Grundlagen der Frühkindlichen Bildung

Entwicklungspsychologische, pädagogische und soziologische Perspektiven

Inhaltsverzeichnis

  1. Entwicklungspsychologische und pädagogische Grundlagen
  2. Soziologische Perspektiven
  3. Zusammenfassung und Fazit

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In folgendem Beitrag führen Susanne Viernickel und Kirsten Fuchs-Rechlin grundlegend in die frühkindliche Bildung ein - sowohl unter entwicklungspsychologischer wie auch pädagogischer und soziologischer Perspektive. Das Spektrum reicht so von Bindungs- und Beziehungsaufbau über Sprachentwicklung, Beobachtung und Dokumentation bis hin zur Zusammenarbeit mit Eltern sowie zu einer grundsätzlichen Veränderung familiärer Lebenswelten  und einen entsprechenden Funktionswandel der institutionellen Bildung, Betreuung und Erziehung.

 

Hintergrund des Beitrages

Nach der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem vollendeten 1. Lebensjahr und dem entsprechenden quantitativen Ausbau kommt nun die Qualitätsentwicklung in den Fokus. Im November 2014 haben sich so die Bundesfamilienministerin und die zuständigen Fachministerinnen und Fachminister der Länder im Rahmen einer Konferenz zur frühen Bildung auf einen Prozess zur Entwicklung gemeinsamer Qualitätsziele in der Kindertagesbetreuung geeinigt. Hierzu wurde ein gemeinsames Communiqué unterzeichnet. Dieser Qualitätsprozess soll unter Einbeziehung der kommunalen Spitzenverbände und im Dialog mit den Verbänden und Organisationen erfolgen.

Im Rahmen dieses Prozesses hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) fünf Expertisen zu zentralen Qualitätsthemen gefördert, die von Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft erarbeitet wurden. Die Expertinnen und Experten leiteten Handlungsempfehlungen für die Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität in unterschiedlichen Bereichen der Kindertagesbetreuung ab – von der Fachkraft-Kind-Relation über die Leitungsfunktionen in KiTas bis zum Raum und. Die Expertisen basieren auf einer Analyse der aktuellen Situation anhand empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.er Daten und der vorhandenen (rechtlichen) Rahmenbedingungen auf Bundes- und Landesebene (Ist-Zustand) sowie der Definition von wissenschaftlich begründeten und empirisch abgesicherten Qualitätsstandards (Soll-Zustand). Der Vergleich von Ist- und Soll-Zustand erlaubt die Bestimmung steuerungsrelevanter Konsequenzen für die einzelnen Bereiche. Damit sollen die Expertisen einen Impuls und wissenschaftlichen Beitrag für die Debatte rund um das Thema Qualität in der Kindertagesbetreuung geben.

Qualität für alleDie fünf verschiedenen Expertisen sind in dem Sammelband „Qualität für alle. Wissenschaftlich begründete Standards in der Kindertagesbetreuung" im Herder-Verlag erschienen.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und des BMFSFJ präsentieren wir Ihnen hiereine grundlegende Einführung in die frühkindliche Bildung von Susanne Vienickel und Kirsten Fuchs-Rechlin, die ihrer Expertise zu Fachkraft - Kind - Relationen undGruppengrößen in Kindertageseinrichtungen vorangestellt ist.

 

 

Einführung

Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege sollen gemäß ihres gesetzlichen Auftrags (§22 Abs. 3 iVm §1 SGB VIII) die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit fördern, die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützen und ergänzen sowie die Eltern darin unterstützen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können. Diese Trias von Erziehungs-, Bildungs-, und Betreuungsauftrag bildet den Bezugsrahmen für die vorzuhaltende Angebotsstruktur, die Ausgestaltung der pädagogischen Arbeit mit den Kindern und die Formen und Inhalte der Zusammenarbeit mit den Familien.


Als Grundlage für Empfehlungen zur Allokation von personellen Ressourcen, zur Einschätzung von Zeitanteilen für direkte und mittelbare pädagogische Arbeitsaufgaben und zu Gruppengrößen und Gruppenorganisationsformen dienen empirische Daten über Zusammenhänge zwischen diesen Merkmalen und der Erfüllung des Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsauftrags, aber ebenso theoretische Erkenntnisse über zentrale Entwicklungsbedürfnisse von Kindern in den ersten sechs Lebensjahren, über die Art und Weise, wie Kinder sich bilden und darüber, welche Rolle Interaktionen und Beziehungen zwischen pädagogisch Tätigen und Kindern für diese Lern- und Bildungsprozesse spielen (Kap. 1.1).


Im Kontext gesellschaftlicher Wandlungsprozesse hat sich das Verhältnis von Familien und frühpädagogischen Institutionen in den vergangenen Jahren im Sinne einer steigenden Bedeutsamkeit familienergänzender Erziehung, Bildung und Betreuung verändert. Dies impliziert, dass die Erfahrungen, die Kinder in Kindertageseinrichtungen bzw. KindertagespflegeKindertagespflege|||||Kindertagespflege oder Tagespflege umfasst eine zeitweilige Betreuung von Jungen und Mädchen bei Tagesmüttern oder Tagesvätern. Nach dem Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2004 ist die Tagespflege neben der Tagesbetreuung in Kindertageseinrichtungen eine gleichwertige Form der Kindertagesbetreuung.  machen, heute einen stärkeren Einfluss auf kindliche Entwicklung und kindliche Bildungsbiografien haben als früher. Damit erhöht sich die gesellschaftliche bzw. politische Verantwortung für eine möglichst optimale Qualität dieser Angebote. Schließlich können durch eine Analyse des Funktionswandels von Kindertageseinrichtungen damit einhergehende Komplexitätszuwächse und Veränderungen in der pädagogischen Alltagspraxis sowie die zunehmende Verdichtung von Arbeitsanforderungen aufgezeigt werden, was ebenfalls Rückschlüsse auf vorzuhaltende strukturelle Rahmenbedingungen ermöglicht (vgl. Kap. 1.2).


1.1 Entwicklungspsychologische und pädagogische Perspektiven

In der Frühpädagogik und ihren humanwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen wie der Entwicklungspsychologie und der Neurobiologie besteht Einigkeit darüber, dass die ersten Lebensjahre durch schnelle und vielfältige Entwicklungsprozesse gekennzeichnet sind, bei denen Lernvorgänge eine entscheidende Rolle spielen. Die moderne Entwicklungspsychologie versteht Entwicklung dabei als einen andauernden Wechselwirkungsprozess zwischen Individuum und Umwelt, dessen Verlauf von beiden Seiten aktiv mitgestaltet wird (Petermann, Niebank & Scheithauer, 2004, S. 21ff.). Auf Seiten des Individuums können die Ebenen der genetischen Aktivität, der neuronalen Aktivität und des Verhaltens unterschieden werden; bei den Umwelteinflüssen wird zwischen physischer, sozialer und kultureller Umwelt differenziert.

Unter Lernen versteht man den absichtlichen und den beiläufigen individuellen oder kollektiven Erwerb von geistigen, körperlichen, sozialen und emotionalen Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Lernen kann nach Steiner (2006, S. 139) unter dem Gesichtspunkt der Verhaltensänderung und unter dem Gesichtspunkt des Wissenserwerbs betrachtet werden.

