Sprachentwicklung und Sprachbildung im Kindergarten

Inhaltsverzeichnis

  1. Geborgenheit und Resonanz
  2. Empathie und Sprache
  3. Sprachentwicklungsphasen
  4. Haltung der Erzieherin
  5. Dialogrunden und Erlebnisse der Kinder
  6. Nachdenken über das eigene sprachliche Handeln
  7. Literatur

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I. Kinder lernen das Sprechen in Interaktionen

Sprachbildung im Elementarbereich wurde in den letzten Jahren in vielen Einrichtungen gleichgesetzt mit Sprachförderung. Oft war diese an bestimmte Personen und Programme gebunden. Es hat sich gezeigt, dass Sprachförderung als isolierte Maßnahme nicht sehr effektiv ist. (vgl. Haug-Schnabel / Bensel 2012, S. 56 und Albers 2011, S.81).  Kinder lernen das Sprechen in sozialen Interaktionen und nicht in Trainingssituationen. Intensivkurse des Sprechens finden in den unterschiedlichsten  Situationen des Alltags statt: beim Wickeln, Anziehen, Essen, Bilderbuch anschauen und Spielen. Beim handlungsbegleitenden Sprechen werden mehr Informationen gespeichert als in neutralen Sprachkontexten. Die verbalen Interaktionen zwischen Erzieherin und Kind werden als die entscheidenden Faktoren  für einen gelingenden Entwicklungs- und Bildungsverlauf angesehen (Haug-Schnabel / Bensel 2012, S. 54). Timm Albers fasst die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit so zusammen: „Die Gestaltung einer sprachförderlichen Umwelt durch dialogisches Bilderbuchlesen und Situationen des lang andauernden gemeinsamen Denkens im Kindergartenalltag ist dabei der einseitigen Unterstützung durch Trainingsprogramme vorzuziehen.“ (2011, S. 121)

 

II. Konzept einer modernen Sprachbildung

Erfreulicherweise sind in einigen Bundesländern die Weichen für ein modernes Sprachbildungskonzept bereits gestellt. So enthält der Hessische Bildungsplan die zentrale Aussage: „Sprachkompetenz erwerben Kinder am erfolgreichsten im Zusammenhang mit Handlungen, die für sie selbst Sinn ergeben.“ Die Niedersächsischen Handlungsempfehlungen zu Sprachbildung und – förderung  konkretisieren diesen Ansatz. Ganz deutlich hebt der Orientierungsplan zur Sprachbildung und Sprachförderung hervor, dass es im Elementarbereich primär darum gehen müsse, das Selbstwertgefühl des Kindes zu stärken. (Sprachbildung und Sprachförderung – Handlungsempfehlungen zum Orientierungsplan für Bildung und Erziehung im Elementarbereich niedersächsischer Tageseinsrichtungen für Kinder, S. 13).

 

Bedingungen für einen erfolgreichen Spracherwerb

  • ein wertschätzendes Erziehungsklima,
  • sichere und belastbare Beziehungen,
  • Zuwendungsformen, die Lernbegeisterung entfachen.
  • Feinfühliges und wertschätzendes Kommunikationsverhalten.
  • Kinder müssen oft zu Wort kommen, denn auch der Erwerb sprachlichen Wissens muss vom eigenen Handeln des Kindes ausgehen.
  • Das Gefühl von Erfolg und Selbstwirksamkeit ist wichtig.


 

Als Facetten eines neuen Sprachbildungskonzeptes können daher angesehen werden:

  • Reden über die Dinge des Alltags;
  • Vorlesen in den Familien und in der KITA;
  • über Bilderbücher und Geschichten sprechen;
  • Erzählen, Erfinden, und Aufschreiben von Geschichten;
  • Laut- und Sprachspiele, Gedichte, Reime und Lieder;
  • Spiele aller Art;
  • über Konflikte  reden;
  • Gespräche beim gemeinsamen Essen.
  • Vor allem sollten die Erwachsenen für die Kinder ein sprachliches Vorbild sein.


 

Empathische Beziehungen sind wichtig

Die neuen Orientierungspläne und Empfehlungen berücksichtigen  Erkenntnisse aus relevanten Forschungsbereichen.  Aus wissenschaftlicher Sicht hat die Beziehungsgestaltung eine revolutionäre Neubewertung erfahren. Die über Interaktionen entstehenden  Muster der neuronalen Verbindungen sind ein Spiegelbild der Gefühlsreaktionen der Bindungspersonen (Eltern, Erzieherinnen). Die Qualität der frühkindlichen Bindung und die in der weiteren Entwicklung  darauf aufbauenden Beziehungen mit anderen Personen bestimmen den Aufbau neuronaler Strukturen. Erlebt ein Kind Empathie, so ist  dies die beste Voraussetzung für die Entwicklung eines eigenen empathischen Handlungsmusters. Mehr und mehr kristallisiert sich heraus, dass Empathie (sich einfühlen und mitfühlen können) eine entscheidende Quelle für eine gut verlaufende Entwicklung darstellt.

