Individuelle Förderung in der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe

Am Schulanfang treffen Kinder aufeinander, die sehr verschieden sind. Sie unterscheiden sich zum Beispiel im Stand ihrer psychischen und körperlichen Entwicklung, in ihren bisherigen Lebenserfahrungen, in ihrer Vorbildung, in der Schnelligkeit, mit der sie neue Dinge lernen aber auch in ihren Interessen und in einer ganzen Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen. Das stellt zweifellos eine Herausforderung für die einzelnen Grundschulen dar. Sicherlich ist diese Heterogenität der Schülerschaft kein neues Phänomen, mit dem Wissen, dass Lernen im Gleichschritt nicht so gut funktioniert, wird heute allerdings anders auf die Vielfalt eingegangen. Das heißt Schulen haben heute die Aufgabe, die Heterogenität der Schüler und Schülerinnen so zu organisieren, dass eine produktive Lernausgangslage geschaffen wird. Das bedeutet, dass eine Forderung und Förderung eines jeden Kindes entsprechend seiner Lernausgangslage  in einer Lerngruppe möglich sein muss. Um den Schulen einen größeren Entscheidungsraum einzuräumen, wie sie diese Förderung leisten wollen, wurden einige rechtliche Möglichkeiten zur Neugestaltung des Schulanfangs in bundesländerspezifischen Erlassen eingeführt. Eine dieser Erneuerungen stellt die Einrichtung einer Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe dar.

Um einen Einblick in das Lehren und Lernen in der Jahrgangsgemischte Schuleingangsstufe zu verschaffen, soll in diesem Beitrag zunächst die wichtigsten Charakteristiker der Eingangsstufe vorgestellt werden. Es folgt eine kurze Einführung und Positionierung zur individuellen Förderung in der Grundschule. Schließen werde ich mit einer Vorstellung der interessantesten Ergebnisse einer Befragung von Lehrkräften zu deren Methoden individueller Förderung in der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe, die ich im Rahmen meiner Masterarbeit, durchgeführt habe. Die Ergebnisse bieten einen spannenden Einblick in das praktische Arbeiten in der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe und geben ganz konkrete Beispiele, wie eine individuelle Förderung gestaltet werden kann.


 

Die Jahrgangsgemischte Schuleingangsstufe


In der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe werden die erste und die zweite Klasse als jahrgangsübergreifende Lerngruppe gemeinsam unterrichtet. Das heißt Schulanfänger und Schulanfängerinnen werden zu Beginn ihrer Schullaufbahn in eine bereits bestehende Gruppe von Zweitklässlern und Zweitklässlerinnen aufgenommen. Sie lernen nun gemeinsam. Zu Beginn des neuen Schuljahrs rücken alle Schüler und Schülerinnen, die den entsprechenden Lernstand erreicht haben, in das dritte Schuljahr. Konkret bedeutet das, dass auch Schüler und Schülerinnen, die erst seit einem Jahr die Grundschule besuchen, bereits nach diesem einen Jahr in die dritte Klasse aufgenommen werden können. Andererseits ermöglicht dieses System Schülern und Schülerinnen ebenso ein Jahr länger in der Schuleingangsphase zu bleiben und sich die benötigten Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen, um in die dritte Klasse zu gehen. Durch das Zulassen unterschiedlicher Verweildauern wird das klassische Sitzenbleiben und Wiederholen einer Klasse abgeschafft. Zugleich brauchen die Kinder, die sehr schnell lernen, keine Klasse zu überspringen, sondern gehen gemeinsam mit einem Teil ihrer Lerngruppe in die dritte Klasse.

Vorrangige Zielsetzung der Einrichtung einer jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe war der „Verzicht auf Zurückstellung sowie Überweisung in Förderschulen, d.h. die zieldifferente integrative Förderung aller Kinder auch derjenigen mit Behinderung, Beeinträchtigung und besonderen Begabungen (...)“ (Carle/ Berthold 2003, S. 1).

Die Einschulung aller Kinder eines Schuljahrgangs setzt eine neue Sichtweise in Bezug auf die mitgebrachten Fähigkeiten der einzuschulenden Kinder voraus. Während zuvor die Schulfähigkeit als Vorraussetzung für die Einschulung galt, wird mit Einrichtung der Schuleingangsstufe davon ausgegangen, dass diese sich erst in der Grundschule entwickelt.

Diese zwei großen Neuerungen, die Aufnahme aller Kinder in die Schuleingangsstufe und die Einrichtung von jahrgangsübergreifenden Klassen, rufen eine noch weitaus größere Heterogenität zum Schulanfang hervor, als das bislang der Fall war. Die Jahrgangsgemischte Schuleingangsstufe ist folglich bereits eine Umsetzung des in letzter Zeit vor allem im Inklusionsdiskurs aufkommenden Heterogenitätsansatzes. Aufgabe der Schule ist es, die Vielfalt der Schülerschaft als Bereicherung zu sehen und gewinnbringend in den Unterricht aufzunehmen. Damit dies gelingen kann und jedes Kind zu seiner bestmöglichen Leistung gebracht wird, wird ein individualisiertes Lernen aus Sicht der Forschungsstelle Begabungsförderung  unerlässlich.


 

Individuelle Förderung in der Grundschule

 

In der wissenschaftlichen Pädagogik existieren zahlreiche Definition für eine individuelle Förderung. Allen aktuellen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie individuelle Förderung als dynamischen Prozess sehen, in dem Lernen als „aktives Tun von subjektiver Bedeutung in einer Einheit von Denken und Fühlen [verstanden wird]“ (Solzbacher/Behrensen/Sauerhering/Schwer 2012,  S. 4).

Auf der Grundlage von Erkenntnissen aus der Begabungsforschung wird in der nifbe-Forschungsstelle Begabungsförderung individuelle Förderung wie folgt definiert:

„Unter individueller Förderung verstehen wir alle Handlungen von Lehrerinnen und Lehrern und von Schülerinnen und Schülern, die mit der Intention erfolgen, das Lernen unter Berücksichtigung ihrer/seiner spezifischen Lernvoraussetzungen, -bedürfnisse, -wege, -ziele und –möglichkeiten zu unterstützen. Unter individueller Förderung werden also alle Aktivitäten verstanden, die mit der Intention erfolgen, die Persönlichkeitsentwicklung und die Entfaltungen der Fähigkeiten und Begabungen eines jeden Kindes zu unterstützen“ (ebd., S. 31).


