Kultursensible Elternberatung bei Flüchtlingsfamilien

Inhaltsverzeichnis

  1. Auswirkungen von Migration auf das Familienleben
  2. Kulturelle Unterschiede in der Eltern-Kind-Beziehung
  3. Wechsel von Großfamilie zu Kleinfamilie
  4. Fazit
  5. Literatur

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Auswirkungen von Migration auf das Familienleben


Fehlendes Wissen
Häufig mangelt es Flüchtlingsfamilien an konkreten Kenntnissen über bestehende Normen, Werte und rechtliche Grundlagen in Deutschland, wie beispielsweise die Kinderrechte und die Gleichberechtigung der Frau. Zudem fehlen ihnen meist entsprechende Konzepte aus der Heimat für die vielfältigen erziehungsrelevanten Einrichtungen in Deutschland, was die geringe Inanspruchnahme der Hilfsangebote, wie Erziehungsberatungsstellen und Jugendamtseinrichtungen, bei Migrantinnen und Migranten zum Teil erklärt. Weiterhin verfügen sie oftmals nicht über Kenntnisse bezüglich der Rechtsprechung bei Scheidung und Sorgerecht. Auch das komplexe deutsche Gesundheitswesen mit vielen Vorsorgeuntersuchungen, speziell für Kinder, ist für Flüchtlinge oft schwer durchschaubar. Es bedarf einer Erklärung, warum es überhaupt notwendig ist, mit einem gesunden Kind zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, und dass diese Untersuchungen in Deutschland kostenlos sind, da der Arztbesuch im Heimatland in der Regel Geld kostet und meist nur bei akutem Bedarf infrage kommt. Viele Flüchtlingseltern beklagen, dass sie sich nicht ausreichend um die schulische Entwicklung ihrer Kinder kümmern können. Ihnen fehlen oft ausreichende Kenntnisse über das deutsche Schulsystem, um bei der Schulwahl mitentscheiden zu können. Auch die Art und Weise des Unterrichts und die entsprechenden didaktischen Methoden als auch die Teilnahme an Elternabenden sind für viele neu.

» In ihrer Exilgemeinde hören sie zudem, dass Kinder bei bestehender Kindeswohlgefährdung aus der Familie genommen und dem Jugendamt in Obhut gegeben werden können.«

Über die Erziehungseinrichtungen, wie Kitas und Schulen, erfahren Flüchtlingseltern, dass körperliche und psychische Gewalt gegenüber Kindern in Deutschland nicht geduldet ist. In ihrer Exilgemeinde hören sie zudem, dass Kinder bei bestehender Kindeswohlgefährdung aus der Familie genommen und dem Jugendamt in Obhut gegeben werden können. Diese Information über den Schutz des Kindes ist notwendig und sinnvoll, kann aber oftmals von den Eltern ohne genauere Aufklärung nicht richtig eingeordnet werden. Eine Verhaltensänderung gelingt den Eltern jedoch erst dann, wenn Einsicht in die Folgen von Gewalterfahrungen auf die kindliche Entwicklung vermittelt und alternative Lösungen für Erziehungskonflikte erarbeitet werden.

Notwendig für eine an die jeweiligen Erfordernisse angepasste Erziehung der Kinder sind spezifische Sozialisationsziele, die sich an einem entsprechenden gesellschaftlich gewünschten Menschenbild orientieren. Die Sozialisationsziele spiegeln die jeweiligen gesellschaftlichen Vorstellungen und Wünsche wider, wie die kindliche Entwicklung verlaufen sollte und wann welche Fähigkeiten ausgebildet und vorhanden sein sollten (Keller 2007; Bugenthal/Johnston 2000).

