Individuelle Förderung und Selbstkompetenz-Entwicklung

Inhaltsverzeichnis

  1. Potenziale und Kompetenzen
  2. Individuelle (Früh-)Förderung
  3. Ressourcenorientierung
  4. Kultur der Anerkennung
  5. Fazit
  6. Literatur

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Selbstkompetenzen fördern durch herausfordernde Lernumgebungen und eine Kultur der Anerkennung

Der Begriff »Selbstkompetenzen« umfasst eine enorme Spannbreite, sowohl in der Psychologie als auch in der Pädagogik. Komponenten der Selbstkompetenz sind beispielsweise Selbstvertrauen, Selbstmotivation und Frustrationstoleranz (vgl. Aufsatz von Kuhl et al. in diesem Band). In der Tradition der (Schul-)Pädagogik ist die Selbstkompetenz ebenso wie die Sach-, die Sozial- und die Methodenkompetenz eine von vier Kompetenzen, die gemeinsam die Lernkompetenz bilden. Die Lernkompetenz wird als grundlegende Voraussetzung für das lebenslange Lernen verstanden (vgl. Czerwanski/Solzbacher/Vollstädt 2002). Wir gehen allerdings davon aus, dass der Lernerfolg mit der Selbstkompetenz viel enger verzahnt ist als mit den anderen drei Kompetenzen, weil Lernen die Beteiligung des Selbst voraussetzt (vgl. z.B. Kuhl/Hüther 2007). Selbstkompetenz liegt demzufolge nicht auf der gleichen Ebene wie die Sach-, die Methoden- und die Sozialkompetenz, sondern kann als Basiskompetenz betrachtet werden. Derzeit wird jedoch sowohl im elementar- als auch im schulpädagogischen DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  eher die Methodenkompetenz betont (Bayerisches Staatsministerium 2006; Gisbert 2004; Klippert/Müller 2010). Hier wird die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens vor allem auf den Erwerb von Lerntechniken reduziert, während die Bedeutung des Aufbaus von Selbstkompetenz eher unterschätzt wird.

Die Grundlagen für die Selbstkompetenz werden zwar in den frühen Phasen des kindlichen Lebens erworben, sie kann aber auch später ausgebaut werden. Damit sind auch die Beziehungen zu PädagogInnen im institutionellen Rahmen, beispielsweise zu ErzieherInnen und LehrerInnen von prägender Bedeutung (vgl. dazu Giesecke 1999 und Schweer 2008). Die Qualität professioneller pädagogischer lässt sich unter folgenden gemeinsamen (!) Aspekten betrachten:

  • der Bindungs- bzw. Beziehungsqualität (im Sinne von Bindungssicherheit in Anlehnung an die Bindungstheorie bietet die Beziehung eine »sichere Basis« zur Exploration)
  • der Interaktionsqualität (d.h. Sensitivität/Feinfühligkeit/Warmherzigkeit der Fachkraft in der Interaktion mit einzelnen Kindern und mit der gesamten Gruppe)
  • der Stabilität der Beziehung (d.h. Dauer, Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Kontakte)
  • der Involviertheit bzw. das Engagement der Fachkraft in Kontaktsituationen mit dem Kind (Intensität als quantitative Dimension, zählbar z.B. als Dauer und Häufigkeit der Sprechakte)(vgl Schwer 2011).

Immer wieder können PädagogInnen Situationen schaffen, in denen Kinder sich als selbstkompetent erleben. Dieses geschieht z.B., wenn Kinder bei der Bewältigung von Schwierigkeiten sensibel begleitet werden, seltener wenn ihnen Lösungen vorgegeben oder alle Probleme aus dem Weg geräumt werden. Dies drückt sich auch in der folgenden Arbeitsdefinition unserer Forschungsstelle aus:

Die Entwicklung von Selbstkompetenz ist als lebenslanger Prozess zu verstehen. Selbstkompetenz bezeichnet die Fähigkeit, in sich verändernden Zusammenhängen motiviert und aktiv gestaltend handeln zu können. Für den Aufbau von Selbstkompetenz sind (professionelle) pädagogische Beziehungen ebenso von zentraler Bedeutung wie die Gestaltung der Lernumgebung. Die Handlungsfähigkeit des Einzelnen hängt entscheidend von der Fähigkeit ab, Wissen und Emotionen miteinander zu verbinden. Eine hohe Selbstreflexivität ist dabei unabdingbar.