Individuelle Förderung in diesem Sinne geht über eine rein kognitive Bildung hinaus. Sie zielt vielmehr auf eine Persönlichkeitsbildung, bei der das Kind all seine Kapazitäten voll ausschöpft. Grundlage dieser Definition stellt ein weites Begabungsverständnis dar, das neben intellektuellen Fähigkeiten auch motorische, soziale, emotional und kreative Begabungen sowie Persönlichkeitsmerkmale, wie beispielsweise die Selbstkompetenz fokussiert. Gelingt es, eine solche individuelle Förderung der einzelnen Schüler und Schülerinnen umzusetzen, kann dies dazu beitragen, einen geeigneten Umgang mit der Heterogenität der Schülerschaft zu finden. Im deutschen Bildungsdiskurs werden die Ergebnisse der PISA-StudiePISA-Studie||||| In der PISA- Studie der OECD werden alle drei Jahre seit 2000 in den Mitgliedsstaaten der OECD die alltags- und berufsrelevanten Fähigkeiten von 15- Jährigen durch Testfragen gemessen. Die mittelmäßigen bis schlechten Ergebnisse 2001 in Deutschland führten dazu, dass vielfach von einem PISA-Schock geredet wurde.  häufig in diese Richtung ausgelegt. Das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der PISA-Studie gab den Anstoß dafür nach Ursachen und Lösungen zu suchen. Da Länder, die bei der PISA-Studie besonders gut abgeschnitten haben, wie beispielsweise Korea oder Finnland, mit integrativen Schulsystemen arbeiten (OECDOECD||||| OECD beinhaltet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und besteht aus 34 Mitgliedsstaaten, die sich der Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlen. Die Organisation wurde 1961 gegründet und hatte den Wiederaufbau Europas als Ziel.  2010), muss es, so die Schlussfolgerung, einen Weg geben, wie sie auf die Heterogenität der Kinder angemessen reagieren. Letztendlich kam man zu dem Schluss, dass individuelle Förderung eine Möglichkeit sein kann, um auf die starken Unterschiede zu Beginn der Schulzeit zu reagieren, ohne die leistungsstarken Schüler und Schülerinnen auszubremsen (vgl. z.B. ebd.).

Auch aus der Lernpsychologie sind in den letzten Jahren viele Impulse für eine individuelle Förderung gekommen. So ist es lernpsychologisch belegt, dass Kinder ganz verschiedene Zugänge zum Lernen finden, den Lernstoff unterschiedlich aufnehmen und verarbeiten und dass sie sich Wissen in differenten Lerntempi aneignen. Gestützt wird diese Aussage von neurophysiologischen Forschungen, die belegen, dass unser Gehirn ein Selbstorganisationssystem ist. „Für das Gehirn des Menschen muss man daher annehmen, dass es aus sich selbst heraus am besten weiß, welche Informationen und welche Erfahrungen es wann für seine Entfaltung besonders benötigt“ (Künne/Kuhl/Frankenberg/Völker 2012, S.29).

Als Reaktion auf die Forderung nach mehr individueller Förderung wurde unter anderem auch die Jahrgangsgemischte Schuleingangsstufe entwickelt. Sie ermöglicht laut dem Niedersächsischen Kultusministerium durch das jahrgangsübergreifende Unterrichten und die Aufnahme alle Schüler und Schülerinnen unabhängig ihrer Schulfähigkeit „ein höheres Maß an individueller Förderung“ (2010, S. 2).

In einer Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe, die bewusst eine größere Vielfalt der Schülerinnen und Schüler hervorruft und als Bereicherung für den Unterricht sieht, ist eine solche individuelle Betrachtung der Kinder quasi unabdingbar, erst Recht, wenn der Anspruch gestellt wird, dass jedes Kind innerhalb der ersten zwei Schuljahre die Schulfähigkeit erlangen soll.

Doch wie gelingt es Lehrkräften diese individuelle Förderung umzusetzen und den Grundschulalltag in der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe zu gestalten, um den im aktuellen Bildungsdiskurs geforderten Ansprüchen gerecht zu werden? Welche Faktoren tragen aus Sicht der Lehrkräfte zum Gelingen und Misslingen einer individuellen Förderung in der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe bei? Diese Fragen bildeten den Ausgangspunkt für meine Interviewbefragung von fünf Lehrkräften einer niedersächsischen Grundschule zur Erlangung des Mastertitels. Konkret habe ich die Interviewten zu ihrer Verwendung von unterschiedlichen Methoden zur individuellen Förderung in der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe befragt. Die verlässliche Grundschule, an der die Befragung zu dieser Forschung stattgefunden hat, führte zum Zeitpunkt der Erhebung seit etwas mehr als drei Jahren die Jahrgangsgemischte Schuleingangsstufe. Im Folgenden möchte ich zusammengefasst einige Ergebnisse dieser Befragung zu der Sicht der Interviewten auf individuelle Förderung in der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe vorstellen.


 

Individuelle Förderung in der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe aus der Sicht von Lehrkräften

(Ergebnisse einer Befragung von Lehrkräften einer Grundschule)


Auffassungen von individueller Förderung:

Alle interviewten Lehrkräfte sehen ein Hauptanliegen der individuellen Förderung darin, den Kindern die Möglichkeit zur Bestimmung ihres eigenen Lerntempos zu überlassen. Die Lehrkräfte haben den Anspruch an ihren Unterricht, den Schülern und Schülerinnen genügend Zeit zur Bearbeitung von Aufgaben zuzusprechen, sodass jeder Schüler und jede Schülerin seinem bzw. ihrem eigenem Lerntempo folgen kann. Eine solche Autonomie wird den Kindern nicht nur in Bezug auf die Zeiteinteilung zugetraut, sondern individuelle Förderung besteht für die befragten Lehrkräfte auch in der selbständigen Gestaltung des Lernprozesses. Eine Interviewte antwortete beispielsweise auf die Frage, ob die Kinder eine bestimmte Reihenfolge bei der Bearbeitung der Wochenpläne einhalten sollen:


