Prof. Dr. Petra Focks

Geschlechterbewusste Pädagogik in der Kindheit

Warum wird das durch die Räume tobende Kind für einen Jungen gehalten? Warum statten Eltern ihre Kinder häufig geschlechtstypisch mit Kleidung, Spielwaren und anderem aus? Warum zeigen Kinder gerade im Kindergartenalter ein sehr geschlechtstypisches Verhalten? Warum gibt es nach wie vor weniger Frauen in Führungspositionen warum so wenige Männer als Erzieher in Kitas?

Geschlecht ist verwoben in alle Lebensbereiche

Wir finden Geschlechtersymbole und Geschlechterstereotype überall vor. Sie sind in gesellschaftliche Strukturen und in Organisationen eingeschrieben und sie beeinflussen die Geschlechtsidentitätsentwicklung von Kindern maßgeblich. Wenngleich viele Eltern ihre Kinder heutzutage nicht geschlechtstypisch erziehen und pädagogische Fachkräfte Kinder gleich behandeln wollen, zeigen Studien, dass sie sich vielfach in ihrem Erziehungsverhalten an tradierten Geschlechterbildern orientieren (vg. u.a. Faulstich-Wieland 2010; Hunger & Zimmer 2012; Ducret & Nanjoud 2012; Hunger 2014). Wie ist dies zu erklären?
Alle Menschen, die in dieser Kultur aufgewachsen sind und leben, sind beeinflusst und geprägt von den allgegenwärtigen Symbolen, Strukturen und Identitätskonstruktionen von Geschlecht. Wie die Gesellschaft aufgebaut und strukturiert ist, Verhaltensweisen, Gefühlsäußerungen, Spielmaterial und vieles mehr ist „vergeschlechtlicht“. Wir sind unausweichlich damit konfrontiert und zwar in allen Lebensbereichen. Wenn wir uns nicht bewusst und reflektiert damit auseinandersetzen, reproduzieren wir meist die vorherrschenden Geschlechterverhältnisse, ob wir wollen oder nicht.

Dies führt jedoch häufig zu einer Einschränkung der Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern auf das, was jeweils als „weiblich“ oder als „männlich“ gilt und behindert individuelle Bildungsprozesse in der frühen Kindheit. Außerdem führen die herrschenden Geschlechterverhältnisse immer wieder zur Ausgrenzung von Kindern, die den geschlechtstypischen Vorgaben nicht entsprechen. Und Kinder, die geschlechtlich nicht einfach nur als entweder "weiblich" oder "männlich" verortet sind, stehen vor außerordentlichen Herausforderungen, ihren Platz in einer zweigeschlechtlich strukturierten Gesellschaft zu finden. Die vorherrschende Geschlechterkonstruktion birgt außerdem soziale Ungleichheiten wie beispielsweise die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern und die Abwertung pädagogischer Berufe.

Daher hat sich immer mehr die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir bereits im Elementarbereich eine geschlechterbewusste Pädagogik brauchen. Denn in dieser Zeit werden wesentliche Impulse gesetzt für den Erwerb der geschlechtlichen Identitäten. Hier werden die Weichen dafür gestellt, ob Kinder ihre Geschlechtsidentitäten auf eine Weise ausgestalten können, die ihren individuellen Fähigkeiten und Interessen entsprechen. Denn Kinder setzen sich aktiv mit der sie umgebenden Umwelt und damit auch mit den Geschlechterverhältnissen auseinander. Kinder experimentieren gerade im Kindergartenalter mit den Präsentationsweisen von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ in unserer Kultur und setzen diese zu sich selbst in Beziehung. Daher ist es notwendig, Kinder bei dieser Erprobung und Inszenierung kritisch zu begleiten.



Risiken einer geschlechtstypischen Erziehung und Bildung

Wenn Kinder nicht darin bestärkt werden, ihr So-Sein auszuleben, wie es ihnen entspricht, wenn ihnen keine Spielräume in der Identitätsentwicklung ermöglicht und keine Alternativen zu herkömmlichen Geschlechtersymbolik geboten werden, orientieren sie sich häufig an den traditionellen Geschlechterkonstruktionen. Dies führt zu Einschränkungen der Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und wirkt sich negativ auf die Entwicklung aus.