Von Geburt an bringen Kinder hierfür die biologische Ausstattung und DispositionDisposition|||||Wörtlich gemeint ist damit sowohl eine Anordnung von Material, als auch die  physische und psychische Verfassung, Anlage, Empfänglichkeit zum Beispiel zum Lernen.  mit (vgl. u.a. Dornes, 1994; Eliot, 2004) und sind schon im ersten Lebensjahr zur extrem raschen Nutzung von Informationen aus der Umwelt fähig. Auch verfügen sie wahrscheinlich über domänenspezifische Wissenselemente, die ihnen die Orientierung in der physikalischen und sozialen Umwelt erleichtern und den Aufbau von Wissen unterstützen (Sodian, 2002, S. 447ff.). Gopnik, Kuhl & Meltzoff (2005, S. 179) sprechen davon, dass sich innerhalb der ersten Lebensjahre das gesamte Konzept, das Kinder von Menschen, Dingen und Wörtern haben, aufgrund von Lernprozessen radikal ändert.

Stärker noch als der Lernbegriff beinhaltet der Bildungsbegriff die Seite der aktiven individuellen Auswahl und Aneignungsweise durch das Individuum. Schäfer (2005, S. 18ff.) postuliert, dass Bildung eine besondere Form des Lernens sei. Der Bildungsbegriff berücksichtigt den subjektiven Sinn und die Bedeutsamkeit, die erworbenes Wissen und Können bzw. erlerntes und angewendetes Verhalten für das Individuum besitzt. Unter Bildung sind dann nur diejenigen Anteile von Entwicklungs- und Lernprozessen zu verstehen, die dazu beitragen, dass das Individuum seine Möglichkeiten des Handelns, Fühlens und Denkens gegenüber sich selbst sowie der sozialen und materiellen Umwelt erweitert. Durch diese Erweiterung erhöht sich für das Individuum die Wahrscheinlichkeit, gemäß seiner eigenen Bedürfnisse und Interessen selbstwirksam agieren zu können, Kohärenz im Wollen und Handeln zu erreichen, sich an eine gegebene Umwelt zu adaptieren und sie im Rahmen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten mitgestalten zu können.

Für die frühe Kindheit können diese Bildungsprozesse in verschiedene Dimensionen – zwischen denen jeweils wechselseitige Bezüge bestehen – differenziert werden (Viernickel, 2008; Viernickel & Stenger, 2010).

  1. Als erstes ist die sozial-emotionale Dimension zu nennen: Bildung ist Beziehungsbildung, der Aufbau von stabilen, gefühlsmäßig besetzten besonderen Beziehungen zu anderen Menschen. Solche Bindungs- oder bindungsähnlichen Beziehungen gelten als Voraussetzung dafür, dass sich junge Kinder voller Aufmerksamkeit ihrer Umwelt zuwenden und diese aktiv und konzentriert erkunden können und wollen.
  2. Bedeutsam ist zweitens die Handlungsdimension: Bildung vollzieht sich als aktive Aneignung von Welt, als neugieriges Forschen und Entdecken. Bildungsprozesse sind selbstverstärkend, denn Handlungserfolge setzen Hormone frei, die positive Emotionen auslösen und somit Belohnungscharakter haben.
  3. Drittens kann frühkindliche Bildung als Aneignungs- und Ausdruckstätigkeit in Bezug auf kulturelles Wissen und kulturelle Praxen beschrieben werden. Kinder sind Schöpfer ihrer eigenen Kultur, aber sie beziehen sich dabei auf Sinnzusammenhänge, Themen und kulturelle Praktiken, die sich ihnen zuvor erschlossen haben.
  4. Und schließlich sind Bildungsprozesse in einer identitätsorientierten Dimension zu denken: Bildung in der frühen Kindheit muss zu einem erheblichen Anteil als Persönlichkeitsbildung verstanden werden im Sinne der Ausformung und zunehmenden Erkenntnis über Eigenschaften und Besonderheiten der eigenen Identität (Stern, 1992).

In diesen Prozessen übernehmen erwachsene Bezugspersonen – zuerst die Eltern, sobald institutionelle familienergänzende Betreuung einsetzt, jedoch auch pädagogisches Personal in Kindertageseinrichtungen – mehrere miteinander zusammenhängende, aber dennoch zu differenzierende Funktionen: als Beziehungspartner/in, als Ko-Konstrukteur/in sprachlicher und kultureller Bedeutungen und Wissensbestände sowie als Arrangeur/in des Bildungsraums Kita, der Eigenaktivität und forschendes Lernen ermöglicht und befördert.

 

Die Pädagogin / der Pädagoge als Beziehungspartner/in


Kinder brauchen Beziehungen, um sich bilden zu können. In den ersten Lebensjahren eines Kindes assoziieren wir hierzu in erster Linie den Aufbau von Bindungsbeziehungen zu Mutter und Vater, aber auch zu anderen Personen, die ein Kind ständig betreuen. Unter Bindung («attachment») versteht man dabei eine besondere und enge emotionale Beziehung, die sich im Laufe der Zeit als überdauernde kognitiv-emotionale Repräsentation, als sogenanntes inneres Arbeitsmodell ausbildet und damit nicht nur aktuelle, sondern langfristige Bedeutung für die kindliche Entwicklung hat. Werden die grundlegenden psychischen, physischen und sozialen Bedürfnisse in den ersten Lebensjahren in der Regel prompt und angemessen beantwortet, entwickelt sich eine sichere Bindung, die beim Kind zu geistigen Repräsentationen von sozialen Beziehungen als zuverlässig und tragfähig und zu einem Bild von sich selbst als emotional kompetent und selbstwirksam führt (Bowlby, 1975).

Ob die emotionalen Beziehungen, die in institutionellen Betreuungssettings zwischen pädagogisch Tätigen und Kindern entstehen, als Bindungsbeziehungen zu fassen sind, wird kontrovers diskutiert (vgl. Ahnert, 2007; Erndt-Doll & Winner, 2009). Jedoch herrscht ein Konsens dahingehend, dass Kinder, je jünger sie sind, desto dringender eine räumlich und emotional verfügbare Bezugsperson benötigen, um sich aktiv und angstfrei mit der Umwelt auseinanderzusetzen und Bildungserfahrungen machen zu können. Nach der Bindungstheorie steht das Bindungsverhaltenssystem in einer Wechselwirkung mit dem Explorationssystem (Schölmerich & Lengning, 2004). Sind in einer aktuellen Situation die kindlichen Bindungsbedürfnisse erfüllt, so erkunden Kinder neugierig und offen ihre Umwelt. Sobald sie jedoch irritiert, überfordert oder müde werden, benötigen sie die Rückversicherung und den körperlichen Kontakt zur Bezugsperson.

Bestätigende Beziehungserfahrungen sind auch für die frühkindliche Identitätsentwicklung relevant. So geht Stern (1992) davon aus, dass jedes Kind von Geburt an ein subjektives Identitätsempfinden hat, dass sich durch die aktive Beteiligung an Interaktionen – über Blickkontakte und durch den Einsatz mimischer, gestischer und (vor-)sprachlicher Kommunikationsmittel – weiterentwickelt. Die Reaktionen der Bezugspersonen formen das kindliche Selbstbild in Bezug darauf, welche der eigenen Verhaltensweisen für angemessen gehalten werden, wie die eigenen Signale aufgenommen werden und wie darauf reagiert wird (Lally, 1996). Auch in der neueren neurobiologischen Forschung finden sich Hinweise, dass der Strukturaufbau des menschlichen Gehirns in den ersten Lebensjahren in weit stärkerem Maße als früher angenommen durch soziale Beziehungserfahrungen mitbestimmt ist (Hüther, o.J.).

