Grundlagen der Frühkindlichen Bildung

Entwicklungspsychologische, pädagogische und soziologische Perspektiven

Inhaltsverzeichnis

  1. Entwicklungspsychologische und pädagogische Grundlagen
  2. Soziologische Perspektiven
  3. Zusammenfassung und Fazit

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1.2 Soziologische Perspektiven

Veränderung familiärer Lebenswelten

Gesellschaftliche und soziale Prozesse haben in den vergangenen Jahrzehnten die Lebenswirklichkeit von Familien und Kindern verändert, und das Verhältnis von Familien und frühpädagogischen Institutionen ist im Kontext dieser gesellschaftlichen Wandlungsprozesse neu zu bewerten. Die Entwicklungen in Deutschland sind dabei weitgehend parallel zu den Trends in anderen westeuropäischen Ländern verlaufen, was sich u.a. am Rückgang der Geburten, dem Anstieg von Scheidungen bzw. einer Stabilisierung auf hohem Niveau in den letzten zehn Jahren und dem Anstieg der mütterlichen Erwerbstätigkeitsquote festmachen lässt (Eurostat, 2013). Nirgendwo in Europa ist die Geburtenrate niedriger als in Deutschland; dabei sind Familien nach wie vor die wichtigsten Orte der Akkumulation und Weitergabe von sozialem und kulturellem Kapital (vgl. Büchner & Brake, 2007), denen ungeachtet ihrer heterogenen Ausdifferenzierungen auch eine zentrale Funktion für das Funktionieren demokratischer und marktwirtschaftlicher Gesellschaften zukommt. Hier werden «nicht nur die Grundlagen des Humanvermögens einer Gesellschaft geschaffen, sondern auch die Basis lebenslanger Generationensolidarität und der Bereitschaft, Fürsorge für andere zu übernehmen» (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2006, S. 245). Dies erfordert eine ständige gemeinsame «Herstellungsleistung» aller Mitglieder der Familie, denn die Gestaltung des familialen Zusammenhalts ist aufwändig, risikoreich und muss ständig neu gelingen» (Diller, 2006, S. 31).

Unter den aktuellen Bedingungen individualisierter und flexibilisierter Lebensentwürfe und sich verändernder Berufswelten und Erwerbsbiographien sind diese Herstellungsleistungen erschwert. Familien – und hier vor allem berufstätige Mütter – müssen Erwerbsarbeit, Haus- und Familienarbeit balancieren. Sie tragen bei vergleichsweise geringerem Einkommen als Haushalte ohne Kinder höhere Wohnungs- und kinderbezogene Kosten (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2006). Ausgeprägt, vor allem in Haushalten mit zwei berufstätigen Elternteilen und bei Alleinerziehenden, ist chronischer Zeitdruck und -stress bei hohem zu leistendem organisatorischen Aufwand (AOK, 2014). Der Anstieg atypischer Arbeitszeitkonfigurationen reduziert die zur Verfügung stehende Zeit für bildungsrelevante Interaktionen zwischen Eltern und Kindern und kann sich negativ auf das Wohlbefinden und die Entwicklung der Kinder auswirken (vgl. Han, 2005; Strazdins et al., 2006). Dabei verfügen Familien in sehr unterschiedlichem Ausmaß über notwendige psychische, soziale und materielle Ressourcen. In bestimmten Familienkonstellationen und –situationen sind die Akteure von der Verfügung über Ressourcen stärker als andere abgeschnitten und sehen sich einem überdurchschnittlichen Armutsrisiko gegenüber gestellt; dies gilt u.a. für Familien mit einem alleinerziehenden Elternteil (Lenze, 2014), Mehrkinderfamilien und Familien mit Migrationshintergrund (ebd, S. 38ff.). Dies geht mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einher, für die dort aufwachsenden Kinder lediglich suboptimale Lebens- und Entwicklungsbedingungen bereitstellen zu können. Um die mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen einhergehenden Belastungen und Disparitäten auszugleichen und die Lebensbedingungen aller Familien zu verbessern, bedarf es unter anderem einer funktionierenden und den individuellen Bedarfen angepassten familienergänzenden Infrastruktur. Es gilt, diese so vorzuhalten und auszugestalten, dass sie für alle Kinder und Familien erreichbar ist und als unterstützende Option wahrgenommen werden kann, und dass die mit ihr verbundenen Aspirationen in Bezug auf die avisierten Erziehungs- und Bildungsziele für die betreuten Kinder auch tatsächlich eingelöst werden können.

