Hedi Friedrich

Über Offenes Arbeiten und Arbeiten in Regelgruppen

Welches Konzept entspricht den Bedürfnissen unserer Kita-Kinder und kann vom Team authentisch gestaltet werden? Diese zentrale Frage beschäftigt Entscheidungsträger ebenso wie Kita-Teams. Auch Eltern stehen dem einen oder anderen Konzept kritisch gegenüber. In diesem Interview sprechen wir mit der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Hedi Friedrich über entwicklungspsychologische Aspekte, die es bei der Konzept-Ausrichtung zu beachten gilt.

Ein Interview von klein&groß mit Hedi Friedrich

Die pädagogische Arbeit von Erzieherinnen, egal ob in Regelgruppen oder in der Offenen Arbeit muss sich an den Grundbedürfnissen der Kinder orientieren und dazu gehört zuallererst ihr Beziehungs- und Bindungsbedürfnis. Positive Beziehungserfahrungen haben sowohl eine große Bedeutung für ihre emotionale, soziale, geistige und kreative Entwicklung, als auch für ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden. So brauchen Kinder im Alter von 0 bis 6 Jahren auf jeden Fall Menschen, bei denen sie sich geliebt und geachtet, versorgt und geschützt fühlen können, um gesund zu wachsen. Auch wenn die Mutter nach wie vor als erste wichtigste Bezugsperson angesehen wird, so kann ein Kind auch zu den anderen Menschen z. B. zu seinen Erzieherinnen in einer Einrichtung eine tragfähige Bindung aufbauen, wenn diese sich entsprechend wie oben beschrieben verhalten.


Die Art und Weise, wie Kinder hier Beziehung erleben, bestimmt ihr Bild von sich und der Welt wesentlich und ist Grundlage für alle späteren Erfahrungen. Erleben sie bei ihren wichtigsten Bezugspersonen – und dazu zählen eben auch die Erzieherinnen – anhaltende, verlässliche emotionale Beziehung, gewinnen sie die nötige Sicherheit neugierig und aktiv ihre Welt zu erkunden, zu erfahren und lernend zu begreifen. So können sie auf der Basis einer sicheren Bindung Urvertrauen und ein positives Bild von sich und anderen Menschen entwickeln (Ainsworth 2003, Grossmann/Grossmann, 2015). Gerade diese Sicherheit in Beziehungen ist Voraussetzung dafür, dass kleine Kinder die vielen neuen Eindrücke überhaupt aufnehmen und verarbeiten können, sagt die Hirnforschung (Hüther 2007). Kinder kommen mit ihren jeweiligen bisherigen Lebens- bzw. Beziehungserfahrungen in die Vorschuleinrichtungen und nehmen auf ihre ganz persönliche Art Kontakt und Beziehung mit den Erzieherinnen auf. Eine gute Erzieher-Kind-Beziehung, so wurde in Untersuchungen der ResilienzResilienz|||||Resilienz kann als "seelische Widerstandsfähigkeit" verstanden werden mit der Fähigkeit Krisen zu meistern und diese als Anlass für Selbstentwicklungen zu nutzen. In der Resilienzförderung geht es speziell darum die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende Faktoren zu entwicklen, zu ermutigen und zu stärken. Ein verwandter Begriff ist der der Salutogenese. forschung (Wustmann 2004, Opp/Fingerle 2007) festgestellt, kann Kindern tiefgreifende neue Erfahrungen ermöglichen. Das Erleben von Einfühlsamkeit, „Den Kindern Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen!“

Verlässlichkeit und Unterstützung schafft für diese Kinder eine Basis, auf der sie sogar Entwicklungsdefizite durch Probleme im Elternhaus z. B. bedingt durch Arbeitslosigkeit, Berufsstress oder Erkrankung der Eltern, soziale Isolation durch materielle Not oder Reizüberflutung ausgleichen und sich stabilisieren können. Sie ist eine wunderbare Voraussetzung dafür, dass Kinder eine Chance erhalten, diejenigen Fähigkeiten zu entwickeln, die sie u. a. für das Zusammenleben mit anderen und für erfolgreiches Lernen in der Schule brauchen (Pianta et al. 2007).