Beachtung, Anerkennung und Zuwendung aktivieren das Motivationssystem. (Bauer 2005) Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass vor allem eine empathische Beziehung zwischen Erzieherinnen und Kindern eine positive Auswirkung auf die Sprachentwicklung hat. Es gilt daher, allen interaktiven Prozessen eine große Aufmerksamkeit zu schenken. Eine aktuelle Untersuchung scheint diese Annahme zu bestätigen.  „Trotz gleicher sprachlicher Ausgangslagen der Kinder und ähnlich struktureller Ausstattung wiesen die Kinder in einigen Einrichtungen nach einem Jahr deutlich größere sprachliche Fortschritte auf als in anderen Einrichtungen.“ (Jüttner / Koch, 2012)

 




III. Geborgenheit und Resonanz

Kinder werden als Entdecker geboren. Mit großen Augen blicken sie unmittelbar nach der Geburt in die Welt. Ein Kind spiegelt sich in den Augen der Eltern und sucht zu erkunden, ob es in dieser Welt willkommen ist. Durch diese frühen Spiegelungsprozesse wird die Entwicklung des kindlichen Gehirns angeregt. Wenn nun Mutter und Vater mit dem Baby sprechen, vermittelt ihr Gesicht Gefühle, die mit den Sprechlauten verbunden sind. Die Mimik der Eltern verbunden mit ihrem Sprechen führt beim Baby zu akustischen und emotionalen Wahrnehmungen. Auf diese Weise bereiten sie den Säugling auf das Sprechen vor. Innerhalb dieses Vorgangs ist es die emotionale Gestimmtheit, die den Säugling veranlasst, auf die sprechende Person zu achten und schließlich ebenfalls Bewegungen mit Mund und Zunge zu beginnen. Die Freude an den Sprechversuchen wird gestärkt, wenn ein Kind merkt, dass die Erwachsenen auf seine Aktivitäten reagieren.

Schon vom dritten Monat an sind lautliche Versuche zu beobachten, bald werden Laute rhythmisch gestaltet. Man kann auch schon beobachten, dass sie sich in der Lautstärke unterscheiden. Für sich alleine aber auch in Resonanz zu den Eltern versucht ein Kind nun alles, was es mit seiner Zunge, seinen Lippen und mit viel Spucke produzieren kann. Verbunden sind diese Versuche oft mit großer Begeisterung. Es sind erste Erfahrungen der Selbstwirksamkeit. Freude entsteht,  wenn Eltern eine entsprechende Resonanz geben. In der folgenden Zeit nehmen Kinder (etwa zwischen vier und sechs Monaten) Einzellaute wahr. Es entstehen Lautfolgen wie Mama, Papa, dada. Für die sprachliche Entwicklung ist die empathische Zuwendung entscheidend. Ein Kind muss sich bei seinen Aktivitäten wahrgenommen fühlen. Die empathische Resonanz der Bezugsperson trägt dazu bei, dass ein Kind mit Interesse und Ausdauer sich seinen lautlichen Produktionen widmet. Schon jetzt beginnt es zu verstehen, dass es dabei auf Zuhören und Reagieren ankommt. Das setzt voraus, dass sich eine erwachsene Person ganz dem Kind zuwendet. Videospiel oder Fernsehsendungen können nichts bewirken. Sie bringen Kinder eher in ratlose Situationen. (Haug-Schnabel / Bensel 2012, S. 15)

„Wörter und Sätze erhalten erst durch Emotionen, Gesten, Gesichtsausdruck und Stimmlage eine nachhaltige Bedeutung.“ (Haug-Schnabel /Bensel 2012, S. 17)

 

In der Regel entwickelt ein Kind in den ersten Tagen und Wochen durch die körperliche und emotionale Zuwendung von Mutter und Vater eine sichere Bindung. Es entsteht – wenn alles gut geht – ein Urvertrauen. Ist das Grundbedürfnis nach Geborgenheit gestillt, so werden Kinder nun auf vielfältige Weise versuchen, ihre Welt zu entdecken. Zunächst ist es das Gesicht der Mutter, später sind es die Spielsachen und Gegenstände in seiner unmittelbaren Umgebung. Wieder einige Zeit später sind es Wasser, Erde, Sand, Gebüsch und Nischen aller Art, die Möglichkeiten für Entdeckungen bereithalten.

 

IV. Auf die Erlebnisqualität kommt es an

Für viele Kinder stellt der Besuch des Kindergartens eine Bereicherung ihres Lebens dar. Dabei kommt es auf die Qualifikation der Erzieherinnen ebenso an wie auf die personalen und räumlichen Bedingungen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Erlebnisqualität nicht durch den Einsatz von Förderprogrammen der unterschiedlichsten Art gestört oder gar verdrängt wird.

„Kinder sollten mehr spielen, als viele es heutzutage tun. Denn wenn man genügend spielt, solange man klein ist – dann trägt man Schätze mit sich herum, aus denen man später ein Leben lang schöpfen kann. Dann weiß man, was es heißt in sich eine warme Welt zu haben, die einem Kraft gibt, wenn das Leben schwer wird.“ (Astrid Lindgren 2002)

Wer in seiner Kindheit und Jugend genügend Erfahrungen von Urheberschaft gemacht hat, der trägt den Schatz einer ständigen Motivation durch sein Leben.

Zum Glück gibt es noch eine große Zahl von Kindern, die gern und ausgiebig spielen. Sie rennen, klettern, schmieren, malen, hämmern. Sie bauen, wollen mit Feuer und Wasser spielen, zählen, messen, schreiben und lesen. Spielen und Lernen sind in der Anfangsphase der kindlichen Entwicklung untrennbar miteinander verbunden. Viele Kindergärten und Schulen haben das erkannt und entsprechende Konzepte entwickelt.

