Bindung und Trennungsangst

Im Übergang von der Familie in die Kita

Inhaltsverzeichnis

  1. Entwicklung von Bindungsbeziehungen
  2. Trennungsangst und Trennungsschmerz
  3. Der Übergang von der Familie in die Kita oder Tagespflege
  4. So gelingt die Eingewöhnung
  5. Literatur

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So gelingt die Eingewöhnung

Ziel einer behutsamen Eingewöhnung muss es sein, dass das Kind – ausgehend von der sicheren Basis seiner primären Bindungsperson – die zunächst fremde Umgebung der Kindertageseinrichtung kennenlernen und zu seiner Bezugserzieherin Vertrauen fassen kann. Denn: Nur mit beruhigtem Bindungssystem können Kinder in außerfamiliärer Umgebung frei explorieren und stressfrei Bildungsangebote nutzen. Dabei ist es unabhängig von dem jeweiligen Eingewöhnungsmodell eine wesentliche Aufgabe der pädagogischen Fachkraft, eine wertschätzende Atmosphäre zu schaffen und dafür zu sorgen, dass jedes Kind seinen Platz in der Gesamtgruppe findet (Niesel & Griebel 2015).

Erprobte und bewährte Eingewöhnungsmodelle für die Kindertageseinrichtung und Tagespflege sind (1) das „Berliner Eingewöhnungsmodell“ (INFANS-Modell) von Laewen, Andres und Hédervári (2000) und (2) das „Münchner Modell“ von Beller (2002; vgl. auch Winner & Erndt-Doll 2009). Beide Modelle unterscheiden drei Phasen des Eingewöhnungsprozesses (Lorber & Hanf 2013, S. 115):

  • die „Kennenlernphase“ (mit Kind und Elternteil, das bei Bedarf das Kind versorgt und tröstet);
  • die „Sicherheitsphase“ (in der die Fachkraft zunehmend die kindliche Versorgung übernimmt, wenn das Kind dies zulässt; erste Trennung von Elternteil und Kind);
  • die „Vertrauensphase“ (Kind lässt sich von der Fachkraft versorgen und trösten, es exploriert und nimmt Kontakt zu anderen Kindern auf).

Die Anwesenheit der vertrauten Person aus der Familie in der Kennenlernphase ist wichtig, reicht aber später nicht aus, um den kindlichen Stress zu regulieren, der durch die Trennung von Elternteil und Kind entsteht. Vielmehr muss die Anwesenheit der vertrauten Person dazu genutzt werden, die Beziehung zur Fachkraft und zwischen Fachkraft und Kind aufzubauen und zu stärken (Ahnert 2010). Es ist wichtig, dass jedes Kind in jeder Phase der Eingewöhnung ausreichend Zeit und Unterstützung bekommt, um ein verlässliches emotionales Band zu „seiner“ Fachkraft zu knüpfen.

Vor allem bei Kindern, die noch wenig (positive) Trennungserfahrungen machen konnten oder die besonders schüchtern oder ängstlich sind, sollte eine längere Eingewöhnungszeit eingeplant werden. Damit sich die Fachkraft dem Kind mit ihrer vollen Aufmerksamkeit zuwenden kann, empfehlen sich eine zeitlich gestaffelte Aufnahme der Kinder und ein allmähliches Heranführen jedes neuen Kindes in die Kindergruppe und an gemeinsame Tagesroutinen (z. B. Mahlzeiten, Schlafen). Der Anpassungsprozess ist auch für das Kind leichter, wenn dieses zunächst mit seiner Bezugserzieherin vertraut werden kann, bevor es die anderen Fachkräfte kennenlernt (Hédervári-Heller 2010).

Bei der Bewältigung von Veränderungen, die mit dem Eintritt in die Kita verbunden sind, kommt es darauf an, das Kind und seine Eltern nicht zu überfordern oder zu verunsichern und durch die allmähliche Eingewöhnung sensibel an die neue Situation heranzuführen (Griebel & Niesel 2013). Hierzu gehört es auch, dass die Fachkraft die Ängste der Kinder („Wo ist meine Mama?“) und die Ängste der Eltern („Geht es meinem Kind gut, wenn ich nicht da bin?“) aufgreift und ihnen Sicherheit vermittelt. Unterstützend für das Kind kann auch ein Übergangsobjekt, z. B. ein Stofftier oder ein Gegenstand der Mutter, genutzt werden. Damit weiß das Kind: Meine Familie ist noch da, auch wenn ich in der Kita bin und sie nicht sehe (Gutknecht 2012). Ob eine Eingewöhnung erfolgreich war, kann man am Verhalten des Kindes erkennen. Wenn ein Kind zunehmend und sichtlich den Kita-Alltag genießen kann, wenn es sich für die Räume und Materialien in der Kita interessiert und sich aktiv in die Interaktionen mit anderen Kindern einbringt, dann ist es in der Einrichtung angekommen (Datler, Datler, Hover-Reisner 2010).

Ein deutliches Anzeichen von gelungener Eingewöhnung ist, wenn das Kind bei seiner Erzieherin Trost sucht und findet (Ahnert 2006, 2007): sich zum Beispiel in einer Überforderungssituation oder bei Müdigkeit an die Bezugserzieherin wendet, von ihr auf den Schoß oder Arm nehmen lässt, dort „Sicherheit tanken“ kann und von da aus wieder explorieren möchte. Die Sicherheit, die das Kind durch eine gelungene Eingewöhnung und den allmählichen Beziehungsaufbau gewinnt, unterstützt es dabei, ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Kita-Gemeinschaft zu entwickeln (Niesel & Griebel 2015). Besonders hilfreich ist, dass positive Beziehungserfahrungen mit einer Fachkraft auf die anderen Fachkräfte übertragen werden können (Ahnert 2010). Auf diese Weise kann jedes Kind ein stabiles Beziehungsnetz entwickeln, das ihm auch bei kurzfristigen Veränderungen (z. B. Erkrankung der Bezugserzieherin) Beziehungskontinuität und Sicherheit vermittelt.

 

Die Autorinnen

Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll ist Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München.
Dr. Monika Wertfein ist Diplom-Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München.