 "Das [die Reihenfolge] ist ganz egal. Es gibt manche Kinder, die machen immer erst die Arbeitsblätter oder manche Kinder machen immer erst das Arbeitsheft.“


Die Lehrerin beschreibt in ihrer Ausführung die verschiedenen Vorlieben der Kinder beim Bearbeiten der Aufgaben. Es gibt Kinder, „die machen immer erst die Arbeitsblätter“ und andere, „die machen immer erst das Arbeitsheft“. So heterogen wie die Kinder in ihrer Persönlichkeit, Lernentwicklung und in ihren Begabungen sind, so unterschiedlich sind sie auch in der Vorgehensweise des Lernens. Das Verständnis von individueller Förderung der Lehrerin besteht darin, diese Unterschiede innerhalb des Lernprozesses zu berücksichtigen. Die Vorstellung, den Kindern Raum für eine individuelle Vorgehensweise zu lassen, wird in der Äußerung implizit deutlich, indem die Lehrerin zu der Überlegung kommt, dass es „so sein soll“, dass die Kinder die Reihenfolge der Bearbeitung des Arbeitsmaterials selbst bestimmen.


Individuelle Förderung kann mit ganz unterschiedlichen Intentionen betrieben werden. In den Antworten der hier befragten Lehrkräfte findet sich eine solche Vielzahl von Zielvorstellungen der Unterstützung des Individuums wieder. Werden die Ziele der individuellen Förderung in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt, so wird deutlich, dass für die Lehrkräfte zum einen der Wunsch besteht besonders leistungsschwache Schüler und Schülerinnen zu unterstützen, zum anderen wird aber auch das Anliegen formuliert Schüler und Schülerinnen zu fordern. Eine Lehrkraft beschreibt diese Ambivalenz so:

 

„[Individuelle Förderung] beinhaltet immer erst zu gucken, „was ist das Problem?“ Ist das Oberflächlichkeit oder ist da wirklich irgendetwas nicht verstanden. Manchmal ist es auch so, dass ich andere Kinder bitte das noch mal zu erklären. Wenn ich also gesehen habe, ‚xy’ hat das schon richtig gemacht und ‚z’ hat das noch nicht verstanden. Da komme ich wieder auf unser Helferprinzip zurück. Aber dass eben jedes Kind auch nur da so die Unterstützung bekommt, die es selber noch mal fordert, durch Fragen, das stellt man ja im Laufe des Vormittags immer fest, dass Kinder noch mal kommen und nachfragen.“

 

Die Förderung besteht in diesem Fall einerseits darin, Schülern und Schülerinnen Sachverhalte, die sie noch nicht ganz durchdrungen haben, erneut zu verdeutlichen und ihnen Hilfestellung bei der Klärung ihrer Fragen zu leisten. Andererseits wird in dem zweiten Teil der Ausführungen auch eine leistungsorientierte Forderung erwähnt, indem die Lehrkraft betont, dass die Kinder nur die Unterstützung bekommen, die sie explizit fordern. Individuell zu fördern heißt in diesem Sinne, die Schüler und Schülerinnen nicht lediglich zu fördern, sondern sie ebenso ihren Begabungen und Fähigkeiten entsprechend zu fordern, indem ihnen nur die Unterstützung geboten wird, die sie aus Sicht der Lehrkraft benötigen.


Der Wunsch jedes Kind entsprechend seiner Voraussetzungen und Lernausgangslagen zu fördern, der hier bereits anklingt, wird in folgendem Zitat noch einmal deutlich:

 

„Das ich möglichst den Schüler da abhole wo er mit seinen Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten steht. Also individuell heißt dann, dass ich nicht jedem das Gleiche gebe, sondern jedem unterschiedliche Dinge.“

 

Um jedem Schüler und jeder Schülerin die Unterstützung oder Forderung zu kommen zu lassen, die er oder sie zu einem speziellen Zeitpunkt benötigen, wird eine Differenzierung in dem was den Schülern und Schülerinnen gegeben wird, vorgenommen. Diese Interpretation von individueller Förderung berücksichtigt aus meiner Sicht nicht nur die besonders leistungsstarken oder leistungsschwachen Kinder, sondern auch das sonst so häufig vernachlässigte Mittelfeld.


Individuelle Förderung hängt nach Auffassung der Lehrkräfte mit einer Autonomie der Schüler und Schülerinnen zusammen und wird mit differenten Zielsetzungen angewendet.


Differenzierungsmöglichkeiten:

In einer jahrgangsübergreifenden Klasse ist es für die Lehrkräfte eine Herausforderung Formen und Wege zu finden, wie sie Erst- und Zweitklässler im gemeinsamen Gruppenverband gleichermaßen fördern und fordern können. Um eine solche Förderung beider Jahrgänge zu gewährleisten, müssen die Unterrichtsinhalte und -methoden je nach Schüler und Schülerin differenziert werden. Das heißt unterschiedliche Lernstrategien und Lernvoraussetzungen müssen bei der Unterrichtsplanung berücksichtigt werden und die Vielfalt der Kinder in die Unterrichtsgestaltung mit einfließen. Eine Differenzierung kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Zum einen, hat die Lehrkraft die Möglichkeit den Kindern ihre individuell angepassten Aufgaben zuzuweisen („Differenzierung von oben“) und zum anderen können die Schüler und Schülerinnen sich eigenständig ihre Lernwege suchen („Differenzierung von unten“). Des Weiteren ist eine Unterscheidung in eine äußere Differenzierung möglich – die Schüler und Schülerinnen werden in unterschiedliche Gruppen geteilt und separat voneinander unterrichtet – und in eine innere Differenzierung – die Schüler und Schülerinnen werden gemeinsam im Klassenverband unterrichtet, lernen allerdings durch die Auswahl der Lernziele, Methoden und Medien auf unterschiedlichem Niveau (Giesecke-Kopp 2006, S.84-85).

Die Interviewgespräche zeigen mir, dass alle vier zuvor beschriebenen Differenzierungsmaßnahmen von den befragten Lehrkräften genutzt wird.