Wenn Kinder in einigen Bereichen weniger und in anderen mehr gefördert werden, weil beispielsweise Lesen als weiblich und Mathematik als männlich gilt, können sie in den entsprechenden Bereichen weniger ihre Fähigkeiten entwickeln.

Auch überschätzen manche Kinder ihre körperlichen Möglichkeiten und riskieren häufig nicht nur Schrammen, sondern sogar Verletzungen bei sich und anderen, um dem vorherrschenden Männlichkeitskonstrukt vom „starken Jungen“ zu genügen. Kinder lernen dadurch, dass Angst, Hilflosigkeit und Schwäche „nicht zu Jungen gehören“. Dies kann dazu führen, dass sie diese Gefühle für sich ablehnen.

Wenn Kinder ihre Bedürfnisse nach Aktivität oder raumgreifendem Verhalten nicht ausleben, weil „Mädchen eben nicht so sind“, werden ihre Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt. Sie lernen mehr sich anzupassen als sich selbst zu behaupten. Auch andere Aspekte des gegenwärtig herrschenden Weiblichkeitskonstruktes können sich negativ auf die Entwicklung von Kindern auswirken: wenn Kinder sich beispielsweise bereits im Kindergartenalter mit Schlankheitsidealen und Diäten beschäftigen, besteht die Gefahr, dass sie ein gestörtes Essverhalten entwickeln.

Diese und andere geschlechtstypische soziale Praktiken versprechen Anerkennung in der Gleichaltrigengruppe und werden – ungewollt – vielfach von Erwachsenen unterstützt.

Viele Kinder neigen glücklicherweise dazu vorgegebene Geschlechterkonstruktionen zu überschreiten, wenn sie merken, dass diese nicht ihren Interessen und Bedürfnissen entsprechen.
Grundlage einer geschlechterbewussten Pädagogik ist es daher Kinder – unabhängig von Geschlechterstereotypen – in ihrer Individualität zu fördern und geschlechtstypische (ungesunde und einschränkende) soziale Praktiken bei den Kindern aufzudecken und diese Prozesse des „doing gender“ kritisch zu begleiten.



Ebenen einer geschlechterbewussten Pädagogik

Dabei ist der Einfluss der Geschlechterkonstrukte oft nicht leicht zu durchschauen, weil sie auf unterschiedlichen Ebenen wirken, die miteinander verknüpft sind und einander wechselseitig durchdringen. Veränderungsansätze und pädagogische Konzepte wirken daher wenig nachhaltig, wenn sie nur auf einzelnen Ebenen ansetzen. Die Wirkmächtigkeit der herrschenden Geschlechterverhältnisse ist nur zu verstehen (Analyseebene) und zu beeinflussen (Veränderungsebene), wenn wir verschiedene Ebenen zugleich beachten.
Es sind vor allem drei Ebenen, die hier eine wesentliche Rolle spielen. Neben der “Geschlechtersymbolik“ (für Kinder über Symbole zu Männlichkeit und Weiblichkeit und Geschlechterstereotype erlebbar) und dem „Geschlecht als Strukturprinzip“ (für Kinder vor allem über die Arbeitsteilung der Geschlechter und ein Modellernen erlebbar) sind hier als dritte Ebene die individuellen Geschlechtsidentitätskonstruktionen und die Prozesse des „doing gender“ zu nennen (also wie Menschen jeweils „Männlichkeiten“ und „Weiblichkeiten“ im Alltag aktiv herstellen) (vgl. Reimann 2002, S.9; Focks 2002, S.12-28).