Für die Arbeit einer Erzieherin heißt das: 

  • Spiele der Kinder entdecken und mitspielen.
  • Spielideen von Kindern aufgreifen und andere Kinder anregen.
  • Eigene Spielideen entwickeln.
  • Eltern motivieren und sie am Spiel ihrer Kinder teilhaben lassen.
  • Mit Kolleginnen und Kollegen über erfreuliche und auch schwierige Spielsituationen reden, um diese besser verstehen zu können.


 




V. Empathie und Sprache

Sprachbildung findet vor allem im Spiel mit Gleichaltrigen statt. Zunächst werden Kinder versuchen über Mimik und Gestik Zugang zum Spiel anderer Kinder zu finden. Dabei brauchen sie gelegentlich die Unterstützung durch ihre Erzieherin. Um das zweite Lebensjahr werden sie versuchen über Laute und Worte zu signalisieren, dass sie mitspielen wollen. Schließlich kommt es im weiteren Verlauf des Spiels darauf an, Bedürfnisse und Ziele mit den anderen abzustimmen. Voraussetzung für diese Leistung ist die Ausbildung von Empathie.

Die Fähigkeit des Menschen zu emotionalem Verständnis und Empathie beruht darauf, dass sozial verbindende Vorstellungen nicht nur untereinander ausgetauscht, sondern im Gehirn des jeweiligen Empfängers auch aktiviert und spürbar werden können. Die neueurobiologische Grundlage bilden die von Giacomo Rizzolatti (2008) entdeckten Spiegelneurone.

Kinder nehmen schon früh emotional wahr. Etwa im Alter von 18 Monaten entdecken sie ihr eigenes Selbst. Äußerlich ist dies daran abzulesen, dass sich ein Kind im Spiegel erkennt. Es ist von nun an zur Selbst-Objektivierung fähig und damit in der Lage, einen Spielpartner nicht nur als „Objekt, sondern als eigenständiges Subjekt zu erkennen. Es kann nun unabhängig von der eignen Ich-Perspektive die Gedanken und Gefühle des anderen wahrnehmen und einschätzen. Damit ist eine grundlegende Voraussetzung für gelingende Interaktionen geschaffen. Diese Fähigkeit wird als „theory of mind“ bezeichnet. (Bischof-Köhler, 2011,2012)

 

Beispiel: „Mama kommt wieder.“

In einer Gruppe von Kindern im Alter zwischen 12 und 24 Monaten konnte ich die folgende Szene beobachten:

Frühstückszeit in der Krippe. Die Kinder sitzen mit ihrer Erzieherin am Tisch. Es ist still. Plötzlich weint Lisa leise. Anna erhebt sich von ihrem Platz, geht zu Lisa, legt ihren Arm um deren Schulter und sagt: „Mama kommt wieder.“

Anna, so darf man annehmen, ist in der Lage, sich in die Situation von Lisa zu versetzen. Sie realisiert, dass Trost die richtige Geste ist. Ein innerer Verarbeitungsprozess hat es ihr ermöglicht, sich in Lisas Erleben einzufühlen. Dabei lässt sie es aber nicht bewenden. Sie kommt zu dem Schluss, dass sie handeln muss. Und dann handelt sie. In ihrem Gehirn durchläuft sie einen Prozess, bei dem Fühlen, Denken und Handeln miteinander verknüpft werden. Sie aktualisiert ihre Fühl-Denk-Handlungsbahnen. In der Hirnforschung werden diese Verbindungen als Limbofrontale Bahnungen beschrieben. Sie entwickeln sich aufgrund von Erfahrungen mit anderen Personen. Ganz entscheidend dabei ist die Vorbildfunktion der Erzieherin. Das lässt sich gut an dem folgenden Beispiel ablesen:

 

Beispiel: „Beruhige dich mal!“

Die Erzieherin hatte vor Ostern mit den Kindern ausgepustete Eier angemalt. Sie wollte an einem Ei einen Faden zum Aufhängen anbringen. Dabei zerbrach das Ei. Erzieherin: „Oh, das wollte ich nicht, das tut mir leid.“ Linus (fünf Jahre alt), der das Ei bemalt hatte, sagt: „Das weiß ich doch, beruhige dich mal.“

Darin zeigt sich empathisches Verhalten. Wir können annehmen, dass Linus während seiner Zeit im Kindergarten schon oft von seiner Erzieherin den beruhigenden Hinweis erhalten hat, dass es gut sein kann, sich nach einem aufregenden Ereignis zunächst einmal zu beruhigen.

Im ersten Beispiel wird ein empathisches Verhalten einem anderen Kind gegenüber sichtbar, im zweiten Beispiel zeigt ein Kind Empathie seiner Erzieherin gegenüber.

 

Spiel, Empathie und Kommunikation

In den vielen Spielsituationen des Alltags ist immer wieder empathisches Verhalten in Verbindung mit der Fähigkeit zur Kommunikation gefragt. Wie nun Kinder miteinander agieren, wie sie ein Spiel beginnen, dieses fortsetzen, verändern, abbrechen oder wieder neu beginnen und wie sie mit Konflikten umgehen,  das hängt von der Kultur der Gruppe ab. Für ein gelingendes Spiel ist Kommunikationsfähigkeit äußerst wichtig. Gleichzeitig kann sie sich im Spielverlauf immer weiter ausdifferenzieren. Neben der Fähigkeit eigene Absichten mitzuteilen, ist es auch wichtig, die Absichten der anderen Mitspieler wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Sprachliche und emotional-soziale Fähigkeiten werden für ein gelingendes Spiel benötigt. Für jedes Kind ist es von Bedeutung von den Mitspielern anerkannt und akzeptiert zu werden. Diese Kompetenzen erwerben die Kinder untereinander und miteinander. Gelegentlich benötigen sie dabei die Hilfe ihrer Erzieherin. „Ergebnisse einer Erhebung in Kindertageseinrichtungen weisen darauf hin, dass die Teilhabe am gemeinsamen Spiel in der Kindergruppe bedeutsam für die Entwicklung sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten ist.“ (Albers 2011, S.53)