Eine Differenzierung von unten setzten die Interviewten z.B. durch eine offene Aufgabenstellung um. Eine Lehrerin beschrieb mir diese Offenheit wie folgt:

 

„Ja, Offenheit. Offene Aufgabenstellung. Auf jeden Fall um möglichst viel zuzulassen. Selbst wenn man möchte, dass die Sachaufgaben machen. Dann ist es immer leichter, ich sage: „Denk dir eine Aufgabe mit plus fünf aus.“ Das können... die Leistungsstarken können dann „2555 Fußbälle plus, ein Kind bekommt noch fünf dazugeschenkt.“ Ganz einfache Ideen dazu entwickeln. Es muss nur immer einen Grad der Offenheit haben. Wenn ich zu eng bin, dann haben die Kinder auch keine Chance mehr eigene Ideen einzubringen.“

 

Durch den offen gehaltenen Arbeitsauftrag, eine Aufgabe mit „plus fünf“ zu bilden, wird es den Schülern und Schülerinnen ermöglicht, selbständig den Schwierigkeitsgrad auszuwählen, indem sie eine ihrem Leistungs- und Kenntnisstand angemessene Antwort geben. Es entstehen von Lernenden zu Lernenden ganz unterschiedliche Ergebnisse. Die Schüler und Schülerinnen sind innerhalb des gemeinsamen Unterrichts in der Lage, selbständig das Lernniveau auszuwählen, dass ihrer Lernausgangslage entspricht. Diese offene gestaltete Aufgabenstellung ermöglicht es selbst im Lehrgangsförmigen Unterricht an die verschiedenen Lernausgangslagen und -potentiale der Kinder anzuknüpfen.


Neben einer Öffnung des Unterrichts als eine Möglichkeit der individuellen Förderung, wird von den Lehrkräften auch eine Differenzierung von oben vorgenommen. Alle interviewten Lehrpersonen beschreiben in ihren Schilderungen des Unterrichts, dass die Besprechung bestimmter Lernstoffe oder eine Einführung neuer Lerninhalte teilweise auch in durch die Lehrkräfte eingeteilte Kleingruppen stattfindet. Ein Grund für diese äußere Differenzierung könnte darin liegen, dass eine Unterrichtsgestaltung, die Erst- und Zweitklässler gleichermaßen fördert und fordert, nicht immer als einfach erachtet wird. Neben den bereits beschriebenen Differenzierungsmöglichkeiten findet im Unterricht der Interviewten auch eine innere Differenzierung in Form einer qualitativen und quantitativen Zuschneidung der Lerninhalte auf die einzelnen Schüler und Schülerinnen statt. Diese Abstimmung auf die individuellen Bedürfnisse geschieht mit Hilfe von Planarbeit und speziellen Lernmaterialien. Beim Arbeiten mit Lernmitteln wird besonders viel Wert darauf gelegt, dass jedem Kind die Zeit gegeben wird, die es zum Lösen der Aufgaben benötigt. Jedem Schüler und jeder Schülerin wird sein individuelles Lerntempo zugeschrieben. Diese Priorität findet sich auch bei der Leistungsüberprüfung, indem Tests teilweise zu ganz differenten Zeitpunkten geschrieben werden. Hat ein Schüler oder eine Schülerin eine bestimmte Anzahl an Aufgaben erledigt, erhält er oder sie zur Kontrolle seines bzw. ihres Leistungszuwachs eine Prüfung.


Zur Individualisierung wird in dem Lehrwerk und den Planarbeiten ferner eine Differenzierung in Pflicht- und Wahlaufgaben vorgenommen. Ein bestimmter Kanon an Aufgaben ist für alle Kinder verpflichtend vorgegeben, Schüler und Schülerinnen können darüber hinaus eigenständig entscheiden, ob und wenn ja, welche Aufgaben sie zusätzlich bearbeiten möchten. Zur Veranschaulichung der quantitativen und qualitativen Differenzierung an dieser Stelle noch ein Zitat aus dem Interviewmaterial:


„Es klafft schon auseinander, weil es einige Kinder gibt, die sind noch nicht bei „D“. Die machen dann da weiter, wo sie gerade sind. Da ist es schon individuell und es gibt manche Kinder, die den Verbenplan reduziert haben oder manche haben den erweitert. Das ist nicht so, dass sie komplett das Gleiche machen, sondern das ist auch schon ein bisschen auseinander.“

 

Die quantitative Differenzierung geschieht über das Zugestehen des eigenen Lerntempos, indem die Kinder an dem Unterrichtsinhalt arbeiten, der ihrem Leistungsniveau entspricht. Eine qualitative Differenzierung nehmen die Lehrkräfte durch das unterschiedliche Gestalten der Lernpläne vor, innerhalb derer die Aufgaben auf die Schüler und Schülerinnen angepasst werden. Das eigenständige Arbeiten an den Plänen oder Lernwerken hat neben der Förderung jedes Individuums noch zwei weitere große Vorteile. Zum einen lernen die Kinder mehr Verantwortung für ihre Lernaktivitäten zu übernehmen, ihren Lernprozess selbständig zu steuern und ihre Lerngewohnheiten reflektiert einzuschätzen, zum anderen hat die Lehrkraft während der Phasen des eigenständigen Lernens Kapazitäten frei, die sie für die Zuwendung zu einzelnen Kindern oder Gruppen nutzen kann. Zusammenfassend kann gesagt werden durch die Differenzierungsmaßnahmen werden den Kindern Freiräume innerhalb des Lernprozesses eingeräumt, die ein individualisiertes Lernen ermöglichen. Die Schüler und Schülerinnen können selbständig entscheiden welche Aufgabe sie wann erledigen und wie sie bei der Bearbeitung der Aufgabe vorgehen. Der Lernstoff und das Lernziel werden den Schülern und Schülerinnen allerdings durch die Lehrkraft vorgegeben.

 

Für eine individuelle Förderung werden verschiedene Differenzierungsmöglichkeiten genutzt.