Grafik focks
Ebenen des Geschlechter-Dreiecks


















Geschlecht weder banalisieren noch dramatisieren

Geschlecht ist jedoch nur ein Merkmal der individuellen Identitätskonstruktionen von Kindern. Die Lebenswelten von Kindern sind immer auch beeinflusst von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe, Kultur, Ethnie oder Schicht. Sie werden als Angehörige dieser Gruppen betrachtet und definieren sich selbst in diesem Geflecht von Zugehörigkeiten. So konstruieren wir „Weiblichkeit“ oder „Männlichkeit“ in verschiedenen Altersgruppen, Kulturen oder Schichten unterschiedlich. Beispielsweise ist es in einigen Kulturen alltägliche Praxis, dass Männer sich umarmen oder an der Hand halten, in anderen gilt es als „unmännlich“. Es ist daher notwendig, das Thema Geschlecht weder zu banalisieren noch zu dramatisieren. Geschlecht ist eines von verschiedenen Aspekten der Identitätskonstruktionen von Kindern und von ungleichheitsrelevanten Faktoren (vgl. auch Winker, Degele 2009).

Das Ziel geschlechterbewusster Pädagogik ist es, Kinder – jenseits von Geschlechterklischees – in ihren individuellen Interessen und Fähigkeiten zu fördern.

Es geht darum sie bei der Ausgestaltung ihrer individuellen Geschlechtsidentitäten zu unterstützen – unabhängig von den jeweils herrschenden Vorstellungen vom „richtigen Mädchen“ und „richtigen Jungen“. Geschlechterbewusste Pädagogik beruht auf einer Haltung, die auf der Anerkennung vielfältiger Lebensweisen basiert und Chancengerechtigkeit und Inklusion betont.

Geschlechterbewusste Pädagogik ist der Oberbegriff für einen reflektierten Umgang mit Geschlecht und Geschlechterkonstruktionen auf der Ebene der Kinder, der Erziehungsberechtigten, der pädagogischen Fachkräfte und der Einrichtung. Grundlage ist die Wertschätzung der tatsächlichen (geschlechtlichen) Vielfalt und Individualität von Kindern unter Berücksichtigung vorhandener sozialer Ungleichheiten in den Geschlechterverhältnissen. Diese doppelte Blickrichtung, Kinder sowohl als Angehörige ihrer Geschlechtergruppe als auch in ihrer Einzigartigkeit mit ihren individuellen Stärken und Interessen zugleich zu betrachten ist grundlegend für eine geschlechterbewusste Pädagogik. Dabei geht es nicht nur um mehr oder gleiche Chancen, sondern immer auch um soziale Gerechtigkeit, Inklusion und die Umsetzung der Kinderrechte.

Durch die Allgegenwärtigkeit und die stetige Präsenz mit der Geschlecht in Symbolen und Strukturen verwoben ist, scheint es uns natürlich, selbstverständlich und normal. Und auch die Verhaltensweisen und die Darstellung von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ erfolgt so routiniert, dass diese für die Beteiligten und für Beobachterinnen und Beobachter selbst als solche meist ungesehen bleiben.

Daher wird im Folgenden, die Konstruktion der Geschlechterverhältnisse auf allen Ebenen skizzierend sichtbar gemacht um anzuregen, wie eine geschlechterbewusste Pädagogik umgesetzt werden kann.



Wie die Geschlechtersymbolik die kindliche Entwicklung beeinflusst

Kinder sind in ihren Lebenswelten von Anfang an überall mit Stereotypen konfrontiert, in der Familie, in der Kita, im Kontakt mit anderen, über Spielwaren, Kinderbücher und andere mediale Einflüsse. Vielfach unbemerkt filtern Kinder tagtäglich Informationen über „Männlichkeit“, „Weiblichkeit“ und die Geschlechterverhältnisse aus der Umwelt heraus. Sie entnehmen ihrer Umwelt diese Botschaften –Botschaften, die Erwachsene häufig nicht (mehr) bewusst wahrnehmen -, all diese Symbole haben eine Bedeutung für sie. Kinder lernen aktiv, sie beobachten aufmerksam was in ihren Lebenswelten geschieht. Durch die Deutung und Verarbeitung ihrer Lebenswelt bildet sich dabei ein vorreflexives Geschlechterwissen (vgl. Wetterer 2008, S.39ff.). Dieses Wissen strukturiert wiederum die Wahrnehmung und diese wiederum die Wirklichkeitskonstruktion von Kindern.