So weisen die Ergebnisse unterschiedlicher Forschungsrichtungen wie der Bindungsforschung, der Hirnforschung, der Resilienzforschung alle gemeinsam darauf hin: die Art und Tiefe der persönlichen Beziehungen und Bindungen zu den wichtigsten Bezugspersonen beeinflusst die gesamte Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit. Sie ist Vorbild dafür, wie das Zusammenleben mit anderen Kindern und Erwachsenen gelingen kann. Wenn die Kinder sich ausreichend sicher und geborgen fühlen, weil sie einen helfenden und beschützenden Erwachsenen hinter sich wissen, dann können sie sich leichter auf das Abenteuer der Begegnung mit anderen Kindern einlassen. Außerdem beeinflussen die Beziehungserfahrungen auch den Umgang mit Dingen, das Verhältnis zu Natur und Tieren, sowie die Fähigkeit, kleinere und größere Alltagsprobleme lösen und bewältigen zu können, d. h. mit den unterschiedlichsten Lebensereignissen zurechtzukommen. Kinder dabei zu unterstützen, dass sie spielend ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten üben können und dabei lernen, sich in ihrem täglichen Leben zurechtzufinden, ist Bildungsarbeit in ihrer besten Form. So haben sie die Chance, Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen zu entwickeln als tragfähige Basis für alle weiteren Lernerfahrungen.



Das kann man nicht pauschalisieren. Es kommt immer darauf an, wie die jeweiligen Konzepte in der Praxis umgesetzt werden, sodass eben die Grundbedürfnisse von Kindern versorgt werden, nach Kontakt (gestreichelt, gehalten- und getröstet werden), nach Schutz vor Gefahren und Reizüberflutung, nach Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Anerkennung, sowie nach Anregung, Spielmöglichkeiten und altersentsprechender Förderung ihrer Fähigkeiten angemessen erfüllen.


Es gibt ja eine Anzahl ganz unterschiedlicher Formen des Offenen Arbeitens in der Praxis: Manche behalten eine Nest- oder Stammgruppe bei und öffnen die Räume nur tage- oder stundenweise oder nur für gruppenübergreifende Angebote, um nur einige davon zu nennen. Grundsätzlich ist die Idee dieses Offenen Konzeptes für Kinder positiv zu sehen. Denn die Hirnforschung stellt ja fest, dass schon bei ganz kleinen Kindern die Entwicklung des Gehirns die „lebendige Interaktion“ sowohl mit anderen Menschen als auch mit der Umgebung braucht. Dabei wird jede Erfahrung im Gehirn gespeichert und die so entstandenen Muster beeinflussen die Wahrnehmung, Bewertung und Einordnung aller weiteren Erfahrungen (Hüther 2007). Dem Bedürfnis nach selbstständigem neugierigem Erkunden der Umgebung und Eigenintiative im Spielen, sowie dem Bewegungsbedürfnis kommt das offene Konzept entgegen mit seinem Vertrauen darin, dass Kinder von sich aus herausfinden, was sie für ihre persönliche Entwicklung brauchen. Die Herausforderungen bei dem Offenen Arbeiten liegen darin, die notwendigen räumlichen und personellen Voraussetzungen zu schaffen, die die Grundbedürfnisse der Kinder achten und nicht verletzen. Fühlen Kinder sich alleine gelassen und missverstanden, kann es für sie schnell bedrohlich werden. Noch zu klein, um Eindrücke und Gefühle steuern zu können, bedeutet dies, überwältigt werden von Angst, Schmerz und Verunsicherung. Stresshormone, die ausgeschüttet werden, bewirken Unruhe und Aufregung und blockieren die erfolgreiche Verarbeitung der Eindrücke im Gehirn. Im Zweifelsfall kann dies zu Rückschritten in der Entwicklung führen.

Sowohl bei Regelgruppen als auch beim Offenen Arbeiten, erfordert die Arbeit mit Kindern sehr viel Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Engagement zur Pflege der Beziehung. Oft wird dieser zentrale Aspekt im Alltag als völlig selbstverständlich übersehen und gemessen an der Bedeutung für die gesamte Entwicklung von Kindern häufig bei allen Konzepten noch zu wenig beachtet. Wie sehr die Notwendigkeit von Beziehungserfahrungen in der Sozialisation unterschätzt wird, zeigt sich vor allem darin, wie die äußeren Arbeitsbedingungen der Erzieherinnen unabhängig vom pädagogischen Konzept von den verantwortlichen Trägern unterstützt und gestaltet werden, sodass sie ihren Aufgaben als Bezugspersonen überhaupt gerecht werden können: z. B. ausreichende und angemessene Ausstattung für Kinder und ansprechende Räumlichkeiten, was vor allem auch beim Offenen Konzept mit Neigungs- und Funktionsräumen kindgerechte Investitionen braucht.