Faktoren, die zu einer gelingenden individuellen Förderung beitragen:

Wie bereits dargestellt, geht ein Großteil der wissenschaftlichen Pädagogik von einer Erleichterung der individuellen Förderung durch das Unterrichten in einer Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe aus. Auch die interviewten Lehrkräfte erkennen in der Einrichtung der Eingangsstufe einige Vorteile für ihre tägliche Unterrichtspraxis. In den Interviews sind von den Lehrkräften eine Menge an strukturellen Bedingungen im Zusammenhang mit der Eingangsstufe genannt worden, die von ihnen in Abhängigkeit mit den Chancen individueller Förderung gesehen werden. Das Konkurrenzdenken und die Leistungsvergleiche untereinander haben aus Sicht der Lehrkräfte stark abgenommen und es findet keine Stigmatisierung nach der Leistungsfähigkeit der Schüler und Schülerinnen statt, wie folgendes Beispiel belegt:

 

„Da fallen die ganz Leistungsstarken nicht auf, aber die Leistungsschwachen eben auch nicht, weil jeder so seinen Turn geht und man hat nicht den Stempel drauf. Das finde ich total gut.“

 

Die befragten Lehrerinnen stimmen mit dem Niedersächsischen Kultusministerium (2010, S.4) darin überein, dass das Konkurrenzdenken und die Leistungsvergleiche unter den Schülern und Schülerinnen mit der Einrichtung der Schuleingangsphase stark abgenommen haben, vor allem, da mit ihm ein individualisiertes Unterrichten einhergeht. Die Interviewten bestätigen, dass durch die Jahrgangsmischung eine größere Akzeptanz der Heterogenität der Kinder, in und außerhalb des Unterrichts herrscht. Darüber hinaus gehen die Lehrkräfte mit Burk, Mangelsdorf und Schoeler (1998, S. 51) davon aus, dass diese Akzeptanz auch die Basis einer Förderung der Anlagen, Begabungen und Neigungen jedes einzelnen Kindes darstellt. wie die nachfolgende Äußerung einer Lehrkraft verdeutlicht:

 

„Also die Individualisierung ist auf jeden Fall stärker, weil es stärker sein muss, weil die Schere eben so weit auseinander ist. Und das sehe ich eben als positiv an. Viele sagen ja, oh Gott oh Gott, die Schere ist so weit auseinander und ich sage, je weiter es geht, desto besser wird es. Dann können wir voneinander eigentlich viel mehr lernen.“

 

In einer Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe, die bewusst eine größere Heterogenität der Schulanfänger und -anfängerinnen hervorruft, ist eine individuelle Förderung, aus Sicht dieser Lehrerin, unabdingbar und führt durch das Lernen voneinander zu einer Bereicherung des Unterrichts. Des Weiteren stellen die Lehrpersonen eine verstärkte individuelle Förderung durch das zugestehen der eigenen Lernzeit fest:

 

„Für die Kinder, die ganz ruhig sind, die gucken sich das im ersten Schuljahr an. Ich hatte ein Kind, die hat im ersten Schuljahr fast gar nichts gesagt, ein ausländisches Kind. Im zweiten Jahr, als die da war, hat sie mit ihren Freundinnen gesprochen und hat dann in der Eingangsstufe drei Jahre verbracht und im dritten Jahr hat sie angefangen sich zu melden und man hat so gemerkt, im ersten Schuljahr war sie ganz ruhig, im zweiten hat sie sich schon ein bisschen eingebracht, da war sie die Große und wurde auch mal gefragt, also musste sie sich schon auch ein bisschen trauen und im dritten Schuljahr, also im dritten Jahr der Eingangsstufe, war sie so weit, dass sie sich selber getraut hat. Das ist ein Entwicklungsprozess und ich glaube in einer homogenen Gruppe merkt man die ganze Zeit, ich bin die Schwächste, die Schlechteste und das zieht sich vier Jahre durch. Finde ich auch nicht gut. Also dafür ist das total super.“

 

Die Lehrerin beschreibt die positive Entwicklung der Persönlichkeit dieser Schülerin, die, nach Aussage der Lehrerin, stattfinden konnte, da der Schülerin ausreichend Zeit zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit und zum Aufbau ihrer Lernkompetenzen eingeräumt wurde. Zudem profitiert die Schülerin davon, dass keine Stigmatisierung vorgenommen wird und das Frustrationserlebnis ausbleibt, da sie sich nicht die ganze Zeit über als leistungsschwächste Schülerin wahrnimmt (vgl. auch Burk/Mangeldorf/Schoeler 1998, S. 12). Insgesamt kann festgehalten werden, dass aus Sicht der interviewten Lehrkräfte durch die Jahrgangsmischung und auch die unterschiedliche Verweildauer der Schuleingangsstufe eine individuelle Förderung des Einzelnen vor allem auch in Bezug auf die Persönlichkeitsförderung und die Schulung von Selbstkompetenzen, wie beispielsweise die Stärkung des Selbstwertgefühls, erleichtert wird.

Die Interviewten stimmen dem Niedersächsischen Kultusministerium (2010) ebenso darin zu, dass eine Förderung und Forderung leistungsstarker Erstklässler und Erstklässlerinnen bzw. leistungsschwacher Zweitklässler und Zweitklässlerinnen vereinfacht wird, da diese ohne Mehraufwand an den Unterrichtseinheiten und Materialien des jeweils anderen Jahrgangs mitarbeiten können. Im Allgemeinen haben die Lehrkräfte das Gefühl, dass das Arbeiten nach dem Konzept der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe es ermöglicht, den Bedürfnissen der Kinder im Vergleich zum herkömmlichen Unterricht mehr gerecht zu werden:

 

„Wobei dieses Gefühl hatte ich früher mehr noch, den Kindern nicht gerecht zu werden. Das hat sich durch die Eingangsstufe, hat sich dieses Gefühl stark verbessert. Jetzt war ich ja wieder in [Klasse]drei [und] vier als Klassenlehrerin, da sehe ich wieder das Desaster. Also da merke ich schon wieder, wie toll wäre das, wenn man [Klasse]drei [und] vier auch jahrgangsübergreifend hätte.“

 

Die Lehrerin äußert nicht direkt, woran es liegt, dass sie der Meinung ist den Ansprüchen der Schüler und Schülerinnen eher nachgehen zu können, sie betont allerdings, dass dies mit der Umstellung auf die Jahrgangsgemischte Schuleingangsstufe zusammenhängt. Die Erleichterung, die Kinder innerhalb der Eingangsstufe besser entsprechend ihrer Begabungen, Fähig-, Fertig- und Möglichkeiten zu fördern und zu fordern hängt sicherlich nicht ausschließlich mit dem System der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe, sondern auch mit der damit verbundenen Umkonzeptionierung. Die interviewten Lehrkräfte bestätigen allerdings aus ihren praktischen Erfahrungen mit der Schuleingangsstufe, dass das Unterrichten in der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe, die Entfaltung der Begabungen und Fähigkeiten der Kinder unterstützt, indem es das individuelle Fördern des Einzelnen zur Voraussetzung für ein Gelingen des Lernens macht.