Denn Kinder nehmen Stereotype anders wahr als Erwachsene, sie können die Verallgemeinerungen und Verzerrungen noch nicht erkennen und binden die Stereotype aktiv in ihre Wirklichkeitskonstruktionen ein. Sie konstruieren Geschlecht anhand der Geschlechterstereotype und Verhaltenstypisierungen. Kinder lernen dabei, dass es beim Geschlecht nur ein „entweder-oder“ gibt und sie erfahren was beim jeweiligen Geschlecht überwiegend als „normal“ oder als „abweichend“ bewertet wird. Diese frühen Botschaften über Geschlechtszugehörigkeiten und andere soziale Identitäten wie kulturelle oder ethnische Herkunft fördern oder behindern die Entfaltungsmöglichkeiten und frühe Bildungsprozesse von Kindern.

Stereotype sind dabei kultur-, und auch zeittypisch. So finden sich gegenwärtig -bedingt durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse- in Deutschland modifizierte Geschlechterstereotype und Verhaltenstypisierungen. Mädchen erscheinen selbstbewusst, ohne Probleme und als die Gewinnerinnen im Bildungsbereich. Das öffentlich vermittelte Bild von Jungen ist in den letzten Jahren geprägt von der Betrachtung von Defiziten, sie gelten als die Verlierer im Bildungssystem und schon im Kindergartenalter als unkonzentriert, laut, wild und schwer zu bändigen. Es wird immer wieder auf den durchschnittlich erhöhten Anteil von Jungen an sonderpädagogischen Förderbedarf und mit einer Lernbehinderung hingewiesen. Die Fokussierung auf solche Unterschiede fördert eine geschlechterstereotype Betrachtung und hat eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die Fremd- und Selbstwahrnehmung von Kindern.

So weist Hannelore Faulstich-Wieland (2010) nach, dass unsere gesellschaftliche Vorstellung von Männlichkeit erheblich dazu beiträgt, dass Jungen vielfach in der Schule schlechter abschneiden.
„Aus unserer eigenen Forschung wissen wir, dass von Jungen eher erwartet wird, dass sie unangepasst und widerständig sind. [...], dass Jungen sich gern in den Mittelpunkt stellen, dabei aber von Lehrkräften unterstützt werden. Zugleich begeben sie sich damit auf einen schmalen Grat zwischen bewundert werden und nerven. Dies kann sie schnell zu ausgegrenzten Störenfrieden machen [....]“(Faulstich-Wieland 2010, S.9).

Wenngleich sich Eltern und pädagogische Fachkräfte im normativen Diskurs an Werten wie Gleichbehandlung und Individualität orientieren, zeigen wissenschaftliche Studien, dass sie sich im konkreten Alltagshandeln dennoch an traditionellen Geschlechterbildern orientieren (vgl. u.a. Hunger 2014, S.15-20). So zeigt eine Studie zur Körper- und Bewegungssozialisation, dass Kinder geschlechtstypisierend ausgestattet werden; so werden z.B. Kleidung, Spielsachen, Abbildungen auf Brotdosen, Getränkeflaschen, Hausschuhen geschlechtstypisch ausgewählt (ebd.S.17).

„Die allgegenwärtige Symbolik realisiert sich bei Jungen – neben klassischen Motiven wie Fußball, Feuerwehr etc. - in Form von (...) Figuren, wie Lightning McQueen (erfolgreicher Rennwagen) und Spider-Man (Actionheld), sowie Motiven aus Star Wars (Heldenepos), die jeweils Actionbereitschaft und Stärke, Raumexploration und Wettbewerbsbereitschaft, Technik und Angriff symbolisieren. Bei Mädchen dominieren derzeit im späten Kindergartenalter abgebildete Motive, wie Prinzessin Lillifee (kleine Blütenfee), Hello Kitty (backende Katze), Filly (königliche, elfenartige Minipferde bzw. Einhörner) etc., die in ihren prägenden Eigenschaften jeweils Harmonie, Ästhetik und Phantasie verkörpern(Hunger 2014, S.17/18)“.