Sicherung der Existenz durch Familie versus durch staatliche Institutionen
Folgen von Krieg und politischer Instabilität äußern sich in einem Wandel von Wertvorstellungen im Alltagsleben. Viele Menschen, die migriert sind, stammen aus Ländern, in denen die gesellschaftspolitischen und ökonomischen Strukturen aufgrund von Kriegen und politischen Konflikten nicht mehr intakt sind, was destabilisierende Auswirkungen auf die Lebensbedingungen hat und die Bevölkerung zwingt, sich ausschließlich mit dem täglichen Überleben zu beschäftigen. Bildungsansprüche beispielsweise, die es in vielen dieser Gesellschaften vor den Kriegen gegeben hat, haben in diesem Überlebenskampf keinen Platz mehr. Stattdessen sind völlig andere Werte und Normen von Bedeutung.

Wenn das Überleben eines Individuums in einer Gesellschaft ausschließlich in der Verantwortung der Familie liegt, dann ist die Bezogenheit auf Familie und Gemeinschaft von existenzieller Bedeutung. Innerhalb dieser gesellschaftlichen Bedingungen spielt die Förderung sozialer Fähigkeiten der Kinder eine weitaus größere Rolle als das Streben nach Selbstverwirklichung. Der Begriff der Autonomie hat dort eine andere Bedeutung als in der westlichen Erziehung. Kinder werden schon früh dazu erzogen, ihren Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten. Nach Keller (2011) wird auf diese Weise die sogenannte Handlungsautonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.ie in der Erziehung gefördert. Besonders in einer ländlichen Bevölkerung wird oft schon von Kleinkindern erwartet, auf jüngere Kinder zu achten und handwerkliche Aufgaben zu verrichten. Die Erfahrung, bereits von Kindesbeinen an einen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben leisten zu können, hat eine identitätsstiftende Funktion für den Einzelnen.

In den westlichen Industrienationen hingegen wird dem Begriff Kindheit eine grundlegend andere Bedeutung beigemessen. Die Erwachsenenwelt wird nachgespielt, wie die Beispiele Puppenstube und kindgerechte Werkzeuge als Spielwaren zeigen. Idealerweise sollte dem Kind jedoch nach westlichem Denken während der kindlichen Entwicklung ausreichend Zeit zur Verfügung stehen, um die eigenen kognitiven, kreativen und sportlichen Anlagen durch spielerische Exploration erkennen und entfalten zu können.

» Der Begriff der Autonomie hat dort [in den Herkunftsländern (Red.)] eine andere Bedeutung als in der westlichen Erziehung.«

Ein im letzten Jahrhundert vollzogener Übergang der familiären Existenzsicherung zu einer Absicherung durch staatliche familienersetzende Institutionen hat zu einer zunehmenden existenziellen Unabhängigkeit vom familiären System beigetragen. Dadurch stehen dem Individuum von Kindheit an mehr Freiräume zur Verfügung, um sich weitgehend ohne Pflichten gegenüber der Familie entfalten zu können. Die frühe Förderung der psychischen Autonomie eines Kindes durch die Eltern, d.h. die Fähigkeit eines Kindes, eigene Wünsche, Ansichten und Kompetenzen früh zu erkennen und zu kommunizieren, wird in den westlichen pädagogischen Konzepten als notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Selbstverwirklichung im Erwachsenenalter propagiert.

Viele Flüchtlingsfamilien kommen aus verbundenheitsorientierten Gesellschaften. Sie bringen daher Erziehungsideale mit, die im Gegensatz zu den deutschen pädagogischen Konzepten stehen. Werte wie Respekt vor den Erwachsenen, Gehorsam und die Orientierung an einer religiösen Moralvorstellung spielen bei Flüchtlingsfamilien aus entsprechenden Herkunftsländern in der Erziehung häufig eine wichtige Rolle, während der Förderung von eigenen Ansichten und Meinungen bei den Kindern nur eine geringe Rolle spielt. Beim Besuch von deutschen Kitas und Schulen treffen Flüchtlingskinder folglich auf eine Umwelt mit gegensätzlichen Wertvorstellungen.


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