Die Gleichaltrigen nehmen hinsichtlich der Entwicklung eine immer größere Bedeutung ein. „Damit wird das Spiel der Kinder zu einem Motor für den Spracherwerb.“ (Albers 2012, S.53) 

 

Aspekte einer Kultur der Gleichaltrigen:

  • Die Art, wie Kinder zu einem gemeinsamen Spiel finden;
  • Wie sie Konflikte klären und Lösungen finden;
  • Wie sie Kontakte knüpfen und aufrecht erhalten;
  • Wie sie es schaffen, sich gemeinsam auf einen Gegenstand zu konzentrieren;
  • Wie sie ihre Spielprozesse koordinieren.


 

Chancen und Herausforderungen

Timm Albers (2012, S. 57) fasst die neueren Forschungserkenntnisse so zusammen: „Die Kommunikation und das Spiel mit der Gleichaltrigen Gruppe machen einen Großteil des Inputs aus, aus dem Kinder sich Regeln der Sprache erschließen. Der pädagogische Rahmen, der in Kindergarteneinrichtungen zur Verfügung gestellt wird, bietet hier die größten Chancen, ist zugleich aber auch eine Herausforderung für die Fachkräfte.“

 


 

VI. Sprachentwicklungsphasen

Viele Bedingungen spielen bei der Entwicklung der kindlichen Sprache eine Rolle. Da diese Bedingungen für die Kinder sehr unterschiedlich sind, ist es normal, dass auch ihre Sprachentwicklung große Unterschiede aufweist. Daher werden Entwicklungsschritte lediglich angedeutet. Sie sollen einer groben Orientierung dienen. Entscheidend für eine gelingende Sprachentwicklung ist die Haltung der Erwachsenen.  Sie müssen sich die Frage stellen, ob sie im Umgang mit den Kindern die oft sehr großen Unterschiede emotional akzeptieren und angemessen auf die jeweiligen sprachlichen Äußerungen reagieren können.

 

Laute und Silben

Schon vom dritten Monat an gelingen lautähnliche Gebilde. Ein Kind probiert, was es mit Zunge, Lippen und Spucke alles machen kann. Kurze Zeit später bildet es Laute und Lautfolgen, wie AAAA; OOOO. In den nächsten Monaten übt sich ein Kind im Lallen. Es ist nun schon in der Lage, Silben aneinander zu reihen. In der gesamten Phase sollten die Bezugspersonen sowohl die beruhigende Babysprache imitieren als auch in gewohnter Sprechweise die Vorgänge beim Wickeln, Füttern, Waschen und Anziehen benennen. Sie sollten ihre Handlungen sprachlich begleiten.

Zwischen dem 10. und 14. Monat können Kinder Wortklänge wie Nane, Dede, Mimi, Hühang aus Wörtern heraushören und diese produzieren. Für den Erwachsenen ist leicht zu erkennen, dass mit Nane Banane und mit Mimi Milch gemeint ist. Schwieriger ist es, hinter  Hühang einen  Kühlschrank zu erkennen. Allerdings erschließen sich solche Bedeutungen leicht im konkreten Umgang mit dem Kind.

 

Wörter und erste Sätze

Im Alter von zwei Jahren sprechen viele Kinder Wörter wie: Mama, Papa, Ball, Puppe, Hund oder Wauwau. Dodil, Tator, Schleifwurst und viele andere Produktionen entstehen und geben der Bezugsperson oft nur für Sekunden ein Rätsel auf. Dann lässt dich die Bedeutung aus dem Kontext erahnen. Nun ist die empathische Modulierkunst der Erwachsenen gefragt. Und es gibt viele Nuancen, Klangmelodien und Zusammenhänge in denen nun über das Krokodil, den Traktor oder die leckere Fleischwurst geredet werden kann. Wenn wir die vielen Wortklangschöpfungen der Kinder mit Staunen und Freude aufnehmen und wohlwollend korrigierend ihre Klangwörter in der Umgangssprache wieder verwenden, dann finden nach und nach Klang und Bedeutung auf gute Weise zueinander. So wird irgendwann aus Wuffin ein Telefon, aus Somzia ein Schlafzimmer und aus Dazus ein Schlafanzug.

Einjährige Kinder verstehen etwa 50 Wörter aus ihrer Erfahrungswelt. Mit etwa 18 Monaten verfügt ein Kind über 200 Wörter im passiven Wortschatz. Aktiv verwendet ein Kind in diesem Alter etwas 50 Wörter. Im Alter von zwei Jahren sind es oft schon 200 Wörter, die zum aktiven Wortschatz eines Kindes gehören. Dieser Anstieg ist vor allem dann zu verzeichnen, wenn Eltern und Erzieherinnen die vielen Dinge und Ereignisse des Alltags sprachlich korrekt beschreiben.