Dabei nehmen die untersuchten Eltern den Widerspruch zwischen den von ihnen formulierten geschlechtsunabhängigen Erziehungsvorstellungen und der alltäglichen Handlungspraxis, der alte Geschlechterbilder innewohnen, kaum wahr.

Widerspricht ein kleiner Junge den geschlechtstypischen Vorstellungen in weiten Teilen, indem er z.B. als ängstlich-unsicher wahrgenommen wird, erhält das Kind besondere Aufmerksamkeit. „Darüber hinaus ist teilweise auch eine unterschwellige (und durchaus homophobe) Form der Sexualisierung des Jungenverhaltens zu konstatieren.“ (ebd. S.18).

In zahlreichen Studien wird deutlich, dass Kinder, die sich nicht den Geschlechterstereotypen entsprechend verhalten, zum Beispiel Jungen, die von anderen für zu feminin und unmännlich gehalten werden und Mädchen, die als jungenhaft gelten, häufig schon auf dem Spielplatz Hänseleien aushalten müssen (vgl. UNESCO 2011). Auch Kinder aus sogenannten Regenbogenfamilien, also Familien in denen mindestens ein Elternteil lesbisch, schwul, bisexuell oder transgeschlechtlich lebt, sind Diskriminierungen ausgesetzt(u.a. Strieb-Brzic, Quadflieg 2011).



Wie Geschlecht als gesellschaftliches Strukturprinzip die kindlichen Lebenswelten beeinflusst


Neben Geschlechterstereotypen wird die Entwicklung von Kindern vor allem auch davon beeinflusst, welche konkreten Verhaltensweisen sie bei Erwachsenen beobachten (Modellfunktion). Insbesondere die erlebte Aufgaben- und Arbeitsteilung der Geschlechter ist von besonderer Bedeutung: Kinder erleben, dass Frauen und Männer in unterschiedlichen beruflichen Bereichen tätig sind. Sie beobachten, dass Frauen eher für den Bereich der Fürsorge, der Pflege und der Be- und Erziehungsarbeit zuständig sind, während Männer eher die entscheidenden Positionen in Politik, Kultur und Wirtschaft innehaben. Sie erleben immer auch, dass die Bereiche unterschiedlich bewertet werden.

Diese unterschiedliche Bewertung erleben auch pädagogische Fachkräfte, indem sie mit hohen, immer neuen Anforderungen im Berufsalltag umgehen müssen und zugleich mit den meist fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten, dem häufig geringen sozialen Ansehen und den niedrigen Gehältern.

Frauen und Männer wünschen sich heute vielfach eine Balance zwischen Beruf und Familie – die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. So formulieren in vielen Studien zunehmend mehr Männer, dass sie weniger Zeit für Lohnarbeit verwenden und diese Zeit stattdessen beispielsweise mit sich selbst, mit Freunden oder mit ihren Kindern verbringen möchten (vgl. Cremers, Krabel 2012, S.90).

Auch junge Frauen stehen heute enorm unter Druck, den ganzen Anforderungen zu entsprechen und sie fühlen sich bei der Vereinbarung von Beruf und Familie von Politik und Männern zu wenig unterstützt (vgl. WZB das Update 2013). Putzen, waschen, kochen, Kindererziehung, Organisation und Verantwortung für das Familienleben werden mehrheitlich noch von Frauen übernommen, auch wenn sie berufstätig sind (vgl. ebd.).

So sind es vor allem Frauen, die ihre Berufstätigkeit unterbrechen und in Teilzeit arbeiten. Die Aufgabenverteilung erleben Kinder auch dadurch, dass in Kita, Schule und Hort kaum Männer als pädagogische Fachkräfte tätig sind.