Selbstkompetenzförderung wird somit von zwei Komponenten maßgeblich beeinflusst: zum einen von der Gestaltung der Beziehung zwischen PädagogIn und Kind, zum anderen durch die Gestaltung einer anregenden Lernumgebung. Diese beiden Bereiche sind im tatsächlichen Miteinander nicht zu trennen.


Konstruktivistische PädagogInnen gehen z.B. mit der Kommunikationswissenschaft (vor allem mit Watzlawick 1967) seit Langem von der Erkenntnis aus, dass Unterricht sich nicht nur auf der Sachebene, sondern immer auch – mit dieser verbunden – auf der Beziehungsebene abspielt, wobei die Beziehungsebene die Sachebene dominiert: Lehrer und Schüler begegnen sich zunächst als Persönlichkeiten; sie beurteilen sich gegenseitig aufgrund persönlicher Werte (vgl. Stevens 2001). Unterricht hat also zuallererst eine zwischenmenschliche und erst dann eine institutionelle bzw. professionelle »Bedeutung«: Erst im zweiten Schritt sehen sich LehrerInnen und SchülerInnen in ihren Funktionen und Rollen.

Daraus erwachsen der Gestaltung von Lernprozessen vielfältige neue Anforderungen – auch für Bildungsprozesse in Kitas. Die Praxis des Lehrens und Lernens ist dann der »kommunikative Versuch der Ermöglichung der beabsichtigten Lernprozesse, der Anbahnung und Anleitung von Können und Verstehen« (Hermann 2003: 633), u.a. durch den gezielten Ausbau von Selbstkompetenz und nicht – wie die Standarddiskussion dies mitunter suggeriert – eine »Technik des Herstellens und Verteilens von Wissen«.

Die Entwicklung von Selbstkompetenz hängt davon ab, ob Lernen selbstwirksam ist. Lernen ist selbstwirksam, wenn Kinder eigenaktiv werden und für sich eine persönliche Bedeutung zu den Lerninhalt herstellen (vgl. dazu Kuhl et al. in diesem Band). Selbstwirksames Lernen ist nur dann möglich, wenn Erfolgserfahrungen bei der Bewältigung ansprechender und herausfordernder Aufgaben gemacht werden können. Die Gestaltung der Lernumgebung kann also einen positiven Einfluss auf die Selbstkompetenzentwicklung nehmen, wenn Konzepte zum Tragen kommen, die die Kinder zur Eigenaktivität anregen. In solchen Lernsettings wird das Kind aufgefordert, sich Ziele zu setzen und Verantwortung dafür zu übernehmen. Der Freiraum, der SchülerInnen dabei eingeräumt wird, wurde in Untersuchungen als besonders bedeutsam für die Entwicklung des Selbstkompetenz angesehen (vgl. dazu Renkl/ Helmke/Schrader 1997: 382). Der sinnvolle Einsatz geeigneter Methoden in der Kita und im schulischen Unterricht kann den Kindern Räume eröffnen, Erfolgserlebnisse zu haben und mit Misserfolgen umzugehen (z.B. bei der Projektarbeit oder der Wochenplanarbeit). Gelingt es, bei den Interessen und Fähigkeiten der Kinder anzuknüpfen, also eine persönliche Bedeutung der Lerninhalte für die Kinder zu eröffnen, wirkt sich dies entscheidend auf die Motivation der Kinder aus.