Neben der strukturtheoretischen Erleichterung einer individuellen Förderung durch das Einrichten einer Eingangsstufe, nenn die Interviewten vor allem die Kooperation im Team als einen entscheidenden Faktor für eine gelingende individuelle Förderung. Ich möchte hier einen Interviewausschnitt heranziehen, der beispielhaft die Bedeutung der Teamarbeit für die Lehrerinnen betont:

 

„Steht und fällt immer mit dem Team. Also ich glaube, wenn man in einer Lehrergruppe ist und man müsste das alleine durchziehen und jeder macht das für sich, ich glaube, das würde nicht gehen. Dann wäre entweder Burnout oder man würde sagen, das System funktioniert nicht. Aber wir sind zu fünft und haben uns das vorher aufgeteilt und das klappt total gut. Also ich bin gut zufrieden.“

 

Es wird deutlich, dass die Zusammenarbeit unter den Lehrkräften nicht nur für die Schüler und Schülerinnen gewinnbringend ist, sondern auch die Lehrenden davon profitieren. Durch die gelungene Kooperation im Kollegium hat sich nach Aussage der Lehrerinnen der Krankheitsstand der Lehrkräfte verringert und die Berufszufriedenheit wesentlich verbessert.


Neben der Zusammenarbeit im Kollegium ist, nach Aussagen der Befragten, der Einsatz von Kooperationspartnern eine weitere entscheidende Bedingung dafür, dass eine Zuwendung zu den einzelnen Schülern und Schülerinnen und eine damit verbundene individuelle Förder- und Forderung stattfinden kann. Eine Lehrkraft hat mir diese Zusammenarbeit folgendermaßen geschildert:

 

„Man muss einfach gucken, wie man sich dann weitere Ressourcen schafft. Also z. B. haben wir eine Leseoma, die mit den Kindern liest, da gucke ich natürlich, dass gerade meine leseschwachen Kinder noch mal eine zusätzliche Förderung bekommen. Oder ich hab ein türkisches Kind, was ganz große Sprachschwierigkeiten hat, wo ein ehemaliger Förderschullehrer sich angeboten hat. Das Angebot nehmen wir an. Der kommt zweimal in der Woche. Der ist nur für dieses Kind zuständig. Und ja man muss sich einfach auch Hilfe von außen holen, weil man sich sonst auch einfach daran aufreibt. Man könnte ohne Ende arbeiten.“

 

Da die Lehrerin, aus ihrer Sicht, selbst nicht ausreichend Kapazitäten frei hat, um allen Kindern die Forder- und Förderung zu verschaffen, die sie benötigen, sucht sie sich entsprechende Hilfe, um die Kinder nach ihrem Ermessen bestmöglich zu bilden. Die im Rahmen dieser Arbeit befragten Lehrkräfte haben ein umfangreiches Kooperationssystem und arbeiten zwecks einer individuellen Unterstützung der Schüler und Schülerinnen mit Studenten und Studentinnen, der Förderschullehrkraft und zahlreichen weiteren Kooperationspartnern, wie beispielsweise der „Leseoma“ aus dem oben stehenden Beispiel, zusammen. Zusammengefasst kann bislang festgehalten werden, dass die Lehrkräfte bei der Entwicklung von Fördermaßnahmen und der Planung des Unterrichts nicht alleine gelassen werden, sondern das Wissen des gesamten Kollegiums häufig in die Gestaltung des Förderprozesses mit einfließt und auch externe Kooperationspartner in diesen Prozess mit eingebunden werden.


Eine weitere Bedingung für einen effektiven Unterricht stellt nach Aussagen der befragten Lehrerinnen eine Strukturierung des Schulalltags dar. Den Interviewaussagen konnte entnommen werden, dass der Schulalltag für die Lernenden und auch Lehrenden gut strukturiert ist und meist nach einem einheitlichen Schema verläuft. Diese genaue Strukturierung des Schulalltags wird von einer Lehrkraft als Voraussetzung dafür genannt, dass eine Förderdiagnostik durchgeführt und ein Ziel der Förderung festgelegt werden kann:

 

„Ich denke, man guckt immer wieder, man ist auf dem Weg und ich find´s total gut und so große Stolpersteine, finde ich, gibt es eigentlich nicht. Man muss einfach total gut strukturiert sein und wissen wo die Kinder stehen und wo man hin will und das läuft, finde ich total gut.“

 

Dass der Unterricht nach einem klaren Aufbau verläuft, ist, nach Aussage der Lehrerin, eine Bedingung dafür, den aktuellen Leistungsstand ihrer Schüler und Schülerinnen zu ermitteln und den weiteren Lernprozess zu gestalten und somit für eine individuelle Förderung unabdingbar (vgl. Braun/Schmischke 2010). Die Strukturierung des Lernprozesses bringt nicht nur einen Vorteil für die Schüler und Schülerinnen mit sich, sondern bedeutet auch für die Lehrkräfte eine Schonung der Kräfte (vgl. Hinz/Sommerfeld 2004, S. 182).


Damit eine Förderung des einzelnen Kindes entsprechend der Lernausgangslage, -bedürfnisse und -begabungen gelingen kann, stellt die Einrichtung der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe aus Sicht der Befragten eine große Bereicherung dar. Eine effiziente Arbeit im Team, eine Kooperation mit externen Kräften und ein strukturierter Schulalltag sind aber ebenfalls von Nöten, um diese Förderung, nicht nur zur Zufriedenheit der Schüler und Schülerinnen, sondern auch der Lehrkräfte umzusetzen.

 
Zur Begünstigung einer individuellen Förderung in der Grundschule tragen neben der Einrichtung der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe auch eine funktionierende Teamarbeit im Kollegium, ein Einbeziehen externer Kooperationspartner und ein strukturierter Rhythmus des Schulalltags bei.