In institutionellen Betreuungssettings ist deshalb der Aufbau einer positiven und möglichst stabilen emotionalen Beziehung zwischen Betreuungsperson und Kleinkind eine wichtige Aufgabe. Berücksichtigt man den bereits ausgeführten fundamentalen Zusammenhang zwischen emotionaler Sicherheit, einem Grundvertrauen in soziale Beziehungen, der Neugierde auf die Umwelt und die Entwicklung der Persönlichkeit, benötigt jedes Kind Vertrauen von und zu seinen Bezugspersonen, die nachempfinden und in Worte fassen wollen, was das Kind bewegt. Im Kontext einer Gruppenbetreuung muss sichergestellt sein, dass zu jeder Zeit eine angstfreie Atmosphäre hergestellt wird und jedes Kind achtsame, wertschätzende und warme Zugewandtheit erfährt sowie eine Anerkennung seiner Person, seiner Interessen, Meinungen und Fähigkeiten.

Von besonderer Bedeutung hierfür ist die Qualität der regelmäßigen sozialen Interaktionen zwischen Bezugsperson und Kind. Hierin liegt jedoch auch eine besondere Herausforderung, denn Erzieher/innen müssen sich in der Regel parallel mit mehreren Kindern auseinandersetzen. Sichere Fachkraft-Kind-Bindungen oder -beziehungen entstehen anscheinend in jenen Kindergruppen, in denen die Gruppenatmosphäre durch ein empathisches Verhalten der Erzieher/innen bestimmt wird, das gruppenbezogen ausgerichtet ist und die Dynamik
der Gruppe reguliert. Gleichzeitig sollten aber die wichtigsten emotionalen Bedürfnisse einzelner Kinder zuverlässig und feinfühlig beantwortet werden (Ahnert, 2004, S. 268f.). Das soziale Miteinander in der Kindergartengruppe wirkt weiter als ein Modell für die Gestaltung aktueller und zukünftiger sozialer Kontakte und Beziehungen. Soziale Kompetenzen und die Fähigkeit zu kooperieren werden zu großen Teilen über sozialen Austausch – nicht nur, aber auch mit der Pädagogin / dem Pädagogen erworben.

In Kindertageseinrichtungen müssen demnach aus bindungstheoretischer Sicht strukturelle Bedingungen gegeben sein, unter denen die pädagogisch Tätigen zu sicheren Bezugspersonen werden und die damit verbundenen Funktionen zuverlässig erfüllen können. Eine Kontinuität und Vorhersagbarkeit der Anwesenheit dieser Bezugspersonen sollte ebenso gegeben sein wie deren räumliche Nähe bzw. gute Erreichbarkeit. Die Pädagogen/innen sollten die Möglichkeit haben, feinfühliges Verhalten gegenüber einzelnen Kindern regelmäßig zu realisieren sowie die Gruppendynamik zu überschauen und ggf. durch ihr Verhalten regulieren zu können. Sie sollten keinesfalls regelmäßig durch die Gleichzeitigkeit von Bedürfnissen (zu) vieler Kinder in stresserzeugende Entscheidungs- oder Dilemmasituationen geraten, in denen sie Gefahr laufen, ihre emotionale Zugewandtheit und Responsivität zu verlieren. Dies gilt umso stärker, je jünger die zu betreuenden Kinder sind.

 

Die Pädagogin / der Pädagoge als Ko-Konstrukteur/in sprachlicher und kultureller Bedeutungen und Wissensbestände


Grundsätzlich hält jede Situation für ein Kind Erfahrungsmöglichkeiten bereit, die in vielgestaltiger, kreativer Form als «Rohmaterial» für Verarbeitungs- und Bildungsprozesse herangezogen werden. Jedes Kind konstruiert so eigentlich die Welt – seine Welt – aufs Neue. Jedoch erfolgen diese Konstruktionen in ständiger Auseinandersetzung mit und unter Zuhilfenahme der bereits erfolgten Konstruktionen von Interaktionspartnern, welche wiederum zu einem großen Teil den gesellschaftlichen Konsens über Bedeutungen, Symbole und Konstruktionen enthalten. Nur in Auseinandersetzung mit ihnen kann Bedeutung kreiert und in einem interpretativen Prozess gehandhabt und abgeändert werden.

Für den Erwerb kognitiven und sozialen Wissens und um in die kulturelle und soziale Welt hineinzuwachsen, ist das Kind deshalb in spezifischer Weise auf Interaktion und Kommunikation angewiesen. Die Sprache gilt dabei als ein zentrales «Werkzeug». Erwachsene als die kompetenteren Interaktionspartner sind dem Kind auf seinem Weg, die Regeln der sozialen Welt und die kulturellen Bedeutungen und Symbole zu erschließen, eine unverzichtbare Hilfe. Daneben kommt auch der Interaktion mit anderen Kindern als gleichrangigen Spielpartnern
eine große Bedeutung zu. Sie ermöglicht es dem Kind, unterschiedliche Standpunkte zu erkennen, zu verstehen und miteinander zu vergleichen, und darüber sein eigenes Verständnis von Phänomenen und Situationen qualitativ zu verändern.

Neben der Gestaltung einer Umwelt, die der kindlichen eigenaktiven Auseinandersetzung mit der Welt entgegenkommt, haben pädagogisch Tätige die Verantwortung, zu klären, welche Sachverhalte, Wertorientierungen, Kompetenzen und Wissensbestände für so wichtig und notwendig gehalten werden, um einen «Bildungskanon» für die frühe Kindheit zu formen und hierbei selber, in Form von sprachlichen Rahmungen und weiter führenden Impulsen, Unterstützung und Anregung zu geben.

Die Häufigkeit und Art und Weise, in der Erwachsene mit Säuglingen und Kleinkindern sprechen, gilt als einer der zentralen Einflussfaktoren auf frühe Bildungsprozesse (König, 2008). Übereinstimmend wird die Bedeutung eines regelmäßigen, fokussierten und entwicklungsangemessenen sprachlichen Inputs durch eine responsive und sprachlich kompetente Bezugsperson hervorgehoben, der erfolgt, während das Kind in Aktivitäten engagiert ist, die für es eine subjektive Bedeutsamkeit besitzen. Hierbei ist es von besonderer Bedeutung, inwieweit sich der Erwachsene mit seinen sprachlichen Angeboten auf die Kompetenzen des Kindes zur Informationsaufnahme und -verarbeitung einzustellen vermag. Diese Anpassung wird u.a. durch unterschiedliche Sprachstile realisiert (Grimm & Weinert, 2002, S. 547ff.). Im ersten Lebensjahr des Kindes erfüllt die «Ammensprache», auch «infant directed speech» genannt, wichtige sprachanbahnende und auch interaktionsregulierende Funktionen. Sie ist charakterisiert durch eine einfache Syntax und reduzierte Satzlängen, ein eingeschränktes Vokabular, längere Pausen, viele Wiederholungen und eine höhere Tonlage sowie durch die Übertreibung der prosodischen Konturen (Klann-Delius, 2004, S. 167).

