Bewegungsbaustelle

als elementardidaktisches Prinzip einer bewegten Kitakultur


Veränderte Kindheit – Veränderte Kinder?


Die physische und sozial-emotionale Entwicklung von Kindern steht seit einigen Jahren auch im öffentlichen Blickpunkt. Wiederholt wird dabei auf die Auswirkungen einer sich verändernden Kindheit verwiesen, die sich in erhöhtem Medienkonsum und mangelnden Bewegungserfahrungen aufgrund veränderter Spielräume und –möglichkeiten äußere und mit erheblichen gesundheitlichen Folgen einhergehe (vgl. Eggert 1997). Mit bekannt werden der Ergebnisse der bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitsstudie des Robert-Koch-Instituts in Berlin (2007) erhält diese Darstellung eine empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.e Basis. Demnach bestimmt die Herkunft eines Kindes nicht nur über seinen Bildungserfolg, sondern in hohem Maße auch über seine gesundheitlichen, sozialen und emotionalen Entwicklungschancen. Die bundesweit repräsentative, umfassende Untersuchung zur gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen in Deutschland identifizierte insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status als Risikogruppen: Sie sind stärker betroffen von psychischen und physischen Entwicklungsgefährdungen als Kinder aus Elternhäusern mit einem hohen sozioökonomischen Status. Da der Grundstein für Bildungsprozesse im frühen Kindesalter gelegt wird, erhalten Kindertageseinrichtungen die anspruchsvolle Aufgabe der Herstellung positiver Entwicklungsbedingungen, wenn dies in der Familie aufgrund der Überlagerung mit vielfältigen Problemlagen (wie zum Beispiel Armut) nicht ausreichend erfüllt werden kann. Untersuchungen von Tietze (1998) weisen in diesem Zusammenhang auf die kompensatorischen Möglichkeiten von Kindertageseinrichtungen hin, mit denen Risikofaktoren für eine gesunde Entwicklung minimiert und die Ressourcen eines Kindes identifiziert und unterstützt werden können. 

Bezogen auf eine alltagsintegrierte Präventionsarbeit und Unterstützung von Bildungsprozessen bietet das Konzept der  Bewegungsbaustelle in diesem Zusammenhang Möglichkeiten einer präventiv ausgerichteten Erziehung und Bildung, welche die Bewegungs- und Raumgestaltung als integralen Bestandteil des Alltags von Kindertageseinrichtungen und konstruktives Element von Lernen und Leben verortet. Das Potenzial der eigenständigen Erschließung von Bewegungsräumen durch Kinder im Sinne von Selbstbildungsprozessen (vgl. Schäfer 2005) soll im vorliegenden Beitrag anhand der Darstellung des Konzepts der Bewegungsbaustelle illustriert werden.


 

Die Idee der Bewegungsbaustelle


Der erstmals durch die Frankfurter Arbeitsgruppe (1982) formulierte sportpädagogische Gedanke der Bewegungsbaustelle konnte sich in seiner 25jährigen Geschichte im Sinne einer kindzentrierten Bewegungsentwicklung konstruktiv und stetig weiterentwickeln. Die auf Gerhard Landau zurückgehende und durch Klaus Miedzinski weltweit verbreitete Idee stellt heraus, dass Kinder sich mit einfachen Bauteilen wie Holzklötzen, Brettern, Kanthölzern, Balken, Autoreifen, LKW-Schläuchen ihre eigenen Bewegungsanlässe zum Klettern, Schaukeln, Wippen, Rutschen, Balancieren, Fahren errichten, Rollenspiele inszenieren und in der kreativen Auseinandersetzung mit dem Material ihre motorische Geschicklichkeit und Ausdrucksfähigkeit entwickeln können (siehe Abbildung 1). Vielfach werden die großen Bauteile (Bretter, Kisten, Wippen) durch Alltagsmaterial ergänzt (Getränkekisten, Tücher, Seile) oder mit schon vorhandenem Spielgerät verknüpft (Sandkasten als Sprunggrube, Äste als Verlängerung von Balancierwegen) damit immer neue Spielideen und auffordernde Situationen entstehen können.