Geschlecht und Bildung

Seit einigen Jahren wird in den verschiedensten Studien immer wieder betont, dass „die Mädchen“ „die Jungen“ bei der Schulbildung überholt hätten (vgl. u.a. Shell-Studie 2010). In der ganzen Debatte um die Mädchen als Bildungsgewinnerinnen wird jedoch vielfach vereinfacht argumentiert und pauschalisiert, denn Bildungschancen sind aufgrund von sozialer Herkunft, Schulbildung der Eltern, Wohnen in bestimmten Stadtteilen, Migration und Geschlecht ungleich verteilt. Bildungsungleichheiten bestehen also nicht aufgrund einer einzelnen isolierten Kategorie, sondern nehmen mit einer Häufung, einer Verknüpfung und Überkreuzung zentraler Strukturkategorien zu (vgl. Eggers 2011, S.59).

Es geht darum, Geschlecht als Analysekategorie einzubeziehen, mit anderen Aspekten (wie u.a. Beeinträchtigung, soziale Herkunft) zu verknüpfen, es aber nicht in den Mittelpunkt der pädagogischen Praxis zu stellen. Denn dies kann leicht zu einer unerwünschten Dramatisierung von Geschlecht führen. So werden Geschlechterstereotype noch verstärkt, wenn in mädchenspezifischen Mathematikbüchern eher rosa Einhörner und in jungenspezifischen Baukräne und Spinnenbeine gezählt werden sollen (wie u.a. in Speicher 2009a und 2009b). Es geht vielmehr darum, Verschiedenheiten in den Bedarfen aufgrund geschlechtstypischer Sozialisation zu erkennen, ohne Ungleichheiten und Stereotype zu verfestigen.


Individuelle Geschlechtsidentitätskonstruktionen

Kinder müssen sich die Regeln der Geschlechterunterscheidung erst aneignen. Dies geschieht zunächst über äußere Symbolisierungen, wie etwa Spielmaterialien, Spielvorlieben, Kleidung, Schmuck, Frisuren und Farben. Dabei lernen Kinder zugleich, dass soziale Symbole für „natürliche“ Unterschiede .Die Differenzierung anhand von Geschlechtersymbolen ist dabei typisch für die frühe Kindheit.

Später geschieht dies zunehmend durch verschiedene Verhaltensweisen, Arten der Gefühlsäußerung und Körperpraxen. Neben den gesellschaftlichen Symbolen spielen im weiteren Verlauf der kindlichen Entwicklung vor allem auch vergeschlechtliche soziale Praktiken eine große Rolle bei der Entwicklung von Geschlechtsidentitäten.

Vor allem im Spiel erproben Kinder, was es heißt „männlich“ oder „weiblich“ zu sein. Kinder achten dabei sehr auf ein „geschlechterangemessenes Verhalten“ und zeigen damit auch, dass sie gelernt haben, was in unserer Gesellschaft als weiblich bzw. männlich gilt. Sie imitieren Gesehenes, übertreiben und setzen vor allem auch eigene Impulse. Kinder stellen dabei bewusst im Alltag Geschlechterverhältnisse her, sie probieren und dramatisieren und schauen, was von den Vorgaben ihren eigenen Interessen und Neigungen entspricht und wie die Umwelt reagiert, wenn sie Geschlechterzuweisungen überschreiten. Im Alter von vier bis fünf Jahren inszenieren sie „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ besonders rigide. So wird beispielsweise der Junge, der ein Kleid anzieht und tanzt von den anderen Kindern ausgelacht oder streng darauf hingewiesen, dass Jungen weder Kleider anziehen noch tanzen.