 

Zugangschancen und Inanspruchnahmemuster


Die Familie ist für ein Kind nach wie vor die erste und bedeutsamste Sozialisationsinstanz, und Eltern stellen die wichtigste Ressource für die kindliche Entwicklung dar. Neben der Familie bewegen sich Kinder jedoch heute zunehmend in verschiedenen, miteinander in Wechselwirkungsbeziehungen stehenden sozialen Wirklichkeiten. Kindertageseinrichtungen stellen dabei die zahlenmäßig bedeutendste familienergänzende Infrastruktur vor Schuleintritt dar. Entscheidungen, diese Infrastruktur in Anspruch zu nehmen, werden nicht nur, aber auch durch das reale Platzangebot im jeweiligen Nahraum beeinflusst, sondern unterliegen weiteren Einflussfaktoren. Die Wahrscheinlichkeit für ein Kind, eine Kindertageseinrichtung zu besuchen, erhöht sich bei Erwerbstätigkeit der Mutter bzw. beider Elternteile, einem höheren Bildungsniveau und einem höheren Einkommen der Eltern und verringert sich, wenn mehrere Geschwisterkinder im Haushalt leben (vgl. u.a. Becker & Lauterbach, 2010; Kreyenfeld & Krapf, 2010). Insbesondere bei Kindern in den ersten drei Lebensjahren zeigt sich ein Herkunftseffekt, der sich erst mit zunehmendem Alter der Kinder verliert: Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus bildungsfernen Milieus nehmen – auch bei Kontrolle des mütterlichen Erwerbsstatus – seltener als Kinder ohne Migrationshintergrund oder Kinder aus bildungsaffinen Elternhäusern die Angebote öffentlicher Erziehung, Bildung und Betreuung wahr (vgl. Fuchs-Rechlin & Bergmann, 2014). Die Gründe hierfür werden sowohl im unterschiedlichen, milieuspezifischen Erwerbsverhalten von Müttern als auch in tradierten Erziehungsvorstellungen und Kindheits- und Familienbildern vermutet (ebd.; vgl. Geier & Riedel, 2008). Auch in deutschen Familien führen teilweise tief verwurzelte Überzeugungen dazu, dass familienergänzende Angebote für Kinder in den ersten drei Lebensjahren nach wie vor zwar als Unterstützungsleistung zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder als sekundärpräventive Maßnahme für Kinder aus wenig privilegierten bzw. bildungsfernen Familien legitimiert werden, ihre generellen Beiträge zur Entwicklungsförderung aller Kinder und ihre Effekte auf Bildungsprozesse jedoch noch nicht allgemein anerkannt sind.

 

Funktionswandel von Kindertageseinrichtungen


Der Besuch einer Kindertageseinrichtung oder Betreuung durch eine Tagespflegeperson ist für Kinder heute zum Bestandteil der Normalbiographie geworden. Zum 1. März 2014 wurden in Deutschland insgesamt über 3,4 Millionen Kinder unter 14 Jahren in einer Kindertageseinrichtung oder durch eine Tagesmutter beziehungsweise einen Tagesvater betreut, und dies mit im Vergleich zu früheren Jahren wachsenden täglichen Zeitumfängen (Statistisches Bundesamt, 2014, S. 115-116). Mit der Einsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz (§24 Abs. 3 SGB VIII n.F.) im Jahre 1996 entwickelte sich die Besuchsquote kontinuierlich nach oben. In der Altersgruppe der 3- bis unter 6-Jährigen nahmen im März 2014 die Eltern von rund 1,95 Millionen Kindern ein Angebot der Kindertagesbetreuung in Anspruch; dies entspricht einer Besuchsquote von 93,5 %. Im Jahr 2007 einigten sich zudem Bund, Länder und Kommunen, ein bedarfsgerechtes Angebot der Kindertagesbetreuung für Unterdreijährige bis 2013 bereitzustellen. In der Folge wurden erhebliche Ausbauanstrengungen unternommen, die vom Bund finanziell unterstützt wurden. Seit dem 1. August 2013 ist zudem ein Rechtsanspruch auf Förderung in einer Kindertageseinrichtung oder in der KindertagespflegeKindertagespflege|||||Kindertagespflege oder Tagespflege umfasst eine zeitweilige Betreuung von Jungen und Mädchen bei Tagesmüttern oder Tagesvätern. Nach dem Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2004 ist die Tagespflege neben der Tagesbetreuung in Kindertageseinrichtungen eine gleichwertige Form der Kindertagesbetreuung.  für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr in Kraft getreten (§24 Abs. 1 SGB VIII n.F.). Die Besuchsquote der Kinder unter drei Jahren (der Anteil aller Kinder in Kindertagesbetreuung bezogen auf die jeweilige Bevölkerungsgruppe) erhöhte sich in Folge dieser Entwicklungen in den vergangenen sieben Jahren von 15,5 % im März 2007 auf 32,3 % im März 2014, bei deutlichen Unterschieden zwischen den östlichen und westlichen Bundesländern (ebd., S. 114).