Die Ammensprache sollte ca. zu Beginn des zweiten Lebensjahres von einem unterstützenden Sprachstil abgelöst werden. Um neue Wörter zu erlernen und die dialogischen Fähigkeiten zu erweitern, braucht das Kind jetzt Bezugspersonen, die darauf achten, wohin das Kind sieht, worauf es zeigt und was es fragt und die diese kindlichen Handlungen nicht nur durch einfaches Benennen, sondern durch erweiternde Umschreibungen verbal begleiten.
Die Bezugspersonen lenken die Aufmerksamkeit des Kindes auf einen begrenzten Ausschnitt der Umwelt und initiieren einen Dialog mit einer einfachen und sich häufig wiederholenden Struktur, die wie ein Gerüst wirkt, das den Worterwerb stützt. Außerdem signalisieren sie dem Kind in zunehmendem Maße, dass sie eine Antwort in Form von konventionellen Wörtern anstelle von Lautnachahmungen bzw. statt ungenauer Benennungen präzise Namen einfordern und eine aktive Teilnahme auch an längeren Dialogen erwarten. Für die Konsolidierung einer Wortbedeutung ist variable Spracherfahrung wichtig. Bezugspersonen bieten diese, indem sie im DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  nicht nur weitere Aspekte der Bedeutung eines Wortes erwähnen, sondern auch Beiträge des Kindes aufnehmen und erweitern. Es kommt zu einer ko-konstruktiven Aushandlung von Bedeutungen (Bruner, 1990).

Die Interaktionsqualität verschiebt sich im Lauf der ersten Lebensjahre von einem feinfühlig-nachgehenden zu einem stärker didaktisierend-vorbereitenden Modus. Im dritten Lebensjahr gilt deshalb ein lehrender Sprachstil («motherese») als bildungsförderlich, bei dem die Bezugsperson anregende Fragen stellt, eigene Äußerungen wiederholt und variiert sowie Äußerungen des Kindes aufgreift und deren Inhalt bestätigt, ihm dabei aber eine korrekte syntaktische Rückmeldung gibt und so als Sprachmodell fungiert. Erfahrungen mit erfolgreichen Sprachförderkonzepten bei Kindern mit langsamem Wortschatzaufbau (sogenannte «late talkers») weisen ebenso wie Interventionsstudien (u.a. Beller et al., 2007) auf weitere Aspekte eines bildungsförderlichen Sprachangebots hin. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Techniken des Stimulierens und Modellierens der frühkindlichen sprachlichen Aktivität beschrieben worden (Motsch, 2006). Dazu gehören die sprachliche Begleitung der eigenen Handlungen in Pflege- und Spielsituationen («selftalking»), die parallele Beschreibung kindlicher Intentionen, Gefühle und Bedürfnisse («parallel-talking») und frühe, regelmäßige und interaktiv gestaltete Bilderbuchbetrachtungen (Fletcher & Reese, 2005). Das mehrfach wiederholte Angebot eines begrenzten, auf die alltäglichen Handlungen und Interessen des Kindes und ihm wichtigen Situationen und Personen bezogenen Wortschatzes scheint im zweiten Lebensjahr eine außerordentlich erfolgreiche sprachförderliche didaktische Strategie zu sein (Ellis Weismer & Robertson, 2006; Tracy & Lemke, 2009). Darüber hinaus sind das Singen von Kinderliedern, dialogische Spiele, bei denen das Kind das Abwechseln von Initiative und Reaktion erfährt und das Aufsagen von Reimen, Versen und Fingerspielen didaktische Elemente, die sowohl spontan als auch in wiederkehrenden Situationen, z.B. vor dem Mittagessen oder beim Aufräumen als Rituale installiert werden sollten.

Diese sprachlichen Formate entsprechen nach Nelson (1996) dem «mimetischen Stadium», das Kinder vor dem vierten Lebensjahr kennzeichnet und das durch eine prä-symbolische, handlungsgebundene Repräsentationsweise und den pragmatisch-dialogischen Gebrauch von Sprache charakterisiert ist.

Dass spezifisch gestaltete verbale Interaktionen zwischen pädagogisch Tätigen und Kindern, die eine ausgeprägte dialogische Qualität besitzen, einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren für gelingende Entwicklungs- und Bildungsverläufe auch von Kindern im Kindergartenalter ist, wurde vor allem in den britischen REPEY- und EPPE-Studien (vgl. Siraj-Blatchford et al., 2002; Sylva et al., 2003) dokumentiert. Von besonderer Bedeutung hierbei sind wiederkehrende, intensive gedankliche Austauschprozesse, die je nach Situation vom Kind oder von der pädagogisch tätigen Person initiiert und vom jeweils anderen Gesprächspartner engagiert und mit der Bereitschaft, sich auf den anderen einzulassen, aufgenommen werden. Sie werden als «sustained shared thinking» – anhaltendes gemeinsames Nachdenken – bezeichnet und scheinen die kognitive und sprachliche Auseinandersetzung über die eigenen Handlungen und Vorstellungen massiv zu befördern (vgl. hierzu auch Gauvain & Rogoff, 1989).

Ein gelingender Dialog zwischen pädagogisch tätiger Person und Kind entsteht, wenn diese bereit ist, sich auf die Ebene und Perspektive des Kindes einzulassen und mit ergebnisoffenen Fragen dazu beiträgt, dass ein Handlungs- und Sinnzusammenhang rekonstruiert wird. Nach Siraj-Blatchford et al. (2002) geht es darum, die von Kindern initiierten Gespräche zu erweitern und durch gedankliche Impulse zu vertiefen, um ihnen Gelegenheiten zu bieten,
neue Erkenntnisse und Kompetenzen zu erwerben und die eigenen Lernprozesse zu reflektieren. Wissen wird damit weniger durch Instruktion, sondern durch die gemeinsame, intensive Beschäftigung mit einem Thema generiert. Schweinhart und Weikart (1997) gelang es in umfangreichen Langzeitstudien, nachhaltig positive Effekte von auf Dialogen basierenden Fachkraft-Kind-Interaktionen nachzuweisen.

Pädagogisch Tätige können nur dann als Dialogpartner verfügbar sein und in der beschriebenen Weise zu diesen komplexen kindlichen Bildungsprozessen beitragen, wenn genügend Zeit und Möglichkeiten im Tagesablauf vorhanden sind, um sich einzelnen Kindern oder kleinen Gruppen ungestört zuzuwenden. Eine derart verstandene Pädagogik ist auf angemessene Fachkraft-Kind-Relationen angewiesen, die die Voraussetzung dafür bilden, dass sowohl der Eins-zu-Eins-Kontakt mit Kindern als auch die Arbeit mit nach Entwicklungsstand oder Interesse flexibel zusammengesetzten Kleingruppen regelmäßig realisiert werden können. In großen Gruppen muss darauf geachtet werden, dass sich Untergruppen spontan bilden können oder bewusst für bestimmte Aktivitäten arrangiert werden.