Ein Beispiel: Leo trifft Adam auf dem Klettergerüst. Die beiden Vierjährigen stehen sich gegenüber und keiner von beiden will den anderen vorbeilassen. Sie schauen sich kurz an und Leo sagt: „Du kommst hier nicht durch, ich bin stärker als du.“ Adam antwortet: „Gar nicht, ich bin stärker!“

Mit diesen und anderen sozialen Praktiken, wie Konkurrenz oder dem Messen von körperlicher Kraft zeigen die Kinder, dass sie „richtige Jungen“ sind. Bei diesen „ernsten Spielen des Wettbewerbs“ (Meuser 2002) im Kindesalter spielt die körperliche Kraft – und vor allem die Durchsetzungskraft- eine große Rolle. Zum männlichen Habitus für Jungen gehört gegenwärtig beispielsweise Selbstbehauptung, körperliche Durchsetzungskraft und Wettbewerb. Mit der Orientierung an solchen Männlichkeitspraktiken zeigen Kinder ihre Zugehörigkeit zur Gleichaltrigengruppe und dass sie ein „richtiger Junge“ sind. Gleichzeitig gibt es mit dieser „Jungenkultur“ starke Passungsprobleme mit der Kultur der meisten Kindertageseinrichtungen und Schulen (vgl. Budde 2011, S.13ff).

Dagegen sind die herrschenden Weiblichkeitspraktiken gegenwärtig gut mit den meisten Bildungsinstitutionen vereinbar: Anpassungsfähigkeit, Kompromissbereitschaft, Streben nach Anerkennung von anderen, Körper- und Bewegungskontrolle und eine Orientierung an Schönheitsidealen (figurbetonte Kleidung, Schlankheit). Wenn Kinder versuchen diesem Habitus zu entsprechen, besteht jedoch die Gefahr einer vorweggenommenen Korrektur der eigenen Persönlichkeit und des eigenen Körpers am Maßstab von anderen.

Der jeweilige Habitus ist kultur- und zeittypisch. Er wird zunächst in der Familie konstruiert und weitergegeben, von den Kindern erprobt oder verworfen, durch Erfahrungen mit anderen Kindern manifestiert oder dekonstruiert und durch die Erwartungen der Peergroups verfestigt oder modifiziert (vgl. auch Mannopoly 2012, S.20). Diese vergeschlechtlichten sozialen Praktiken geben Kindern Orientierung und beinhalten Entwicklungschancen in bestimmten Bereichen und Einschränkungen in anderen Bereichen und führen zur Ausgrenzung von Kindern, die diesen nicht entsprechen können oder wollen.

Gerade in der pädagogischen Arbeit mit Kindern ist es wichtig, „vergeschlechtlichte“ soziale Praktiken falls möglich zu vermeiden bzw. bewusst mit diesen umzugehen -beispielsweise werden handwerkliche, technische oder sportliche Tätigkeiten nicht automatisch dem Kollegen oder Vätern oder Jungen in der Gruppe zugewiesen.

Es geht darum geschlechtstypische soziale Praktiken, die die Entwicklung von Kindern einengen als solche zu rekonstruieren, zu vermeiden und neue Erfahrungen jenseits von Geschlechterklischees zu ermöglichen. Auf diese Weise werden Kindern regelmäßig Möglichkeiten geboten mit geschlechtsuntypischen Spielen und Verhaltensweisen experimentieren zu können.Es geht dabei nicht um Rollentausch, sondern darum viele Bereiche auszuprobieren und dann zu erfahren, was dem jeweiligen Kind entspricht.
Um Kinder in ihrer Vielfalt zu fördern, ist es wichtig, Verallgemeinerungen, wie „die Mädchen“ bzw. „die Jungen“ oder auch „typisch weiblich“ bzw. „typisch männlich“, die meist unreflektiert verwendet werden, zu hinterfragen bzw. zu vermeiden. Beispielsweise: Statt: „Ich brauche drei starke Jungen, die mir helfen...“ besser: „Wer kann mir helfen...“ oder statt: „Wer von den Mädchen hilft den Kleinen ...?“ besser: „Wer möchte helfen...?“ und Formulierungen wie: „Für ein Mädchen spielst du sehr gut Fußball.“ meiden.).