Ich-Stärke wird maßgeblich im Dialog erlernt. Achtung, Wärme, Rücksichtnahme sowie emphatisches Verstehen, Echtheit und Aufrichtigkeit schaffen Vertrauen und Respekt als wichtige Grundlagen für gelungene Lehrer-Schüler-Beziehungen (vgl. Tausch/Tausch, die zahlreiche Studien zum Lehrerverhalten seit den 1950/60er Jahren durchgeführt haben) und auch ErzieherIn-Kind-Beziehungen. Es ist insbesondere die Erfahrung, wertgeschätzt zu werden, die das Selbstvertrauen in das eigene Begabungspotenzial und dessen Umsetzung in individuelle Leistung beeinflusst. Positiv unterstützt wird dies z.B. durch Konzepte wie die »Bildungs-und Lerngeschichten«, in denen das Kind u.a. positive Rückmeldungen auf seine Entwicklung erhält – Ressourcenorientierung ist hierbei das entscheidende Stichwort. Des Weiteren ist die Nutzung neuer Formen der Leistungsbewertung in der Schule zu nennen, etwa Lernentwicklungsberichte, PortfolioPortfolio||||| Ein Portfolio bezeichnet ursprünglich  eine Sammlung von Objekten eines bestimmten Typs. Im  Handlungsfeld frühkindliche Bildung werden Portfolios beispielsweise wie "Ich- .Mappen" für Kinder genutzt um eigene Fortschritte zu dokumentieren. Auch in Studiengängen gibt es Beispiele, wo Portfolios als Prüfungsleistung oder Dokumentation von Entwicklungen zählen können. s, Lerntagebücher oder Schülerselbst- und -mitbewertungen. Darüber kann und sollte mit den Kindern in einen Dialog über deren jeweilige Lernfortschritte getreten werden, ebenfalls mit dem Ziel, für die (Lern-)Entwicklung Notwendiges respektvoll zu kommunizieren. Dann kann dass Kind spüren: »Ich bin gemeint«. In Lernentwicklungsberichten z.B. kann deutlich gemacht werden, dass Frustrationstoleranz sich lohnt und geschätzt wird. Auch Feedbackverfahren, wie Zwischenberichte oder Gespräche, können als sehr wertschätzend und motivierend erlebt werden und zum »Durchhalten« ermutigen. Eine gute Feedback-Kultur ist ein wichtiger Teil einer Kultur der Anerkennung. Dazu gehören auch Rituale des gemeinsamen Feierns von Erfolgen. Es gilt, an den Schulen eine Lernkultur und eine Lernumgebung zu schaffen, die den SchülerInnen Möglichkeiten eröffnet, ihre Selbstkompetenzen zu erweitern.

Dies ist in Kitas aufgrund ihres Auftrags der Erziehung, Bildung und Betreuung zunächst anders. Hier sind Bindungen und Beziehungsarbeit als pädagogische Mittel explizit verankert. Durch die stärkere Betonung des Bildungsauftrags muss jedoch in der Kita die Bedeutung der Beziehungsarbeit noch deutlicher im Hinblick auf Lernen und Bildung reflektiert werden. Die Beziehungsqualität zwischen LehrerIn/ErzieherIn und Kind kann als Indikator für das Leistungs- und Entwicklungsvermögen eines Kindes in der jeweiligen Bildungsinstitution gelesen werden. Je nachdem, wie Persönlichkeits- und Fähigkeitsmerkmale wahrgenommen und gefördert werden, können sich Kinder entwickeln. Durch entsprechende Beziehungserfahrungen werden sie mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten sowohl auf kognitiver als auch emotionaler Ebene angesprochen.

Hier wird der Zusammenhang zwischen den eingangs genannten Bedingungen für die Entwicklung von Selbstkompetenzen, authentische Beziehungsgestaltung und anregend gestaltete Lernumgebung, nochmals deutlich. Professionelles pädagogisches Handeln zeichnet sich durch eine immer wieder auszutarierende Passung dieser beiden Komponenten aus. Das Ziel ist die Entwicklung einer Kultur der Anerkennung, die bestimmt ist vom Grundsatz gegenseitiger Wertschätzung und der Ablehnung von Diskriminierung sowie Zielen der Integration und Partizipation. Auf diesbezügliche (evaluierte) Förderansätze kann derzeit nicht zurückgegriffen werden, sodass Kitas und Schulen strukturierte beziehungssensible Förderung selbst konzipieren und erproben müssen.