Zur Ethik der Forschungspraxis

Die Situation in Deutschland

Betrachtet man deutschsprachige Lehrbücher der Entwicklungspsychologie, so ist die Frage nach der Ethik des forschenden Handelns zwar noch nicht systematisch integriert, aber doch deutlicher akzentuiert. So findet sich z. B. in der deutschen Übersetzung des Lehrbuchs «Entwicklungspsychologie» von Laura Berk (3. Auflage, 2005) immerhin ein sechsseitiges Kapitel «Ethische Fragen in der Forschung zur Lebensspanne».

Es existieren auch «ethische Richtlinien» der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und des Bundes Deutscher Psychologen, wo die ethische Verantwortlichkeit des Berufes Diplom-Psychologe/-Psychologin festgelegt und spezielle «Grundsätze für Forschung und Publikation» beschrieben sind. Dabei wird in Paragraph C. III.1. festgelegt: Psychologen »… stellen sicher, dass durch die Forschung Würde und Integrität der teilnehmenden Personen nicht beeinträchtigt werden. Sie treffen alle geeigneten Maßnahmen, Sicherheit und Wohl der an der Forschung teilnehmenden Personen zu gewährleisten und versuchen, Risiken auszuschließen.». Eine bewusstere Haltung spiegelt sich bereits im Sprachgebrauch, wenn inzwischen die Rede von Versuchsteilnehmern ist und nicht mehr von Versuchspersonen oder Subjekten der Forschung. Diese Vorkehrungen können jedoch nur dann getroffen und überprüft werden, wenn das Forschungsvorhaben in die Routine einer forschungsfördernden Institution als Bestandteil der Antragsprüfung gerät (z. B. Deutsche Forschungsgemeinschaft). Darüber hinaus können sich Personen aus eigenem Antrieb an die Ethik-Kommission der Deutschen Gesellschaft für Psychologie wenden »… als Gremium, welches den Mitgliedern der Gesellschaft die Möglichkeit bietet, sich in unklaren Fällen beraten zu lassen» (Foppa, 1989, S. 57). Es bleibt jedoch festzuhalten, dass in all den Fällen, wo es um nicht intrusive Maßnahmen geht, und darunter fällt das Verständnis psychologischer Untersuchungssituationen zumeist, die Reflexion des Risikos eher großzügig gehandhabt wird.

 

Ein Blick auf die USA

Ganz anders wird die Situation in US-amerikanischen Lehrbüchern der Entwicklungspsychologie dargestellt. Eine differenzierte Diskussion der ethischen Standards ist selbstverständlich (vgl. z. B. Hetherington & Parke, 1986/2005; Craig, 1989/2001; Cole & Cole, 1989/2005). Häufig werden die «Ethical Standards for Research with Children» der «Society for Research in Child Development» der Diskussion zugrunde gelegt (vgl. Cole & Cole, 1989). Darin wird klargestellt, dass die Rechte des Kindes in jedem Fall höher einzuschätzen sind als die Rechte des Forschers. Dazu gehört auch, dass es dem Kind zu jeder Zeit freistehen muss, den Versuch abzubrechen. Zustimmung aller für das Kind verantwortlichen Personen, in erster Linie natürlich die Eltern, sowie vollständige Aufklärung über die Untersuchungsabsichten vor und Untersuchungsergebnisse nach dem Versuch sind selbstverständlich. Auslegungsbedürftig ist jedoch auch hier die Forderung, dass die sozialen, politischen und menschlichen Implikationen des Forschungsprojektes für die Versuchspersonen berücksichtigt werden sollten.

 

Folgen der Interventionen nicht unterschätzen

Es ist weiterhin bedeutsam, nicht nur die direkte Wirkung auf das Kind bzw. die Familien zu schätzen, sondern auch die impliziten Folgen für das Kind und die Eltern und/oder das soziale Umfeld. Alleine die Klassifikation eines Kindes in eine Untersuchungsgruppe bedeutet eine Etikettierung, die bestimmte Wahrnehmungs- und Evaluationsprozesse initiieren kann. Im Folgenden soll kurz begründet werden, weshalb die Berücksichtigung auch solcher mittelbarer oder auch langfristiger oder erst später einsetzender Beeinträchtigungen nicht minder bedeutsam ist wie direkte physische Konsequenzen einer Untersuchung.

 

Es fällt auf, dass die Wirkung emotionaler Belastungen in Untersuchungssituationen häufig nicht zur Kenntnis genommen wird – merkwürdigerweise auch gerade nicht in solchen Forschungszusammenhängen, die genau diese Wirkung zum Thema haben. So wird versucht, mit Riesenspinnen, natürlich aus Plastik, Angst auszulösen (vgl. Goldsmith & Alansky, 1987). Erwartungen werden so oft verletzt, bis die Babys anfangen zu schreien (vgl. Fagen & Ohr, 1985). Kinder werden absichtlich in Situationen gebracht, in denen sie eine Leistung nicht erbringen können, z. B. zur Feststellung von Entwicklungsquotienten (vgl. dazu auch Craig, 1989); oder Kinder werden – von der Mutter getrennt – in einer fremden Umgebung mit einer fremden Person konfrontiert, um die psychische Belastung zu steigern (vgl. Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978).