Es reicht z. B. nicht nur die Einführung des Offenen Arbeitens, es braucht auch klare Absprachen über Verantwortlichkeiten und Zeit für den Austausch von Beobachtungen zwischen den Erzieherinnen, sowie feste Bezugspersonen, d. h. nicht zu viel Fluktuation oder Teilzeitkräfte im Wechsel.


Eine verlässliche Alltagsstruktur hilft Kindern, damit sie nicht durch ständige Wechsel verunsichert werden und sich vertraut und sicher mit Abläufen und Räumen fühlen können. Die Arbeit im Offenen Konzept erfordert Achtsamkeit auf jedes Kind, damit es in seinem persönlichen Tempo Selbstständigkeit entwickeln kann und nicht schon früh überfordert wird, was negative Folgen wie Unsicherheit, Ängste, Stresserleben und mangelndem Selbstvertrauen mit sich bringen kann. Viele dieser Aspekte gelten natürlich auch für die herkömmlichen Regelgruppen, sind aber besonders empfindliche Momente im Offenen Konzept, damit nicht einzelne Kinder untergehen.


Werden die bisher genannten Problemaspekte berücksichtigt, kann das Offene Arbeiten eine Bereicherung für Kinder sein, indem sie mehr Auswahl für Kontakte haben, d. h. auch mit größeren oder kleineren Kindern spielen können, von den einen lernen und den anderen Vorbild sein können oder sogar als Größere helfen können. Eine größere Auswahl an Spielaktivitäten und Entdeckungsmöglichkeiten, je nach Fähigkeiten und Interessen, ermöglicht Kindern, sich erfolgreich selbstwirksam und selbstständig zu erleben, was ihr Selbstvertrauen und die Zuversicht in ihr Handeln und ihr Problemlösevermögen sehr fördern kann.

Eigentlich muss jede Einrichtung, jedes Team nach seinen Möglichkeiten für sich flexibel herausfinden, welches Konzept für ihre Ausstattung und ihr Klientel passend ist, um den Kindern die notwendigen Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen – und dabei gibt es wie bereits erwähnt eine Vielzahl von Formen, vor allem im weiten Bereich der Teiloffenen Konzepte. Es reicht dabei nicht, dass Träger oder Leitung ein Konzept bevorzugen, sondern es müssen auch die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden: konzeptentsprechende Fortbildung, begleitende Supervision für die pädagogischen Mitarbeiter, Vorbereitungs- und Besprechungszeiten im Team, um sich über Beobachtungen zu Kindern auszutauschen und Elterngespräche vorzubereiten.

Wenn die qualitativen Strukturen nicht gut entwickelt sind, kann ein Offenes Konzept zu Unzufriedenheit bei den Erzieherinnen und gegebenenfalls auch den Eltern führen. Wenn die Voraussetzungen nicht stimmen und die Beziehungsqualität zu den Kindern leidet, kann es durch Überforderung zu einer Beeinträchtigung einer guten Entwicklung bei den Kindern führen.


FEin gutes Konzept sollte sich vor allem immer an den kindlichen Bedürfnissen orientieren, sie wahrnehmen und unterstützen. Erleben Kinder verlässliche Beziehungen so können sie unbelastet all diejenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln, die sie brauchen, um sich in der Welt zurechtzufinden. Dabei gibt es kein Patentkonzept, sondern viele Möglichkeiten und Chancen, sich zusammen mit den Kindern zu entwickeln.

Vielen Dank für das gute Gespräch! (Gesprächsführung: Sibylle Münnich, Redaktion klein&groß)


Übernahme mit freundlicher Genehmigung aus klein&groß 10-2016, S. 7-10



Tipps zum Weiterlesen:


Anregungen zur Reflexion / Auseinandersetzung mit dem Offenen Konzept (Download)

Über Offenes Arbeiten und Arbeiten in Regelgruppen


Offene Arbeit - ein inklusives und partizipatives Konzept

Offener Kindergarten als kindzentrierter Pädagogischer Ansatz




Literatur


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