Grenzen individueller Förderung:

Neben den Faktoren, die zum Gelingen einer individuellen Förderung in der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe beitragen, sind in den Interviews auch Faktoren zur Sprache gekommen die von den Lehrkräften als störend angesehen wurden.

Eine Hinderung an der Praktizierung der individuellen Förderung sehen die Lehrerinnen in der Struktur und der Funktion des deutschen Schulsystems, das auf eine Selektierung ausgelegt ist. Beispielsweise werden von den interviewten Lehrkräften die curricularen Vorgaben als Grund für eine gleichschrittige Vorgehensweise im Unterricht genannt: 

 

„Ja, ich finde das immer schwierig. Ich denke, da ist irgendwo auch der Individualität Grenzen gesetzt. Wir haben nun mal Vorgaben was die Lernziele betreffen. Ich muss da ja im gewissen Grad doch einen Gleichtakt haben bei den Schülern, um irgendwo auch weiterarbeiten zu können. Ich kann... Nein, ich glaube, das was man im Moment in der Regelschule so leisten kann, passiert in der Schuleingangsstufe schon ziemlich annähernd. Wenn man so ganz individuell arbeitet, dann müsste man ja wirklich mit Lerntagebüchern und so was arbeiten. Dass jeder, was weiß ich, montags einen Wochenplan bekommt „das und das arbeitest du“. Oder noch individualisierter, dass jeder sich überlegt, was er arbeitet. Das... Ich glaub, das funktioniert so aber nicht in unserem Schulsystem.“

 

Nach Aussage dieser Lehrerin garantieren die Vorgaben der Lernziele und das Lernen gleicher Unterrichtsinhalte für alle Schüler und Schülerinnen ein gemeinsames „Weiterarbeiten“ an den Lerninhalten. Trautmann und Wischer (2011, S. 101) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Institution Schule so organisiert werden muss, dass „Massenlernprozess“ (ebd.) ermöglicht werden. Dieser Meinung scheint sich die oben zitierte Lehrkraft anzuschließen. Ein gewisser Grad an „Gleichtakt“ im Unterricht gilt für sie als Voraussetzung, für eine Ermöglichung des Massenlernprozesses. Mit der Arbeit mit Lerntagebüchern und dem Festsetzen der Lerninhalte durch die Lernenden selbst nennt die Lehrerin auch eine Lösung dafür, wie ein individualisierter Unterricht organisiert werden könnte. Dieser Lösungsvorschlag ist nach Ansicht der Lehrerin im deutschen Schulsystem allerdings nicht umsetzbar. Im Zusammenhang mit dem zuvor Gesagten kann geschlussfolgert werden, dass die Lehrerin die curricularen Vorgaben dafür verantwortlich macht, dass ein selbstbestimmtes Lernen verhindert wird. Eine andere Lehrkraft sieht in der Überprüfbarkeit von Lernzielen eine weitere Begründung für das Festsetzten klarer Lerninhalte, die einheitlich von allen Schülern und Schülerinnen zum selben Zeitpunkt gelernt werden sollen. Sie berichtete mir, dass die Kinder innerhalb einer Woche variable Aufgaben zu einem für alle Kinder festgelegten Buchstaben bearbeiten, aber am Ende dieser Woche der Buchstabe gelernt worden seien sollte, sodass die Lehrerin eine Möglichkeit hat zu kontrollieren, ob der Buchstabe auch von allen Schülern und Schülerinnen beherrscht wird. Das Festlegen einheitlicher Lerninhalte für die gesamte Eingangsklasse dient der Lehrerin zur Orientierung und Kontrolle über den Leistungsstand ihrer Schüler und Schülerinnen. Den Überblick zu behalten, scheint den Lehrkräften, vor allem im Hinblick auf den Übergang zur dritten Klasse, wichtig zu sein, da in der dritten Klasse ein jahrgangsgetrenntes Unterrichten stattfindet, einheitliche Klassenarbeiten geschrieben und Zensuren vergeben werden. Mit den festgesetzten Leistungsstandards und der Selektionsfunktion von Schule bestehen somit systemimmanente Grenzen, die einer individuellen Förderung widersprechen.

In den Interviews verweisen die Lehrerinnen ferner darauf, dass Individualisierung nicht bedeuten darf, dass ein kooperatives Arbeiten vernachlässigt wird. Bei manchen interviewten Lehrerinnen lassen sich Bedenken erkennen, dass, wenn jedes Kind ganz individuell lernt, ein gemeinsames Austauschen über den Unterrichtsstoff und ein Lehren und Lernen voneinander nicht mehr möglich ist. Eine Lehrerin teilte mir beispielsweise mit, dass gemeinsame Phasen im Unterricht von elementarer Bedeutung seien, „damit die Kinder nicht vereinzeln. Also jeder so sein eigenes Ding macht“. Meines Erachtens schließt ein kooperatives Arbeiten eine individuelle Förderung jedoch nicht aus, sondern im Gegenteil, werden Wege gefunden, sodass die Lernenden ihre Individualität in einer kreativen Gruppe ausleben und ihre Begabungen in dieser verwirklichen können, findet innerhalb dieses Arbeitsprozess eine effiziente individuelle Förderung statt. Individuelle Förderung muss meiner Ansicht nach weiter gefasst werden als ein individualisierter Lernprozess, bei dem jedes Kind seine Lernmaterialien genau auf seine Bedürfnisse zugeschnitten vorgelegt bekommt. Eine solche individuelle Planung für jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin ist für die Lehrkräfte auch gar nicht zu leisten und würde die Arbeitskapazität bei weitem überschreiten.