 

Stellen Stress, Trauer und Angst kein Probandenrisiko dar? Nach wissenschaftsöffentlicher Meinung nicht – nach ihr handelt es sich um kurzzeitige Irritationen, angeblich ohne Folgen. Aber diese optimistische Einschätzung der Wirkungslosigkeit von Erfahrungen ist nicht aufrechtzuerhalten, wenn die Forschungsergebnisse bezüglich der integrativen Kapazitäten des Säuglings ernst genommen werden. So ist nachgewiesen worden, dass schädigende Einflüsse von drei Monate alten Säuglingen bereits nach wenigen Einwirkungen gespeichert werden und abweichendes Verhalten produzieren; dieses Verhalten besteht weiter, auch wenn die Einwirkungen aufgehört haben (z. B. Field et al., 1988; vgl. dazu auch Kusch, 1995).

 

Dazu kommt der Beziehungsaspekt. Die negativen emotionalen Befindlichkeiten werden häufig in der Beziehung mit den primären Bezugspersonen erlebt; die Mutter lässt es zu, dass eine Spinne das Kind erschreckt, die Mutter verlässt den Raum, oder sie verhält sich plötzlich merkwürdig, ihr Gesicht gleicht einer Maske, sie reagiert nicht (vgl. «still face condition», Brazelton, 1979). Wenn wir davon ausgehen, dass die konkreten Interaktionserfahrungen Beziehungen konstituieren, so sind solche Versuche als Eingriff in die Beziehung zu werten. Es ist nicht anzunehmen, dass gerade diese Erfahrungen keine Wirkung haben, denn Beziehung entsteht nicht durch Mittelwertsbildung. Es ist sogar wahrscheinlich, dass diese Erfahrungen auf ohnehin in der Beziehung belastete Kinder stärker wirken als auf Kinder in sicheren Beziehungen – aber auch diese können durch das Erlebnis des unvertrauten Verhaltens der Mutter verunsichert werden. Das hier häufig entgegengehaltene Argument, dass solche Erfahrungen im Alltag aller Kinder repräsentiert und von daher «normal» seien, ist auf dem Hintergrund des Gesagten zurückzuweisen. Und als «normal» können die Verhaltensweisen der Kinder auch wirklich nicht bezeichnet werden: Kinder, die in Bewegungsstarre verfallen oder aber heftig weinen, sind in Labors nicht selten zu beobachten. Mütter berichten zuweilen – wenn sie danach gefragt werden –, dass die Kinder noch Tage nach solchen Versuchen «verängstigt» waren und unruhig schliefen.

 

Eine solche Situation stellt aber auch gleichzeitig eine Intervention in die Wahrnehmung der Eltern dar. Das Kind wird in einem psychosozialen Kontext gebracht, an den Eltern unterschiedliche Erwartungen knüpfen. Nach unseren Erfahrungen mit vielen Eltern in entwicklungspsychologischen Untersuchungssituationen nehmen die wenigsten von ihnen strikt die Perspektive ihrer Kinder ein und schützen diese vor unangenehmen Anforderungen. Viele Eltern neigen sehr viel mehr dazu, den Versuchsleiter zu unterstützen, indem sie versuchen, ihre Kinder «bei der Stange zu halten», also nicht akzeptieren, dass diese müde sind, etwas anderes lieber tun oder sich zu den Eltern zurückziehen möchten.

 

Durch die Verweigerung der Kinder, durch Anzeichen von Angst und Furcht wird nun bei manchen Eltern zusätzlich ein Gefühl des Versagens ihrer Kinder aktiviert – eine soziale Abwertung. Die Kinder sind in den Augen dieser Eltern zimperlich, sie blamieren also die Eltern. Kinder, die möglicherweise besonderen Schutz benötigen, erfahren besondere Ablehnung, da das Selbstverständnis der Eltern angesprochen ist. Es ist nahe liegend, dass hier wiederum besonders die belasteten Beziehungsmuster betroffen sind. Das bedeutet, solche Untersuchungen thematisieren die Beziehung aus zweifacher Perspektive – aus der Sicht des Kindes und aus der Sicht der Eltern.

 

Die Auswirkungen dieser Interventionen sind nicht zu überschauen und erst recht nicht zu kontrollieren. Versuchsleiter sind in dieser Situation vielfach gefordert und oft überfordert. Eine Minimierung des «Probandenrisikos» kann also nur dann wirklich erfolgen, wenn die Risiken auch erkannt werden. Und dies betrifft wiederum sowohl die explizite (Entwicklungs-)Theorie als auch die impliziten Konzepte über Kindheit und Entwicklung.



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