 

Die Pädagogin / der Pädagoge als Arrangeur/in des Bildungsraums Kindertageseinrichtung


Erkenntnis ist in den ersten Lebensjahren eng an aktives Handeln, an Wahrnehmung, Motorik und Versprachlichung gebunden. Das Kind muss selbst aktiv sein können, durch sein Handeln, den Einsatz aller Sinne und körperlicher Empfindungen in Interaktion mit der Umwelt treten. Ist das Weltbild des Kindes in den ersten ein bis zwei Lebensjahren noch ein sensorisch-motorisches, was bedeutet, dass Kleinkinder durch Klettern und Kriechen, Rutschen und Rennen ihr Denken und ihre Sprache weiterentwickeln, entwickelt sich das Denken ab dem zweiten Lebensjahr zunehmend als verinnerlichtes Handeln. Das Entwickeln von Sinn und Bedeutung ist hierbei eine Leistung, bei der Kinder nicht lediglich Vorhandenes abbilden oder übernehmen. Unter Rückgriff auf eigene Erfahrungen und bekannte kulturelle Sinnkontexte setzen sie sich handelnd, empfindend, denkend und in schöpferischer Form in Bezug zu den Phänomenen ihrer Umwelt und zu anderen Menschen. Vorstellungsmuster und Handlungsmöglichkeiten werden durch kreatives Erproben und Spielen ausdifferenziert, verändert oder völlig verworfen. So konstruieren Kinder Erkenntnisse und Bedeutungen mit immer neuen Facetten und schaffen sich in eigenaktiver Aneignungs- und Ausdruckstätigkeit selbst die Strukturen, die ihr Handeln und Erkennen bestimmen und bereichern (Viernickel, 2000). Die schöpferischen, kreativen Aspekte dieser Bildungsprozesse zeigen sich besonders im symbolischen Spiel und der Fantasietätigkeit.

Nach Hohmann und Weikart (1995) brauchen Kinder für dieses aktive Lernen die Möglichkeit, unmittelbare Erfahrungen in ihrer Umwelt machen zu können. Die Rolle der Erwachsenen besteht nun darin, für diese Lerngelegenheiten zu sorgen und ihnen einen breiten Erfahrungsreichtum zu ermöglichen. Schäfer (2005) formuliert, dass Kinder in einer anregenden Lernumgebung nicht motiviert werden müssen, sie ergreifen selbst die Initiative.

Pädagoginnen und Pädagogen haben die Aufgabe und Verantwortung, durch Raum- und Zeitgestaltung eine Lebenswelt in der Kindertageseinrichtung zu schaffen, die den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder entspricht und ihnen Gelegenheiten für differenzierte Wahrnehmungen, interessante und herausfordernde Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten sowie forschendes Lernen in der Zone der nächsten Entwicklung (Wygotski, 1987) gibt. Diese Lebensumwelt ist auch eine eigene Bildungs- und Lernkultur, die kulturelle Praktiken, Kommunikations- und symbolische Ausdrucksformen repräsentiert, praktiziert und anbietet. Durch Auswahl von Materialien, Büchern und Angeboten entstehen Möglichkeiten, kulturelle Kompetenzen zu entwickeln und damit an Kultur und Gesellschaft teilhaben zu können. Die pädagogisch Tätigen treffen hier Entscheidungen, wie Kindern Welt gezeigt werden soll (vgl. Mollenhauer, 1983, S. 52ff.), und Kinder orientieren sich an eben jenen Sinngebungen und Strukturierungen, die diese – vor allem im Kontext tragfähiger emotionaler Beziehungen – ihnen anbieten. Sie enthalten zu einem großen Teil gesellschaftlich anerkannte und konsensfähige Übereinkünfte, sodass ein Kind über diesen Weg auch permanent mit den Normen, Regeln, Wissensbeständen und Praktiken seines Kulturkreises bzw. Lebensraumes in Berührung kommt.

Kulturelle Bildung bedeutet in diesem Sinne nicht in erster Linie die Beschäftigung mit Kulturgütern, sondern das «Hineinwachsen, Wahrnehmen und sich Auseinandersetzen mit kulturellen Lebensformen und Sinngestaltungen in ihrer Form- und Bedeutungsvielfalt» (vgl. Stenger, 2010, 51). Die kulturell geprägten Praktiken, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster (Begrüßungen, Essen, Morgenkreise, Tagesrhythmen ...) werden ebenso wie die Kulturtechniken des Erzählens, Lesens, Schreibens, Ordnens, Vergleichens oder Rechnens für Kinder in Alltagssituationen erfahrbar und als eigene Erfahrungen verarbeitbar. Parallel hierzu sind sie an der gemeinsamen Konstruktion kulturellen Sinns über die Medien bildnerischen Gestaltens, der Musik oder der Sprache direkt und unmittelbar beteiligt.

Das Schaffen von anregenden Lernumwelten bezieht sich demnach nicht nur auf die physischen, also räumlichen und materiellen Gegebenheiten, sondern auch auf die interaktiven. Es müssen ausreichend Gelegenheiten vorhanden sein, um mit Kindern und Erwachsenen in einen intensiven Austausch zu treten, und darüber neue Erfahrungen zu machen. Hohmann und Weikart (1995) betonen die Bedeutung der Gleichzeitigkeit von anregender materieller und intellektueller Umwelt («physical and intellectual environment»). Dies wiederum setzt auf Seiten der Erzieherinnen und Erzieher eine reflektierte pädagogische Planung und eine systematische Beobachtung der kindlichen Entwicklungsverläufe voraus.

Jedes Kind ist in gewisser Weise einzigartig in seinem Zugriff auf Weltphänomene, seine aktuellen Bedürfnisse und Interessenslagen. Zur Planung und Gestaltung von Bildungsangeboten ist die Kenntnis von typischerweise von Kindern eines bestimmten Entwicklungsalters zu erwartenden Themen bzw. Entwicklungsschritten zwar eine notwendige, jedoch keine hinreichende Basis. Um Kinder mit ihren individuellen Zugängen wahrzunehmen und um ihre Themen erkennen und beantworten zu können, bedarf es genauer und regelmäßiger Beobachtungen sowie ihrer Dokumentation und Auswertung. Siraj-Blatchford et al. Sprechen vom «framing» (2002, S. 24ff.), als pädagogischem Rahmen, zu dem unter anderem die Beobachtung der kindlichen Aktivitäten und darauf aufbauend die Gestaltung des pädagogischen Alltags sowie das Angebot von Projekten gehören.

Beobachten und Dokumentieren müssen deshalb als Fachaufgaben einen festen Platz im Arbeitsalltag haben. Ergänzend zur Achtung der Persönlichkeit eines jeden Kindes und seiner individuellen Zugänge sind die jeweilige Lebensgeschichte und Lebensbedingungen einzubeziehen, die sich aus einer Mischung zahlreicher Komponenten zusammensetzen wie der Familienkonstellation und dem Umgangs- und Erziehungsstil in der Familie, ihrer sozioökonomischen Situation, ihrer Einbindung in soziale Netzwerke und dem kulturellen Hintergrund.

Dabei gilt der Grundsatz, Unterschiede anzuerkennen und als Potenziale zu verstehen. Der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Familien kommt deshalb ebenfalls eine besondere Bedeutung im Kontext der erfolgreichen Umsetzung des Bildungsauftrages zu.

Die Basis bildungsförderlicher Arrangements in Kindertageseinrichtungen bildet demnach das Zusammenspiel von Wissen über die Bildungsfähigkeit und eigenaktive Aneignungstätigkeit junger Kinder, der spezifischen Kenntnis der individuellen Voraussetzungen, Interessen und Themen jedes einzelnen Kindes und seines familiären Hintergrundes sowie eines im Team immer wieder auszuhandelnden und weiter zu entwickelnden Konsenses über zentrale pädagogische Leitlinien und Ziele, die gleichzeitig Entscheidungen darüber nach sich ziehen, welche Ausschnitte bzw. Entwürfe von «Kultur» und «Gesellschaft» Kindern in der Tageseinrichtung gezeigt werden sollen. Aus diesem Anforderungsprofil ergibt sich zwingend, dass ein gewisser Anteil der Arbeitszeit auf Tätigkeiten entfallen muss, die für dessen Erfüllung notwendig und zielführend sind, also Zeit, die für sogenannte mittelbare pädagogische Arbeitsaufgaben anfällt und zur Verfügung gestellt werden muss, wie das Beobachten und Dokumentieren, die Zusammenarbeit mit Familien oder den fachlichen Austausch im Team.