Elemente BewegungsbaustelleAbb1.: Elemente Bewegungsbaustelle
In vielen Kindertageseinrichtungen, Bewegungsräumen und Turnhallen gehört mittlerweile aber auch professionell hergestelltes, die Bauteile ergänzendes Material (Tragegurte, Schaukeln, Drehwirbel und Rollwagen) zum Inventar. Fest installierte Sport- und Turngeräte werden dadurch sinnvoll ergänzt, gleichzeitig bleibt die integrale Grundidee des Bauens und Konstruierens und der Selbstgestaltung von Bewegungsräumen jedoch erhalten. Mit diesen einfachen, in ihrer Funktion durchschaubaren Hilfsmitteln, sind Kinder in der Lage, ihre Bewegungsanlässe zum Rotieren, Schaukeln, Wippen, Schleudern, Fahren selbst zu errichten und entsprechend ihrer motorischen Fähigkeiten zu verändern.

Kinder erleben in der Bewegung die physikalischen Gesetzesmäßigkeiten und analysieren diese in der Auseinandersetzung mit dem Material und dem Raum. Die Bewegungsbaustelle bietet somit unabhängig von Altersstruktur oder motorischer Kompetenz individuelle Zugänge zu einem positiven Bewegungserleben.

 

Begründungszusammenhänge


Dass sich diese Bedürfnisse des Bauens und Bewegens nicht auf ausgewählte „Turnstunden“ beschränken, zeigen vielfältige Erfahrungen von Kindertageseinrichtungen, die das Konzept der Bewegungsbaustelle als ständiges Angebot im Rahmen der Öffnung oder ihrer Einrichtung in den Alltag der Kinder integrieren oder dies im Zuge der Umgestaltung des Außengeländes als sinnvolle pädagogische Ergänzung der Spielangebote nach draußen verlagern, um dem Bewegungsdrang der Kinder entsprechen zu können.

Die Begründungszusammenhänge, mehr Bewegung in den Alltag von Kindertageseinrichtungen zu integrieren, werden dabei nicht mehr allein auf das im pädagogischen Kontext vielfach zitierte Lernen mit Kopf, Herz und Hand reduziert, sondern lassen sich sportwissenschaftlich, psychologisch und  medizinisch begründen: Bewegung wird in diesem Verständnis nicht nur als Ausgleich der Körperlosigkeit in Bildungsinstitutionen (vgl. Laging & Schillack 2000) verstanden, sondern bietet im Rahmen der Weiterentwicklung von Institutionen auch Möglichkeiten bei der pädagogischen Schwerpunktsetzung im Konzept einer Einrichtung. Hildebrandt-Stramann (1999) spricht daher von einer bewegten Schulkultur im Sinne einer Öffnung von Bildungseinrichtungen, in deren Verständnis die Institution zu einem Ort der Begegnung und Kooperation im Stadtteil und in der Gemeinde wird.

Laging & Schillack (2000) fassen im Zusammenhang der Weiterentwicklung von Schulen sechs Argumentationslinien zusammen, die im Hinblick auf eine bewegungsorientierte Kitakultur übertragen und als Argumentationslinien herangezogen werden können:

 

Bewegung als Schutzfaktor


Die Argumentationskette der Autoren wird durch die Erkenntnisse der Resilienz- und Salutogeneseforschung gestützt, die sich im Wesentlichen mit der Frage auseinandersetzt, wie Kinder „gestärkt“ werden können, um schwerwiegende Lebensbelastungen erfolgreich bewältigen zu können. Dabei steht der Erwerb und Erhalt altersangemessener Fähigkeiten und Kompetenzen im Vordergrund, die im Verlauf der Entwicklung im Kontext der Kind-Umwelt-Interaktion vor allem im Hinblick auf das Erleben von Selbstwirksamkeit erworben werden.

Das Konzept der Bewegungsbaustelle bietet in diesem Verständnis die Möglichkeit der ResilienzResilienz|||||Resilienz kann als "seelische Widerstandsfähigkeit" verstanden werden mit der Fähigkeit Krisen zu meistern und diese als Anlass für Selbstentwicklungen zu nutzen. In der Resilienzförderung geht es speziell darum die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende Faktoren zu entwicklen, zu ermutigen und zu stärken. Ein verwandter Begriff ist der der Salutogenese. förderung auf individueller und sozialer Ebene: Während die Kinder  in der aktiven Auseinandersetzung mit dem Material Strategien zum Problemlösen entwickeln, müssen im Gruppenprozess soziale Ressourcen mobilisiert und Absprachen getroffen werden: Wie gestalte ich welche Bewegungsanlässe mit einem angemessenen Schwierigkeitsgrad? Wer hilft mir beim Tragen, wer gibt mir Material ab?

In der persönlichen Verantwortungsübernahme und eingebettet in den kooperativen Konstruktionsprozess sollen die Kinder lernen, eigene Handlungsspielräume zu erkennen, mit ihrem sozialen Umfeld abzustimmen und zu erweitern.