 

Förderliche Dialoge

Ein Dialog zwischen einem zweijährigen Jungen und seiner Erzieherin könnte sich vor dem Gang auf den Spielplatz etwa so abspielen:

Leo: „Leo raus!“

Erzieherin: „Leo, du möchtest raus?“

Leo: „Raus Garten!“

Erzieherin: „Ja, Leo, wir gehen gleich alle in den Garten.“

 

Ein anderes Beispiel:

Suse: „Suse anziehen?“

Erzieherin: „Suse, soll ich dir beim Anziehen helfen?“

Suse: „Helfen!“

Erzieherin: „Suse, einen Moment, ich helfe dir gleich beim Anziehen.“

 

So erleben Kinder, dass sie verstanden werden und mit Sprache etwas bewirken können. Und das motiviert sie, immer wieder mit Hilfe ihrer Sprache etwas erreichen zu wollen. Sind sie erfolgreich und zeigen die Erwachsenen eine angemessene Resonanz, dann wird dieses Verhalten von den Kindern als Belohnung empfunden. Diese Erfahrung führt zur Ausschüttung von „Glückshormonen“ und stärkt das Bedürfnis, immer wieder durch sprachliches Handeln etwas bewirken zu können.

 

Zwei- und Dreiwortsätze, Einzahl und Mehrzahl, Verwendung der Artikel

Im Alter von drei Jahren kommt es zu komplexeren Sätzen. Das Verb wird an die richtige Stelle im Satz gestellt. Fragen können formuliert, Einzahl und Mehrzahl unterschieden werden. Der richtige Gebrauch der Artikel nimmt zu. Kinder verwenden in diesem Alter die richtige Zeitform und wollen beim Betrachten von Bilderbüchern nicht nur zuhören, sondern möglichst oft auch mitreden.

 




VII. Unterschiede im sprachlichen Können und die Haltung der Erzieherin

Es gibt große Unterschiede im sprachlichen Handeln der Kinder. Da möchte ein dreijähriges Mädchen gerne wissen, ob es zur Köchin gehen darf, um zu fragen, was es heute zu essen gibt. Zu seiner Erzieherin sagt es mit fragendem Blick: „Ute (so heißt die Köchin) kocht hat?“ Die Erzieherin nimmt die Frage auf und moduliert etwa folgende Antwort: „Du möchtest wissen, was Ute gekocht hat. Du darfst zu ihr gehen und sie fragen, was sie gekocht hat.“

Es ist denkbar, dass ein anderes dreijähriges Mädchen in dieser Situation einen Fragesatz exakt so formuliert: „Christina, kann ich mal in die Küche gehen? Ich möchte Ute fragen, was es heute zu essen gibt.“ Und es ist vorstellbar, dass dieses Mädchen kurze Zeit später seiner Erzieherin mit leuchtenden Augen mitteilt: „Ich habe Ute gefragt, was sie gekocht hat. Es gibt Nudeln mit Tomatensoße.“

Daran wird deutlich, dass Kinder in diesem Alter bereits über ein ausgeprägtes grammatikalisches Verständnis verfügen. Zwei weitere Beispiele sollen die große Spanne andeuten, in der sich gleichaltrige Kinder befinden können.

 

Beispiel: Begegnung mit einem Wildschwein

Die Gruppe war mit ihrer Erzieherin auf dem Weg zu einem Hausbesuch. An diesem Tag wurde Simon besucht. Auf dem Weg dorthin erzählte Anna ihr Erlebnis von der Begegnung mit einem Wildschwein. Simon kannte diese Geschichte noch nicht und wollte mehr erfahren. Anna hat dann so spannend erzählt, dass alle Kinder mit Interesse zuhörten.

„Es war ein schöner Tag im Sommer. Zuerst sind wir auf den Hof gefahren. Dann haben wir uns die Pferde angeguckt. Dann hat Papa das Wildschwein gestreichelt. Jetzt wird’s spannend. Ich wollte es nämlich auch mal ausprobieren. Denn hat es (das Wildschwein) gedacht, es wär was zu fressen – der Finger – und hat rein gebissen. Denn hab ich ganz laut geschrieen und geweint. Denn hat Papa da ein Taschentuch drauf gelegt. Denn haben die vom Pferdehof einen Notarztwagen geholt.  Denn bin ich da ins Klinikum rein gefahren. Dann, als wir da waren, sind wir rein gegangen. Ein Arzt hat mich untersucht. Zuerst musste ich den Finger in so ne Brühe halten, damit sich das nicht entzündet. Denn haben sie es erst mal genäht. Nein, vorher haben sie die Brühe erstmal ein bisschen abgetupft. Dann haben sie einen Verband, einen blauen, darum gewickelt. Vielleicht war’s auch ein Gips. Ich weiß nicht mehr genau – Verband oder Gips. Dann hab ich Gummibärchen und so ne Arztspritze gekriegt, wo man Wasser reinfüllen kann, zum Spielen. Zu Ende!“

 

Die Geschichte kann ich mitteilen, weil sie die Erzieherin als Lerngeschichte für das Kind aufgeschrieben hat. Sie war so sehr von der Erzählung beeindruckt, dass sie Anna einige Tage später bat, ihr die Geschichte noch einmal zu erzählen. Sie wolle diese für Annas PortfolioPortfolio||||| Ein Portfolio bezeichnet ursprünglich  eine Sammlung von Objekten eines bestimmten Typs. Im  Handlungsfeld frühkindliche Bildung werden Portfolios beispielsweise wie "Ich- .Mappen" für Kinder genutzt um eigene Fortschritte zu dokumentieren. Auch in Studiengängen gibt es Beispiele, wo Portfolios als Prüfungsleistung oder Dokumentation von Entwicklungen zählen können. aufschreiben.