 


1.2 Soziologische Perspektiven

Veränderung familiärer Lebenswelten

Gesellschaftliche und soziale Prozesse haben in den vergangenen Jahrzehnten die Lebenswirklichkeit von Familien und Kindern verändert, und das Verhältnis von Familien und frühpädagogischen Institutionen ist im Kontext dieser gesellschaftlichen Wandlungsprozesse neu zu bewerten. Die Entwicklungen in Deutschland sind dabei weitgehend parallel zu den Trends in anderen westeuropäischen Ländern verlaufen, was sich u.a. am Rückgang der Geburten, dem Anstieg von Scheidungen bzw. einer Stabilisierung auf hohem Niveau in den letzten zehn Jahren und dem Anstieg der mütterlichen Erwerbstätigkeitsquote festmachen lässt (Eurostat, 2013). Nirgendwo in Europa ist die Geburtenrate niedriger als in Deutschland; dabei sind Familien nach wie vor die wichtigsten Orte der Akkumulation und Weitergabe von sozialem und kulturellem Kapital (vgl. Büchner & Brake, 2007), denen ungeachtet ihrer heterogenen Ausdifferenzierungen auch eine zentrale Funktion für das Funktionieren demokratischer und marktwirtschaftlicher Gesellschaften zukommt. Hier werden «nicht nur die Grundlagen des Humanvermögens einer Gesellschaft geschaffen, sondern auch die Basis lebenslanger Generationensolidarität und der Bereitschaft, Fürsorge für andere zu übernehmen» (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2006, S. 245). Dies erfordert eine ständige gemeinsame «Herstellungsleistung» aller Mitglieder der Familie, denn die Gestaltung des familialen Zusammenhalts ist aufwändig, risikoreich und muss ständig neu gelingen» (Diller, 2006, S. 31).

Unter den aktuellen Bedingungen individualisierter und flexibilisierter Lebensentwürfe und sich verändernder Berufswelten und Erwerbsbiographien sind diese Herstellungsleistungen erschwert. Familien – und hier vor allem berufstätige Mütter – müssen Erwerbsarbeit, Haus- und Familienarbeit balancieren. Sie tragen bei vergleichsweise geringerem Einkommen als Haushalte ohne Kinder höhere Wohnungs- und kinderbezogene Kosten (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2006). Ausgeprägt, vor allem in Haushalten mit zwei berufstätigen Elternteilen und bei Alleinerziehenden, ist chronischer Zeitdruck und -stress bei hohem zu leistendem organisatorischen Aufwand (AOK, 2014). Der Anstieg atypischer Arbeitszeitkonfigurationen reduziert die zur Verfügung stehende Zeit für bildungsrelevante Interaktionen zwischen Eltern und Kindern und kann sich negativ auf das Wohlbefinden und die Entwicklung der Kinder auswirken (vgl. Han, 2005; Strazdins et al., 2006). Dabei verfügen Familien in sehr unterschiedlichem Ausmaß über notwendige psychische, soziale und materielle Ressourcen. In bestimmten Familienkonstellationen und –situationen sind die Akteure von der Verfügung über Ressourcen stärker als andere abgeschnitten und sehen sich einem überdurchschnittlichen Armutsrisiko gegenüber gestellt; dies gilt u.a. für Familien mit einem alleinerziehenden Elternteil (Lenze, 2014), Mehrkinderfamilien und Familien mit Migrationshintergrund (ebd, S. 38ff.). Dies geht mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einher, für die dort aufwachsenden Kinder lediglich suboptimale Lebens- und Entwicklungsbedingungen bereitstellen zu können. Um die mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen einhergehenden Belastungen und Disparitäten auszugleichen und die Lebensbedingungen aller Familien zu verbessern, bedarf es unter anderem einer funktionierenden und den individuellen Bedarfen angepassten familienergänzenden Infrastruktur. Es gilt, diese so vorzuhalten und auszugestalten, dass sie für alle Kinder und Familien erreichbar ist und als unterstützende Option wahrgenommen werden kann, und dass die mit ihr verbundenen Aspirationen in Bezug auf die avisierten Erziehungs- und Bildungsziele für die betreuten Kinder auch tatsächlich eingelöst werden können.

 

Zugangschancen und Inanspruchnahmemuster


Die Familie ist für ein Kind nach wie vor die erste und bedeutsamste Sozialisationsinstanz, und Eltern stellen die wichtigste Ressource für die kindliche Entwicklung dar. Neben der Familie bewegen sich Kinder jedoch heute zunehmend in verschiedenen, miteinander in Wechselwirkungsbeziehungen stehenden sozialen Wirklichkeiten. Kindertageseinrichtungen stellen dabei die zahlenmäßig bedeutendste familienergänzende Infrastruktur vor Schuleintritt dar. Entscheidungen, diese Infrastruktur in Anspruch zu nehmen, werden nicht nur, aber auch durch das reale Platzangebot im jeweiligen Nahraum beeinflusst, sondern unterliegen weiteren Einflussfaktoren. Die Wahrscheinlichkeit für ein Kind, eine Kindertageseinrichtung zu besuchen, erhöht sich bei Erwerbstätigkeit der Mutter bzw. beider Elternteile, einem höheren Bildungsniveau und einem höheren Einkommen der Eltern und verringert sich, wenn mehrere Geschwisterkinder im Haushalt leben (vgl. u.a. Becker & Lauterbach, 2010; Kreyenfeld & Krapf, 2010). Insbesondere bei Kindern in den ersten drei Lebensjahren zeigt sich ein Herkunftseffekt, der sich erst mit zunehmendem Alter der Kinder verliert: Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus bildungsfernen Milieus nehmen – auch bei Kontrolle des mütterlichen Erwerbsstatus – seltener als Kinder ohne Migrationshintergrund oder Kinder aus bildungsaffinen Elternhäusern die Angebote öffentlicher Erziehung, Bildung und Betreuung wahr (vgl. Fuchs-Rechlin & Bergmann, 2014). Die Gründe hierfür werden sowohl im unterschiedlichen, milieuspezifischen Erwerbsverhalten von Müttern als auch in tradierten Erziehungsvorstellungen und Kindheits- und Familienbildern vermutet (ebd.; vgl. Geier & Riedel, 2008). Auch in deutschen Familien führen teilweise tief verwurzelte Überzeugungen dazu, dass familienergänzende Angebote für Kinder in den ersten drei Lebensjahren nach wie vor zwar als Unterstützungsleistung zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder als sekundärpräventive Maßnahme für Kinder aus wenig privilegierten bzw. bildungsfernen Familien legitimiert werden, ihre generellen Beiträge zur Entwicklungsförderung aller Kinder und ihre Effekte auf Bildungsprozesse jedoch noch nicht allgemein anerkannt sind.