 

Bedeutung für pädagogische Handlungsfelder


Der Transfer der theoretischen Vorüberlegungen auf Handlungsfelder, die für den bildungsinstitutionellen Kontext relevant sind, lässt sich eindrücklich am Beispiel der Sicherheits- und Gesundheitserziehung in Schulen und Kindergärten darstellen.

Auf einer Bewegungsbaustelle wird Kindern die Chance gegeben, selbständig ihre Bewegungsumwelt mitzugestalten und in aktiver Auseinandersetzung mit den Dingen mehr über deren Eigenschaften und Handhabung sowie über den eigenen Körper zu erfahren. Das Erlebnis des Gelingens ihrer Baupläne und Bewegungsabsichten durch gemeinsames Bemühen und das Erfahren der damit verbundenen Bewegungsexperimente vermittelt Selbstvertrauen, Bewegungssicherheit und schafft Zugänge zu neuen Unternehmungen und Wagnissen. Betont wird dabei die Identitätsfindung und Entwicklung des Selbstkonzeptes des Kindes, da das Vertrauen in eigene Fähigkeiten mit der Bewältigung zunehmend anspruchsvollerer Bewegungsaufgaben wächst (vgl. Miedzinski / Fischer 2007).

Neue inhaltliche Perspektiven erschließen sich sowohl dadurch, dass die Landesunfallkassen und Gemeindeunfallversicherungsverbände die Bewegungsbaustelle zunehmend als Präventionskonzept für die  Sicherheitserziehung und Gesundheitsförderung entdecken (vgl. Unfallkasse Berlin 2005), als auch durch die Weiterentwicklung des Spielmaterials:

Bewegungsbaustellen werden vielfach therapeutisch im Rahmen psychomotorischer Förderung eingesetzt, verknüpft mit dem Gedanken, sensorische und motorische Defizite in der kindlichen Entwicklung kompensieren zu können.

Im Sportunterricht der Primarstufe werden klassische Sportgeräte wie Barren, Reck und Weichbodenmatte zu so genannten Bewegungslandschaften umfunktioniert, um einem ganzheitlichen Bildungsgedanken zu entsprechen. Diese meist von Lehrkräften und therapeutischem Personal als Lernarrangement bereit gestellten Bewegungslandschaften haben jedoch wenig mit der ursprünglichen Idee der Bewegungsbaustelle zu tun: Die Erkenntnis, das Kinder ihre Spielgeräte selbständig entwickeln und neu erfinden wollen und im Prozess des Auseinandersetzens und Mitgestaltens ihrer Umwelt zu kreativen Lösungen von Bewegungsaufgaben finden steht aber gerade im Zentrum des Konzepts: „Das Erlebnis des Gelingens ihrer Baupläne und Bewegungsabsichten durch gemeinsames Bemühen und das lustvolle Erfahren der damit verbundenen Bewegungsexperimente vermittelt Selbstvertrauen, Bewegungssicherheit und schafft Zugänge zu neuen Unternehmungen und Wagnissen“ (Miedzinski 2000, 7).

Nicht zuletzt zeigen die Erfahrungen von frühpädagogischen Fachkräften und Lehrkräften, die mit der Bewegungsbaustelle arbeiten, dass Kinder im Umgang mit den Situationen geschickter werden und ihr eigenes Können besser einzuschätzen lernen. Die Variabilität der Bewegungsbaustelle gewährleistet, dass auch unsichere Kinder den differenzierten Umgang mit dem Baumaterial erlernen und sich zunehmend anspruchsvolleren Bewegungssituationen stellen. Schon beim Bauen können mögliche Gefahren eingeschätzt und verändert werden. Kinder, die sich in ihrer Umgebung sicherer bewegen, lernen ihre Umwelt besser wahrzunehmen.

Der Zusammenhang zwischen einem kompetenten Bewegungsverhalten und einem verminderten Unfallrisiko von Kindern wird auch Versicherungsverbänden bewusst, die das Konzept der Bewegungsbaustelle als Baustein der Entwicklung von Selbstsicherungsfähigkeit sehen, mit deren Hilfe Unfallschwere und –häufigkeit reduziert werden können. Die Sicherheit und der Schutz des Kindes für eine gesunde Entwicklung sollte gleichwertig mit einer angemessenen Risikobereitschaft und dem Zulassen von Selbsttätigkeit verwirklicht werden. Es ist deutlich, dass Schülerinnen und Schüler mit hoher motorischer Kompetenz neben der besseren Bewältigung von Gefahrensituationen auch eine angemessenere Einschätzung von Risiken und Gefahren vornehmen können. Diese Fähigkeiten können jedoch nur in der eigenaktiven Auseinandersetzung mit anspruchsvollem und herausforderndem Material erworben werden. Die Bewegungsbaustelle kann in diesem Zusammenhang zu einem wichtigen Bestandteil veränderter  Sicherheitserziehung werden.
 

