoritär heißt ja nicht, Kinder völlig verwildern zu lassen. Es heißt ja nicht, daß sie alles machen können, was sie wollen, nämlich Laisser-faire. Die Grenzen kannten wir, ganz klar, Strafen dagegen nicht“ (zit. n. ebd.).


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