Der Blick in die Geschichte und in andere Kulturen zeigt, wie sich die Vorstellungen und DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. e um Geschlecht immer wieder verändern (vgl. Focks 2016, S. 67-89) und die kindliche Entwicklung maßgeblich beeinflussen (ebd. S.89-97). Um Kinder in ihrer individuellen Entwicklung zu fördern und Inklusion zu ermöglichen, ist es notwendig, dass wir uns bewusst und reflektiert mit Geschlechterkonstruktionen auseinandersetzten (ebd. S. 97-111). Dabei ist es wichtig alle Ebenen einzubeziehen und geschlechterbewusste Pädagogik in unterschiedlichen Bereichen umzusetzen (u.a. Konfliktlernen, Partizipation, Sexualitäten, Körper und Bewegung, Mathematik, Naturwissenschaften und Technik) (ebd. S.125-137).

Wir übernehmen ihn mit freundlicher Genehmigung aus frühe kindheit 04-2016, S. 36 - 42


Der Artikel wurde bereits in ähnlicher Weise veröffentlicht in:

Petra Focks
Starke Mädchen, starke Jungen
Genderbewusste Pädagogik in der Kita.
Verlag Herder, 2016



Literaturliste

Budde, Jürgen (2011); „Und der Valentin dürfte auf alle Fälle bisschen schon auf Kontra aus sein...“ Bildungsungleichheiten als kulturelle Passungsprobleme zwischen männlichem Habitus und Schulkultur? In: Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien, Humboldt-Universität Berlin, Gabiele Jähnert (Hrsg.)
Bulletin Texte 37. Gender und Schule,S.8-20.

Cremers, Michael; Krabel, Jens (2012): Männer-Quoten in Care-Bereichen. In Hurrelmann, Klaus, Jungen als Bildungsverlierer (Hrsg.). Brauchen wir eine Männerquote in Kitas und Schulen? Weinheim, Beltz Verlag, S.78-100.

Deutsche Shell-Studie (2010) / Shell Deutschland Holding (HRSG) (2010): Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. Frankfurt, Main. Fischer-Taschenbuch Verlag.

Ducret, Véronique; Nanjoud, Bulle (2012). La Poupée de Timothéet la camion de Lison. In: undKinder Nr. 90, S.61-70.

Eggers; Maureen Maisha (2011): Interdependente Konstruktionen von Geschlecht und rassistischer Markierung – DiversitätDiversität|||||siehe Diversity als neues Thematisierungsformat. In: Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien: Gender und Schule. Bulletin Texte 37, Humboldt-Universität Berlin, S.56-71.

Faulstich-Wieland, Hannelore(2010): „Wir brauchen eine Gender-Sensibilisierung von Lehrkräften“ Interview in wirbelwind, jako-o Ausgabe 3/2010, S.9.

Focks, Petra (2003): Starke Mädchen, starke Jungen. Freiburg, Basel, Wien, Herder Verlag.

Focks, Petra (2016): Starke Mädchen, starke Jungen. Genderbewusste Pädagogik in der Kita. Freiburg, Basel, Wien Herder Verlag

Hunger, Ina (2014): Bewegung in der frühen Kindheit. Zur Dominanz und Materialisierung alter Geschelchterbilder im pädagogischen Alltag. Sozialmagazin 1-2/2014, S. 14-20.

Hunger, Ina; Zimmer, Renate (2012): Jungen dürfen wild sein – Mädchen auch? Einflüsse auf geschelchtsspezifisches Bewegungsverhalten. Kindergarten heute 8/2012, S. 8-12.

Projektgruppe Mannapoly (2012): KerleKulte: Inszenierung von Männlichkeit. Archiv der Jugendkulturen. Berlin, Verlag KG.

Meuser, Michael (2008): Ernste Spiele. Zur Konstruktion von Männlichkeit im Wettbewerb der Männer. In: Baur, Nina & Luedke, Jens (Hrsg.): Dimension der Kategorie Geschlecht: Der Fall Männlichkeit. Münster, S. 154-165.

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Speicher, Katja (2009): Textaufgaben für Jungs. 100 Aufgaben, die Jungs wirklich begeistern, Stuttgart: Pons gmbH.

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Wissenschaftszentrum Berlin: Frauen auf dem Sprung, das Update 2013, Pressemitteilung.

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