 

Funktionswandel von Kindertageseinrichtungen


Der Besuch einer Kindertageseinrichtung oder Betreuung durch eine Tagespflegeperson ist für Kinder heute zum Bestandteil der Normalbiographie geworden. Zum 1. März 2014 wurden in Deutschland insgesamt über 3,4 Millionen Kinder unter 14 Jahren in einer Kindertageseinrichtung oder durch eine Tagesmutter beziehungsweise einen Tagesvater betreut, und dies mit im Vergleich zu früheren Jahren wachsenden täglichen Zeitumfängen (Statistisches Bundesamt, 2014, S. 115-116). Mit der Einsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz (§24 Abs. 3 SGB VIII n.F.) im Jahre 1996 entwickelte sich die Besuchsquote kontinuierlich nach oben. In der Altersgruppe der 3- bis unter 6-Jährigen nahmen im März 2014 die Eltern von rund 1,95 Millionen Kindern ein Angebot der Kindertagesbetreuung in Anspruch; dies entspricht einer Besuchsquote von 93,5 %. Im Jahr 2007 einigten sich zudem Bund, Länder und Kommunen, ein bedarfsgerechtes Angebot der Kindertagesbetreuung für Unterdreijährige bis 2013 bereitzustellen. In der Folge wurden erhebliche Ausbauanstrengungen unternommen, die vom Bund finanziell unterstützt wurden. Seit dem 1. August 2013 ist zudem ein Rechtsanspruch auf Förderung in einer Kindertageseinrichtung oder in der Kindertagespflege für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr in Kraft getreten (§24 Abs. 1 SGB VIII n.F.). Die Besuchsquote der Kinder unter drei Jahren (der Anteil aller Kinder in Kindertagesbetreuung bezogen auf die jeweilige Bevölkerungsgruppe) erhöhte sich in Folge dieser Entwicklungen in den vergangenen sieben Jahren von 15,5 % im März 2007 auf 32,3 % im März 2014, bei deutlichen Unterschieden zwischen den östlichen und westlichen Bundesländern (ebd., S. 114).

Immer mehr Kinder verbringen somit vom ersten Lebensjahr an insgesamt gesehen immer mehr Zeit in Kindertageseinrichtungen als früher. Was sie in dieser Zeit erleben, lernen und erfahren, hat sich seit Beginn der institutionellen Betreuung vor ca. 150 bis 200 Jahren allerdings massiv verändert. Zunächst wurden Kinder«bewahranstalten» mit einem klaren sozial- bzw. familienfürsorgerischen Anspruch und als Antwort auf die drohende Verwahrlosung von Kleinkindern in proletarischen Familien konzipiert. Dies geschah mit einer doppelten Zielsetzung: der Ermöglichung mütterlicher Erwerbstätigkeit und damit einhergehender ökonomischer und sozialer Stabilisierung der Unterschichthaushalte sowie der Hinführung der Kinder zu einer ihrer Klassenlage entsprechenden Unterordnungsmentalität und Selbstgenügsamkeit.

Mit dem Richtungsstreit zwischen Fröbelianern und konfessionell orientierten Einrichtungen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. Erning, Neumann & Reyer, 28 FACHKRAFT-KIND-RELATIONEN UND GRUPPENGRÖSSEN 1987) wurde eine bis heute nachzuzeichnende Diskussion um die vorrangige Funktion öffentlicher Kleinkinderziehung eröffnet.

Heute ist im §22 Abs. 3 SGB VIII ein dreifacher Auftrag festgehalten: die Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes, wobei sich das Leistungsangebot pädagogisch und organisatorisch an den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien orientieren soll. Darin kann man eine Integration des gesellschaftsbezogenen Motivs der Entlastung von Familien von ihrer Betreuungsaufgabe – u.a. zur Ermöglichung mütterlicher Erwerbstätigkeit – bzw. der Unterstützung bei ihren Erziehungsaufgaben und des pädagogischen Motivs erkennen, Kinder in ihrer Entwicklung zu selbstbestimmten und gemeinschaftsfähigen Individuen zu fördern und alters- bzw. entwicklungsangemessene Bildungsangebote bereitzustellen.

Diese doppelte Zielsetzung stellt verschiedene und manchmal widersprüchliche Anforderungen an die Ausgestaltung öffentlich verantworteter familienergänzender Angebote. Sie sollen erstens eine Infrastruktur zur Verfügung stellen, die Familien die Balance zwischen beruflichen und familiären Leistungen erleichtert. Zweitens tragen sie durch die Gestaltung der pädagogischen Umwelt und der pädagogischen Interaktionen unmittelbar zur Bildungsförderung von Kindern bei, wobei sie durch die Bereitstellung von «Gelegenheitsstrukturen und Gestaltungschancen zur Aneignung von basalen Kompetenzen und elementaren Kulturtechniken, die nicht in allen sozialen Milieus angemessen weitergegeben und angeeignet werden können» (Büchner, 2008, S. 191) sowohl kompensatorisch als auch primärpräventiv wirksam werden sollen. Und drittens sollen sie Eltern angesichts zunehmender Verunsicherung und des verbreiteten Fehlens familiärer Netzwerke bei ihren Erziehungsaufgaben durch Beratung, Austausch und Übermittlung an Experten und Fachdienste konkrete Unterstützung anbieten und so öffentliche und private Bildung und Erziehung sinnvoll miteinander zu verbinden (vgl. von Hehl, 2011).

Allerdings kann und darf die öffentlich verantwortete Erziehung und Bildung Eltern nicht entmündigen oder vollständig von ihren Elternpflichten entbinden. Ziel ist vielmehr, eine Kultur des Aufwachsens zu etablieren, in der sich alle beteiligten Institutionen der Verantwortung für die nachfolgende Generation bewusst sind. Die Basis hierfür bieten eine transparente, verlässliche und bedarfsorientierte Angebotsstruktur, die gemeinsame Orientierung am Wohlbefinden und an der Entwicklungsförderung der Kinder und die Überwindung von Anspruchshaltungen und ideologisch gespeisten Setzungen von Überlegenheit oder Minderwertigkeit des einen gegenüber des anderen Betreuungsarrangements.

Das «sozialpädagogische Bildungskonzept» deutscher Kindertageseinrichtungen wurde in dem OECDOECD||||| OECD beinhaltet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und besteht aus 34 Mitgliedsstaaten, die sich der Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlen. Die Organisation wurde 1961 gegründet und hatte den Wiederaufbau Europas als Ziel.  -Länderbericht zur Politik der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Betreuung in der Bundesrepublik Deutschland (Organisation for Economic Cooperation and Development (OEDC), 2004, S. 23f.) positiv herausgestellt; gleichwohl standen der gelungenen Integration von Erziehung, Bildung und Betreuung auf konzeptioneller Ebene bis vor wenigen Jahren in der Umsetzung eine Vernachlässigung des Bildungsaspekts und seiner Realisierung im Rahmen einer ganzheitlichen Pädagogik gegenüber. Fälschlicherweise wurden Erziehung, Bildung und Betreuung geradezu als aufsteigende Abfolge im kindlichen Lebenslauf angesehen, nämlich Betreuung und Pflege als besondere Aufgabe und Herausforderung in der frühkindlichen, besonders in der vorsprachlichen Phase; Erziehung als Einübung von Regeln und Verhaltensweisen in der Kleinkindphase, insbesondere im Vorschulalter sowie Bildung als spezifische Aufgabe und Herausforderung der Schule bzw. ab dem Schulalter (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005, S. 48).