Immer mehr Kinder verbringen somit vom ersten Lebensjahr an insgesamt gesehen immer mehr Zeit in Kindertageseinrichtungen als früher. Was sie in dieser Zeit erleben, lernen und erfahren, hat sich seit Beginn der institutionellen Betreuung vor ca. 150 bis 200 Jahren allerdings massiv verändert. Zunächst wurden Kinder«bewahranstalten» mit einem klaren sozial- bzw. familienfürsorgerischen Anspruch und als Antwort auf die drohende Verwahrlosung von Kleinkindern in proletarischen Familien konzipiert. Dies geschah mit einer doppelten Zielsetzung: der Ermöglichung mütterlicher Erwerbstätigkeit und damit einhergehender ökonomischer und sozialer Stabilisierung der Unterschichthaushalte sowie der Hinführung der Kinder zu einer ihrer Klassenlage entsprechenden Unterordnungsmentalität und Selbstgenügsamkeit.

Mit dem Richtungsstreit zwischen Fröbelianern und konfessionell orientierten Einrichtungen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. Erning, Neumann & Reyer, 28 FACHKRAFT-KIND-RELATIONEN UND GRUPPENGRÖSSEN 1987) wurde eine bis heute nachzuzeichnende Diskussion um die vorrangige Funktion öffentlicher Kleinkinderziehung eröffnet.

Heute ist im §22 Abs. 3 SGB VIII ein dreifacher Auftrag festgehalten: die Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes, wobei sich das Leistungsangebot pädagogisch und organisatorisch an den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien orientieren soll. Darin kann man eine Integration des gesellschaftsbezogenen Motivs der Entlastung von Familien von ihrer Betreuungsaufgabe – u.a. zur Ermöglichung mütterlicher Erwerbstätigkeit – bzw. der Unterstützung bei ihren Erziehungsaufgaben und des pädagogischen Motivs erkennen, Kinder in ihrer Entwicklung zu selbstbestimmten und gemeinschaftsfähigen Individuen zu fördern und alters- bzw. entwicklungsangemessene Bildungsangebote bereitzustellen.

Diese doppelte Zielsetzung stellt verschiedene und manchmal widersprüchliche Anforderungen an die Ausgestaltung öffentlich verantworteter familienergänzender Angebote. Sie sollen erstens eine Infrastruktur zur Verfügung stellen, die Familien die Balance zwischen beruflichen und familiären Leistungen erleichtert. Zweitens tragen sie durch die Gestaltung der pädagogischen Umwelt und der pädagogischen Interaktionen unmittelbar zur Bildungsförderung von Kindern bei, wobei sie durch die Bereitstellung von «Gelegenheitsstrukturen und Gestaltungschancen zur Aneignung von basalen Kompetenzen und elementaren Kulturtechniken, die nicht in allen sozialen Milieus angemessen weitergegeben und angeeignet werden können» (Büchner, 2008, S. 191) sowohl kompensatorisch als auch primärpräventiv wirksam werden sollen. Und drittens sollen sie Eltern angesichts zunehmender Verunsicherung und des verbreiteten Fehlens familiärer Netzwerke bei ihren Erziehungsaufgaben durch Beratung, Austausch und Übermittlung an Experten und Fachdienste konkrete Unterstützung anbieten und so öffentliche und private Bildung und Erziehung sinnvoll miteinander zu verbinden (vgl. von Hehl, 2011).