 

Beispiel: Toter Käfer

Ein anderes Kinde kommt aufgeregt angerannt, fass die Erzieherin an der Hand  und führt sie an einen Tisch. Dort betrachten Kinder den Inhalt einer Schachtel. Ein Kind hatte tote Käfer mitgebracht. „Guck da din hat,“ sagt der dreijährige Junge, der bis vor wenigen Wochen noch nicht gesprochen hat.

 

Im ersten Fall ist es die große Differenziertheit und im zweiten Fall ist es die Tatsache, dass der dreijährige Junge überhaupt spricht. In diesem Fall sind es vier Wörter. „Guck  da din hat.“ Er meint, „guck doch mal, was der da in seiner Schachtel gesammelt hat.“

 

Die Erzieherin sagt, als sie mir diese Geschichten erzählt,  wahrscheinlich könne ich mir gar nicht vorstellen, wie glücklich sie über diese Leistung sei.

Der Junge fühlt sich wohl in der Gruppe, ist integriert, wird mit seiner Schwäche akzeptiert.  Das ist dann möglich, wenn nicht ein verengter Begriff von Bildung und Lernen  im Vordergrund steht,  sondern das Leben selbst – mit seinen oft schwierigen – aber auch seinen sehr schönen Seiten. Im Team und mit der behandelnden Logopädin, der Fachfrau für Integration, der Mutter und einer Mitarbeiterin der Frühförderstelle wurde gerade beraten, ob der Junge in der KITA bleiben oder einen Sprachheilkindergarten besuchen solle.

Die Fachfrauen haben sich für den Verbleib des Jungen im Kindergarten ausgesprochen. Zusätzlich erhält er eine logopädische Betreuung. Wenn die Kinder im Morgenkreis erzählen, meldet er sich auch zu Wort. Oft könne man nur erahnen, was er meine, aber alle Kinder hörten geduldig und mit Interesse zu. Sie wollen verstehen, was er meint. In diesem Verhalten zeigt sich Empathie.

 

Beispiel: „Keiner da bei meiner Bürste“

Faruk, vier Jahre, Familie mit 6 Kindern, Heimat Kosovo, besucht seit drei Monaten einen integrativen Kindergarten. Noch ist seine Beeinträchtigung, die sich u.a. in seiner noch gering ausgeprägten Sprachfähigkeit zeigt, nicht hinreichend diagnostiziert. Er kommt gerne, sogar die Mutter ist schon einmal mitgekommen.

Zur Situation: Am Wochenende werden die Zahnbecher gereinigt. Am Montag werden die Becher an ihren Platz gestellt und die Zahnbürsten werden von den Kindern wieder zugeordnet. Faruk fehlt an diesem Tag. Als er am Dienstag Zähne putzen will, ist seine Bürste nicht im Becher. Er kommt er ganz aufgeregt zu seiner Erzieherin und sagt:

„Keiner da bei meiner Bürste.“

Die Erzieherin sagt, es sei der schönste Satz des ganzen Jahres. Dieser Satz habe ihr den ganzen Vormittag über gute Laune gemacht. Und das geschehe auch immer dann, wen sie an diese Situation denken würde. Er könne seine Zahnbürste nicht finden, das wollte Faruk seiner Erzieherin mitteilen. Wir sehen, dass er noch Probleme in der Satzkonstruktion hat. Aber er konnte ausdrücken, dass es um seine Zahnbürste geht. Seine Erzieherin hat ihn verstanden. Das ist entscheidend.

Das sprachliche Handeln seiner Erzieherin können wir uns so vorstellen:

E: „Faruk, du wolltest Zähne putzen. Deine Zahnbürste war nicht an ihrem Platz. Ich weiß, wo sie ist. Komm, wir holen sie. Dann kannst du deine Zähne putzen.“ Seine Sprache hat im geholfen, an seine Zahnbürste zu kommen. Er kann sich freuen, dass er sein Ziel erreicht hat.

Faruk bekommt eine Logopädie-Therapie, er fühlt sich in der Gruppe wohl und macht insgesamt gute Fortschritte.

 

Ich erwähne diese Beispiele vor allem aus zwei Gründen:

Kinder sind verschieden, und sie sind in der Lage sich in ihrer Unterschiedlichkeit zu akzeptieren. Die Erzieherin freut sich über die sprachlichen Äußerungen und gibt den Kindern eine entsprechende Resonanz. Die Kinder fühlen sich in ihren sprachlichen Aktivitäten akzeptiert. Sie erleben das Verhalten der Erzieherin als Wertschätzung. Hier werden die Grundlagen für eine anhaltende Motivation gelegt und darauf kommt es an.

„Ich hoffe,“ sagt die Erzieherin, „dass sie einmal eine Lehrerin kriegen, die sie versteht. Und ich hoffe, dass wir ihnen was mitgegeben haben, was ein positives Grundgefühl in ihnen auslöst – ich hoffe, dass sie, wenn sie sich später einmal erinnern, das Gefühl haben, dass sie eine glückliche Kindergartenzeit hatten.“

 

Zu  einem späteren Zeitpunkt schreibt die Erzieherin für Anna, die eine unschöne Begegnung mit einem Wildschwein hatte, noch eine Lerngeschichte. Dabei wird der Blick bereits in die Zukunft gelenkt.