Heute ist der Bildungsauftrag des Elementarbereichs klarer gefasst als je zuvor. Orientiert an dem gemeinsamen Rahmen der Jugend- und KultusministerkonferenzKultusministerkonferenz|||||Die KMK  ist die ständige Konferenz der Länder in der BRD, wurde 1948 gegründet und ging aus der "Konferenz der deutschen Erziehungsminister" hervor. Sie basiert auf dem freiwilligen Zusammenschluss der zuständigen Minister/Senatoren der Länder für Bildung, Erziehung und Forschung. Da nach dem Grundgesetzt und sog." Kulturhoheit der Länder" die Zuständigkeiten für das Bildungswesen bei den einzelnen Ländern liegt, behandelt die KMK Angelegenheiten von  überregionaler Bedeutung mit dem Ziel einer "gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung, sowie der Vertretung gemeinsamer Anliegen". en (Jugendministerkonferenz & Kultusministerkonferenz, 2004) sind in allen Bundesländern curriculare Vorgaben für den frühpädagogischen Bereich entwickelt worden. In Bildungsplänen, -vereinbarungen, -empfehlungen oder -programmen sind in unterschiedlicher Detailliertheit und mit unterschiedlich hohem Verbindlichkeitsgrad Bildungsziele und Anforderungen an eine bildungsförderliche institutionelle Umwelt formuliert worden. Diese Entwicklung spiegelt die oben detaillierter ausgeführte Erkenntnis, dass bereits in früher Kindheit wichtige Lernprozesse stattfinden und dass vorschulische Institutionen durch die Qualität ihrer Arbeit somit Weichenstellungen vornehmen, die für die weitere Bildungsbiographie von Kindern entscheidend sein können. Weder die Reflexion über Bildungsprozesse noch deren Niederlegung in programmatischen Schriften bietet allerdings die Gewähr einer angemessenen Umsetzung in der konkreten Alltagspraxis von Kindertageseinrichtungen. Diese verlangt neben der kritischen Auseinandersetzung des Teams mit dem Tagesablauf, dem Raumkonzept, Materialangebot sowie den pädagogischen Angeboten und Verhaltensweisen der pädagogisch Tätigen ebenso die Bereitstellung angemessener struktureller Rahmenbedingungen.


1.3 Zusammenfassung und Fazit


Der Besuch einer Kindertageseinrichtung ist für Kinder heute zum Bestandteil der Normalbiographie geworden und immer mehr Kinder verbringen insgesamt gesehen immer mehr Zeit in Kindertageseinrichtungen als früher. Gleichzeitig sehen sich Familien häufig hohen Anforderungen gegenübergestellt, die von ihnen – insbesondere wenn sie unter erschwerten Bedingungen agieren müssen – nicht immer erfolgreich bewältigt werden können. Um die angesichts individualisierter und flexibilisierter Lebensentwürfe und sich verändernder Berufswelten und Erwerbsbiographien auftretenden Belastungen und Disparitäten auszugleichen und die Lebensbedingungen aller Familien zu verbessern, bedarf es einer funktionierenden und den individuellen Bedarfen angepassten familienergänzenden Infrastruktur.

Zugangsmöglichkeiten zu und Inanspruchnahmemuster von öffentlicher Kindertagesbetreuung werden durch mehrere Faktoren beeinflusst, u.a. durch den mütterlichen Erwerbsstatus, das Bildungsniveau, das Haushaltseinkommen, die Kinderzahl sowie elterliche Orientierungen und tradierte Kindheits- und Familienbilder. Insbesondere bei Kindern in den ersten drei Lebensjahren zeigt sich auch ein Herkunftseffekt.

Vor diesem Hintergrund müssen Anstrengungen auch dahingehend unternommen werden, das öffentliche familienergänzende Betreuungsangebot so vorzuhalten und auszugestalten, dass es für alle Kinder und Familien erreichbar ist und als unterstützende Option wahrgenommen werden kann, und dass die mit ihm verbundenen Aspirationen in Bezug auf die avisierten Erziehungs- und Bildungsziele für die betreuten Kinder auch tatsächlich eingelöst werden können.

Die ersten Lebensjahre sind durch schnelle und vielfältige Entwicklungs- und Bildungsprozesse gekennzeichnet, die sowohl von dem Individuum als auch von der es umgebenden sozialen und materiellen Umwelt beeinflusst werden. Da neben der Familie in zunehmendem Maße auch Kindertageseinrichtungen eine solche soziale und materielle Umwelt bilden, muss dafür Sorge getragen werden, dass diese den Bildungsbedürfnissen und -fähigkeiten der Kinder in möglichst optimaler Weise Rechnung trägt.

Hierfür ist es notwendig, dass Kinder Gelegenheit erhalten, mit den für sie zuständigen Pädagogen/innen positive emotionale Beziehungen aufzubauen, die ihnen Sicherheit verleihen und sie dabei unterstützen, ein positives Selbstbild und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen zu entwickeln. Solche Bindungs- oder bindungsähnlichen Beziehungen sind eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich junge Kinder voller Aufmerksamkeit ihrer Umwelt zuwenden und diese aktiv und konzentriert erkunden können und wollen. Die Tageseinrichtungen sind darüber hinaus Träger und Vermittler kultureller Praxen und Bedeutungen, über und durch die Kinder sich tagtäglich kulturell bedeutsame Wissensbestände erschließen.

In diesen Prozessen übernehmen pädagogisch Tätige mehrere miteinander zusammenhängende, aber dennoch zu differenzierende Funktionen: als Beziehungspartner/in, als Ko-Konstrukteur/in sprachlicher und kultureller Bedeutungen und Wissensbestände sowie als Arrangeur/in des Bildungsraums Kita, der Eigenaktivität und forschendes Lernen ermöglicht und fördert.

Die feinfühlig-responsive bzw. dialogische Interaktion zwischen pädagogisch Tätigen und Kindern ist ein zentrales Qualitätsmerkmal pädagogischen Handelns. Die Häufigkeit und Art und Weise, in der Erwachsene mit Säuglingen und Kleinkindern sprechen, gilt aber auch als einer der zentralen Einflussfaktoren auf frühe sprachliche und kognitive Bildungsprozesse, wobei der didaktischen ebenso wie der dialogischen Komponente eine große Bedeutung zukommt. In Kindertageseinrichtungen müssen demnach strukturelle Bedingungen gegeben sein, unter denen die Pädagogen/innen zu zuverlässigen Bezugspersonen und zugewandten Interaktionspartnern werden und die damit verbundenen Funktionen zuverlässig erfüllen können. Darüber hinaus obliegt es den pädagogisch Tätigen, die Kita-Umwelt so zu gestalten, dass diese der kindlichen Eigenaktivität und Neugiermotivation entgegenkommt und nicht nur Sicherheit gebende, sondern auch Exploration und Welterkundung fördernde Qualitäten besitzt. Hierzu ist es notwendig, dass pädagogisch Tätige über Beobachtung, Dokumentation und die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Familien spezifisches Wissen über die individuellen Voraussetzungen, Interessen und Themen jedes einzelnen Kindes und seines familiären Hintergrundes erlangen und dieses in Planungs- und Entwicklungsprozesse sowie konzeptionelle Entscheidungen integrieren. Hierfür ist mittelbare pädagogische Arbeitszeit, die nicht im direkten Kontakt mit den Kindern geleistet wird, zwingend erforderlich.