Allerdings kann und darf die öffentlich verantwortete Erziehung und Bildung Eltern nicht entmündigen oder vollständig von ihren Elternpflichten entbinden. Ziel ist vielmehr, eine Kultur des Aufwachsens zu etablieren, in der sich alle beteiligten Institutionen der Verantwortung für die nachfolgende Generation bewusst sind. Die Basis hierfür bieten eine transparente, verlässliche und bedarfsorientierte Angebotsstruktur, die gemeinsame Orientierung am Wohlbefinden und an der Entwicklungsförderung der Kinder und die Überwindung von Anspruchshaltungen und ideologisch gespeisten Setzungen von Überlegenheit oder Minderwertigkeit des einen gegenüber des anderen Betreuungsarrangements.

Das «sozialpädagogische Bildungskonzept» deutscher Kindertageseinrichtungen wurde in dem OECDOECD||||| OECD beinhaltet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und besteht aus 34 Mitgliedsstaaten, die sich der Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlen. Die Organisation wurde 1961 gegründet und hatte den Wiederaufbau Europas als Ziel.  -Länderbericht zur Politik der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Betreuung in der Bundesrepublik Deutschland (Organisation for Economic Cooperation and Development (OEDC), 2004, S. 23f.) positiv herausgestellt; gleichwohl standen der gelungenen Integration von Erziehung, Bildung und Betreuung auf konzeptioneller Ebene bis vor wenigen Jahren in der Umsetzung eine Vernachlässigung des Bildungsaspekts und seiner Realisierung im Rahmen einer ganzheitlichen Pädagogik gegenüber. Fälschlicherweise wurden Erziehung, Bildung und Betreuung geradezu als aufsteigende Abfolge im kindlichen Lebenslauf angesehen, nämlich Betreuung und Pflege als besondere Aufgabe und Herausforderung in der frühkindlichen, besonders in der vorsprachlichen Phase; Erziehung als Einübung von Regeln und Verhaltensweisen in der Kleinkindphase, insbesondere im Vorschulalter sowie Bildung als spezifische Aufgabe und Herausforderung der Schule bzw. ab dem Schulalter (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005, S. 48).

Heute ist der Bildungsauftrag des Elementarbereichs klarer gefasst als je zuvor. Orientiert an dem gemeinsamen Rahmen der Jugend- und KultusministerkonferenzKultusministerkonferenz|||||Die KMK  ist die ständige Konferenz der Länder in der BRD, wurde 1948 gegründet und ging aus der "Konferenz der deutschen Erziehungsminister" hervor. Sie basiert auf dem freiwilligen Zusammenschluss der zuständigen Minister/Senatoren der Länder für Bildung, Erziehung und Forschung. Da nach dem Grundgesetzt und sog." Kulturhoheit der Länder" die Zuständigkeiten für das Bildungswesen bei den einzelnen Ländern liegt, behandelt die KMK Angelegenheiten von  überregionaler Bedeutung mit dem Ziel einer "gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung, sowie der Vertretung gemeinsamer Anliegen". en (Jugendministerkonferenz & Kultusministerkonferenz, 2004) sind in allen Bundesländern curriculare Vorgaben für den frühpädagogischen Bereich entwickelt worden. In Bildungsplänen, -vereinbarungen, -empfehlungen oder -programmen sind in unterschiedlicher Detailliertheit und mit unterschiedlich hohem Verbindlichkeitsgrad Bildungsziele und Anforderungen an eine bildungsförderliche institutionelle Umwelt formuliert worden. Diese Entwicklung spiegelt die oben detaillierter ausgeführte Erkenntnis, dass bereits in früher Kindheit wichtige Lernprozesse stattfinden und dass vorschulische Institutionen durch die Qualität ihrer Arbeit somit Weichenstellungen vornehmen, die für die weitere Bildungsbiographie von Kindern entscheidend sein können. Weder die Reflexion über Bildungsprozesse noch deren Niederlegung in programmatischen Schriften bietet allerdings die Gewähr einer angemessenen Umsetzung in der konkreten Alltagspraxis von Kindertageseinrichtungen. Diese verlangt neben der kritischen Auseinandersetzung des Teams mit dem Tagesablauf, dem Raumkonzept, Materialangebot sowie den pädagogischen Angeboten und Verhaltensweisen der pädagogisch Tätigen ebenso die Bereitstellung angemessener struktureller Rahmenbedingungen.