 

Eine Lerngeschichte für Anna und ihre Begegnung mit dem Wildschwein

Liebe Anna,

Vor einigen Tagen haben wir Simon zu Hause besucht. Auf dem Weg dorthin gingst du an meiner Hand. Wir unterhielten uns miteinander. Du erzähltest, du habest einmal einem Elch oder Hirsch mit einem Taschentuch die Nase abgewischt. Nachdem ich dich gefragt hatte, wo das gewesen sei, fiel dir ein, dass es beim Gehege am Kehr war. Ich erklärte dir, dass es am Kehr keine Elche gibt und das Tier deshalb sicher ein Hirsch gewesen ist.

Im Verlauf des Gesprächs kamen wir auf dein Erlebnis mit dem Wildschweinbiss zu sprechen. Simon kannte diese Geschichte noch nicht und wollte von dir mehr dazu erfahren. Du hast dann dein Erlebnis so spannend und interessant erzählt, dass alle Kinder um dich herum genau zuhörten. Deshalb habe ich dir später vorgeschlagen, mir diese Geschichte noch einmal zu erzählen, damit ich sie aufschreiben könnte. Ich habe sie dann auch aufgeschrieben und du hast das Wildschwein und deinen blutenden Finger dazu gemalt. Weil du so eine gute Geschichtenerzählerin bist, habe ich dich ermuntert mir weitere Geschichten zu erzählen. Die Geschichte mit dem Frosch aufzuschreiben, war dann sogar deine eigene Idee.

Wenn du bald selbst lesen und schreiben kannst, wird es dir bestimmt Freude bereiten, deine eignen erlebten oder erfundenen Geschichten aufzuschreiben.

 




VIII. Dialogrunden und Erlebnisse der Kinder

Im Alter von vier bis fünf Jahren sind Kinder zu länger anhaltenden Gesprächen fähig, die sich unabhängig vom Handlungskontext auch auf fiktive Zusammenhänge beziehen können. Mit vier Jahren verstehen Kinder auch komplexe Satzkonstruktionen. Wenn Kinder erzählen, dann weben sie auch Wünsche und Fantasien in ihre Erzählungen. Sie brauchen interessierte / neugierige Zuhörer. Sie profitieren in der Interaktion von der Sprache der Erwachsenen. Diese sollten modulierend das Sprechen der Kinder begleiten: Fragen stellen, Äußerungen wiederholen und auch erweitern und auf empathische Weise Korrekturen anbringen.

Kinder brauchen Zeit, eine anregende Umgebung und zugewandte Erzieherinnen. So kann sich eine Sprachkultur entwickeln, die für die beteiligten Personen mit  Freude verbunden ist.

 

Erlebnisse der Kinder

Die folgende Geschichte soll als Beispiel dafür gelten, wie differenziert sich fünfjährige Kinder ausdrücken können, wenn sie die Möglichkeit erhalten, an einem für sie interessanten Thema gemeinsam zu arbeiten. Die Erzieherin hatte im Rahmen einer Dialogrunde nach wichtigen Ereignissen aus dem Leben der Kinder gefragt. Ein Junge erzählte von einem Einbruch, der in der Nachbarschaft geschehen war. Andere Kinder erzählten davon, dass in der Zeitung „Räubergeschichten“ gestanden hätten. Daraus entwickelte sich ein Gespräch, das die Erzieherin mitschrieb. Dabei musste sie immer wieder die Kinder bitten, langsam zu sprechen, damit sie auch alles mitschreiben könne. So ist eine fiktive Geschichte entstanden, an der fünf  Kinder beteiligt waren. Jedes Kind hat daran seinen je eigenen Anteil. Zum Schluss las die Erzieherin das Ergebnis vor. In den folgenden Tagen gestalten die Kinder diese Geschichte immer wieder als Rollenspiel. Sprachbildung ereignet sich im Erzählgeschehen und im Prozess der Rollenspielgestaltung auf vielfältige Art.

Wenn Menschen erzählen, finden sie eine sprachliche Form für das, was sie erlebt haben. Sie sind das Subjekt der Erzählung. Das Ereignis findet an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten statt. Vergangenes wird erinnert, findet in der Sprache eine neue Form, ist nicht nur Abbild sondern Neuschöpfung des Erlebten. Stimmungen, Assoziationen, Emotionen verbinden sich mit dem Erzählten.

 

Beispiel: Eine Räubergeschichte

In der Zeitung und im Internet stand, dass eine unheimliche Räuberbande mit Männern und Frauen durch die Gegend schleicht. Die Diebe haben schwarze Sachen an – ein schwarzes Kostüm. Es waren zwei Männer und zwei Frauen. Die Männer haben schwarze Hüte auf und die Frauen schwarze Mützen.

Jonathan wusste, dass sie sich in der Nähe herumtreiben, aber nicht dass sie es gerade auf sein Haus abgesehen hatten. Jonathan wohnt in einem Bauernhaus mit Reetdach.

Als sie die Tür aufgemacht haben, sie haben die Türklinke abgebrochen und das Türschloss aufgebrochen, war es schon 12 Uhr nachts.

Nachdem sie die Schuhe ausgezogen hatten, schlichen sie die Treppe hoch und machten die Tür auf – mit einem Gerät. Das Gerät sieht ungefähr so aus wie ein Maschinengewehr, aber es hat unten ganz lange spitze Zacken. 

Sie kamen ganz leise herein und wollten nach dem Computer greifen, aber Jonathan hat in letzter Sekunde noch das Telefon aus dem Ständer gerissen und hat die Polizei angerufen: „Polizei, bei mir sind Diebe – die unheimlichste Bande Deutschlands.“

Die Diebesbande ist weggelaufen und hat Jonathans Lieblingsbuch geschnappt, in dem er abends immer liest.