Eine quantitative Differenzierung über das Lerntempo scheint hingegen mit weniger Arbeitsaufwand verbunden und wird von den Befragten ausgiebig praktiziert. Dass die Differenzierung über das Lerntempo den anderen Möglichkeiten vorgezogen wird, entspricht den allgemeinen Vorlieben der Lehrkräfte (vgl. Gläser 2007, S. 115) und scheint damit eine Methode der individuellen Förderung zu sein, die im Schulalltag gut zu bewältigen ist, um den „Massenlernprozess“ (vgl. Trautmann/ Wischer 2011) zu organisieren. Als eine Chance ebenfalls eine qualitative Differenzierung zu ermöglichen, die die Voraussetzungen jedes einzelnen Lernenden berücksichtigt, sieht eine Lehrerin die Ausbaumöglichkeiten der Differenzierung von unten:

 

„Also ich finde schon, dass wir gut sind. Aber meine Vorstellung wäre immer noch, aber das ist ein persönlicher Wunsch von mir, ich würde schon gerne noch mal noch individueller arbeiten und den Kindern noch mehr Freiraum geben. Bei der Wahl auch der Inhalte, die sie bearbeiten. Das erfordert natürlich dann auch wieder ein Umstellen in der gesamten Eingangsgruppe, die wir haben.“

 

Allerdings muss durch eine solche Differenzierung von unten wieder ein Kontrollverlust der Lehrkräfte in Kauf genommen werden. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass die Lehrkräfte generell gerne auch vermehrt zur individuellen Förderung eine Differenzierung von unten einsetzten würden. Es besteht allerdings die Befürchtung, dass bei einem selbständigen Lernen der Kinder der Lernstoff, der durch die curricularen Vorgaben festgesetzt ist und der spätestens in der dritten Klasse verinnerlicht sein muss, nicht ausreichend gelernt würde. Um die Kontrolle über den Leistungsstand der Schüler und Schülerinnen nicht zu verlieren, werden daher einheitliche Lerninhalte durch die Lehrkräfte festgesetzt und es finden Tests zur Überprüfung einer Verinnerlichung dieser Lerninhalte statt. In diesem Zusammenhang darf ebenfalls nicht unterschätzt werden, wie viel Mühe und Kraft es teilweise benötigt die Eltern von einer vermehrt individuellen Vorgehensweise zu überzeugen. In den Aussagen der Lehrkräfte wurde immer wieder deutlich, dass diese größtenteils sehr überzeugt davon sind, dass alle Schüler und Schülerinnen die selben Lerninhalte zum selben Zeitpunkt lernen müssen. Diese Anforderung stammt größtenteils, denke ich, aus dem Wunsch überprüfen zu können, ob ihr Kind die jeweiligen „altersgerechten Anforderungen“ erfüllt.

Für eine leichtere und eventuell auch bessere Umsetzung eines individualisierten Lehrens und Lernens sehen die Lehrkräfte eine Ausbaufähigkeit einerseits in Bezug auf die Unterrichtsmaterialien und andererseits auf den Personalschlüssel. Meines Erachtens haben die Lehrerinnen der beforschten Grundschule allerdings bereits eine gute Möglichkeit gefunden den aus ihrer Sicht zu geringen Personalschlüssel auszugleichen, indem sie sich Personal von außerhalb zur Hilfe holen und die Zeit, in der die Kinder selbständig arbeiten nutzen, um sich einzelnen Lernenden zuzuwenden.


 

Schlussbetrachtungen

 

Das Schulsystem mit seiner Notenvergabe und den curricularen Vorgaben setzt nach Aussagen der befragten (?) Lehrkräfte ein einheitliches Vorgehen im Unterricht voraus und lässt an einigen Stellen wenig Platz für eine individuelle Förderung. Trautmann und Wischer (2010) verweisen in diesem Zusammenhang auf die gesellschaftliche Funktion, die Schule zu leisten hat, d.h. sie muss „einem anderen Imperativ gehorchen (...) als dem der individuellen Förderung und gleichberechtigten Anerkennung von Differenzen“ (ebd. S. 71). Dennoch haben die Lehrkräfte, wie in den vorangegangenen Ausführungen gezeigt werden konnte, einige Möglichkeiten gefunden ihre Schüler und Schülerinnen individuell entsprechend ihrer Begabungen und Leistungen zu fördern. Zum Teil sicher auch, da die Einführung der Jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe und die damit verbundene höhere Vielfalt der Kinder ein Lernen im Gleichschritt erschwert. Die Jahrgangsgemischte Schuleingangsstufe fordert durch ihre bewusste Erweiterung der Heterogenität dazu auf, sich mit der Vielfalt der Kinder auseinanderzusetzen und Möglichkeiten zu finden, wie auf die Heterogenität produktiv eingegangen werden kann. Wenn Kinder in ihrer Individualität wahrgenommen und geschätzt werden und die unterschiedlichen Begabungen der Kinder gefördert werden, dann findet ein Unterricht statt, der alle Kinder gleichermaßen fördert. Das bedeutet, kein Kind wird ausgebremst oder bleibt zurück, sondern wird nach seinen Potentialen bestmöglich gefördert. In der Grundschule, an der die Befragung stattgefunden hat, geschieht eine solche Förderung durch eine Differenzierung von oben, z.B. durch ein Eingehen auf die unterschiedlichen Lernstrategien und Lernvoraussetzungen bei der Gestaltung des Unterrichtsmaterials oder eine Einteilung in Kleingruppen. Zudem geschieht die Förderung durch eine Differenzierung von unten, z.B. durch eine offene Aufgabenstellung oder eine selbständige Gestaltung der Lernprozesse durch die Kinder. Das heißt individuelle Förderung muss nicht zwingendermaßen in einer strikten individuell zugeschnittenen Einzelförderung münden. Sie kann auch innerhalb des Gruppenverbands und dort sogar – wie das Beispiel der „Matheaufgabe mit plus fünf“ (siehe S. 7) veranschaulicht – auch im Lehrerzentrierten Unterricht stattfinden.


Auch im Hinblick auf den Ausbau zur inklusiven Schule muss in naher Zukunft von den Lehrkräften eine Möglichkeit gefunden werden auf die erweiterte Vielfalt der Schülerschaft zu reagieren. Hier bietet eine individuelle Förderung, wie sie von den Lehrkräften betrieben wird, einen Anhaltspunkt, wie die Heterogenität im Unterricht berücksichtigt werden kann.


Wird individuelle Förderung nicht nur auf eine gezielte Einzelförderung, sondern weiter ausgedehnt, kann sie eine Entlastung für Lehrkräfte darstellen und die Überzeugung stärken , den Kindern mit ihrer Arbeit auf diese Weise „gerechter zu werden“.

 


 

Literatur

 


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