Bewegte KiTa-Kultur


Die Idee des Bauens und Bewegens mit einfachem Material wie großen Holzklötzen, Brettern und Walzen hat wesentliche Impulse aus dem in allen Kindergärten verbreiteten Holzbaukasten nach Fröbel entnommen und durch die Möglichkeit großräumiger Bewegungen vervollständigt.

Diese beschränken sich jedoch nicht nur auf einen Teil des Kitaalltags, sondern können ebenso als zentrales Element einer bewegten Kindergartenkultur verstanden werden. Ergänzt man das klassische Mobiliar im Kindergarten durch variable Bauelemente, kann ein völlig neuer Lern- und Bewegungsraum entstehen, in dem sich sowohl für Kinder als auch für frühpädagogische Fachkräfte neue Handlungsmöglichkeiten ergeben.

Die Idee des Mobilen Klassenzimmers (Landau 1999) greift bewegungspädagogischen Überlegungen auf, um die strenge Klassifikation des Klassenzimmers (Tafel, Pult, Tische, Stühle) aufzubrechen und „Raum für unterschiedlichste Inszenierungen von Unterricht“ (ebd.) zu schaffen. Innerhalb des Klassenzimmers ist es durch das variable Mobiliar möglich, aus einer Sitzbank und einem Tisch ein Podium zu bauen, an dem ein Referat gehalten wird. Aus Brettern und Kisten wird eine Bühne, auf der die Geschichten aus dem Lesebuch lebendig werden.


Die Bewegungsbaustelle bietet Kindern die Möglichkeit, selbst gestellte Aufgaben zu überwinden und nach neuen Herausforderungen zu suchen. In den vielfältigen Situationen des Balancierens kommt es in diesem Zusammenhang beispielsweise immer wieder auch bei motorisch unsicheren Kindern zu kleinen Erfolgserlebnissen. Dieses Gefühl gelungener Bewegungskunststücke, die sich aus dem Prozess des ständigen Probierens, Bewältigens und der Steigerung der Bewegungsanforderung ergibt, kann ein bedeutsamer Baustein des Erlebens von Selbstwirksamkeit sein.

Das Konstruieren großräumiger Bewegungslandschaften fordert darüber hinaus auch genaue Absprachen hinsichtlich der Planung und Ausführung durch die am Bauprozess Beteiligten. Sperrige Bretter und schwere Kisten müssen zumindest von zwei Personen getragen werden, bei Turmbauten müssen mehrere Hände den Unterbau absichern, das Wissen über Stabilität und Labilität, Gewicht und Sperrigkeit von Gegenständen wird innerhalb einer heterogenen Lerngruppe weiter gegeben.

Die Aufgabe der frühpädagogischen Fachkraft ändert sich im Verlauf der Arbeit mit der Bewegungsbaustelle immer mehr vom Eingreifen und Vorstrukturieren hin zur Begleitung und Unterstützung der Lern- und Interaktionsprozesse. Der Forderung nach Beobachtung und Dokumentation der individuellen Lernentwicklung kann entsprochen werden, indem Aussagen über die Entwicklungsbereiche Interaktion, Spiel- und Sozialkompetenz, Motorik und Bewegungssicherheit, Selbstvertrauen und Kognition (Erfindungen, Ideen) gemacht werden können.

 

Fazit


Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dem Phänomen der eklatanten Bewegungsarmut in der Schule und in Kindertageseinrichtungen, die sich in der reizarmen Außenbereichsgestaltung und der wenig flexiblen, funktionalen Raumgestaltung in einigen Kindertageseinrichtungen mit der Idee der Bewegungsbaustelle entgegen gewirkt werden kann, wenn nicht allein der Aspekt der Kompensation im Vordergrund steht, sondern Bewegung als selbstverständlicher Bestandteil in den pädagogischen Alltag integriert wird. Eine solche Kindergartenkultur, die neben der körperlichen Bewegung auch geistigen Bewegungsspielraum ermöglicht, kann im Hinblick auf die Förderung von Selbstkonzept, Problembewältigung und Sozialkompetenz zu einer wichtigen Ressource werden. Ein derartiges Verständnis von Raumgestaltung lässt Spielraum für Bildungsprozesse im Sinne des Selbstbildungskonzepts von Schäfer (2005).


 

Literatur













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