Die Polizei hat sie auf dem Weg in die Räuberhöhle ertappt und hat ihnen das Buch abgenommen. Sie hat ihnen Handschellen angelegt und sie ins Gefängnis geführt.

Die Polizei hat Jonathan, nachdem sie die Diebe eingesperrt hatte – ins Gefängnis - sein Lieblingsbuch zurückgebracht, in dem er abends immer liest, wenn er im Bett liegt.

Jonathans Eltern waren noch in der Stadt. Er hat sie angerufen und ihnen erzählt, dass die gefährlichste Räuberbande Deutschlands bei ihm eingebrochen hat und jetzt im Kerker sitzt und jammert, dass sie Jonathans Computer klauen wollte und jetzt eingesperrt ist.

Die Diebe bereuen, dass sie den Computer klauen wollten und das Buch geklaut haben.

(Beteiligt waren fünf Kinder im Alter von fünf Jahren)

 

Interpretation:

Ausgangspunkt für dieses Beispiel ist die Anregung der Erzieherin. Sie hatte darum gebeten, ein wichtiges Erlebnis zu erzählen. Wenn Kinder erzählen, dann finden sie eine sprachliche Form für ein Ereignis, das sie selbst erlebt oder von dem sie gehört. Sie erzählen dann, wenn das Thema für sie bedeutsam ist. Vergangenes wird erinnert und gegenwärtig dargeboten. Dabei werden unterschiedliche Assoziationen mit einbezogen. Realität und Fiktion werden oft miteinander verknüpft. Damit Erzählen gelingt, braucht es interessierte und aufmerksame Zuhörer. Sie schaffen mit ihrer Aufmerksamkeit den Raum für das freie Erzählen und geben dem erzählenden Kind die Chance, seine eigene Aufmerksamkeit zu erweitern. Der Vorgang des Erzählens ist ein schöpferischer Akt und schafft einen gemeinsamen Erfahrungsraum. In diesen gemeinsam gestalteten Raum fließen die unterschiedlichsten Erfahrungen und Assoziationen ein. So wird aus dem Beginn einer individuellen Erfahrung ein gemeinsam gestaltetes Rollenspiel.

 

Geschichten aus dem Leben der Kinder

Die folgenden Geschichten wurden von der Erzieherin aufgeschrieben. Anregungen waren: „Was hast du erlebt?“ „Gab es ein wichtiges Ereignis in der letzten Woche?“ Wenn die Kinder wissen, dass sich ihre Erzieherin für ihre Erlebnisse interessiert und diese auch aufschreibt, dann äußern sie gelegentlich von sich aus den Wunsch, ein solches Erlebnis zu schildern. Die in den nachfolgenden Beispielen geschilderten Erlebnisse scheinen sehr ähnlich zu sein. Sie unterscheiden sich aber grundlegend. Die Lösung findet sich in dem Nachsatz zum zweiten Beispiel.

 

Beispiel 1: Wie ich mein Seepferdchen bekommen habe

„Erstmal sind wir dann ins kleine Becken gegangen. Da mussten wir uns erstmal wärmen und tauchen. Einmal untertauchen und so winken. Dann haben wir erstmal Schwimmbretter und so Schwimmnudeln bekommen und dann sind wir so Runden geschwommen. Dann, wenn wir erstmal so bereit für alles sind, dann sind wir ins große Wasser gegangen. Ins ganz große, tiefe und breite. Dann sind wir mit Nudeln erstmal hin geschwommen, zum Startblock. Und dann habe ich eine ganze Bahn versucht, die Schwimmbewegungen mit Armen und Beinen zu machen.  Dann sind wir zurück geschwommen, ganz hinten hin, bis zum Tiefen. Dann sind wir wieder ins kleine Becken gegangen. Die Schwimmlehrerin hat gesagt: “Heute haben wir 2 Seepferdchen“ Dann haben sich alle hingesetzt, außer ich und der Junge. Dann haben alle so mit den Füßen geplanscht und dann sind der Junge und ich daran vorbei geschwommen. Und dann hab ich mich auf so eine Nudel gesetzt. Ich hatte die Nudel zwischen meinen Beinen. Dann mussten wir mit den Füßen so strampeln damit wir auch noch hoch und runter kamen. Hoch und runter, hoch und runter. Dann sind wir wieder ins kleine Becken gegangen. Da mussten wir zur tiefsten Stelle gehen und den Ring ins Wasser werfen. Einmal Luft  holen und dann untertauchen und den Ring holen. Danach haben sich alle Kinder an den Beckenrand gesetzt und mit den Füßen gestrampelt und wir sind daran vorbeigeschwommen.“

 

Beispiel 2: Wie ich mein Seepferdchen gemacht habe

„Wir waren im Urlaub in R. Das war zwei Stunden mit dem Auto – aber ich weiß es nicht. Für mich ein bisschen lang.

Ich wollte es einfach mal versuchen, ob ich das Seepferdchen machen kann. Ich hab erstmal im Becken mit Puffärmeln ein bisschen geübt. Ich hab die Frau gefragt, ob ich auch schon Seepferdchen machen darf mit fünf? Die Frau hat „Ja“ gesagt.

Dann bin ich ins Becken gegangen, die Frau ist mitgekommen und Mama und Papa auch. Die Frau hat mir gesagt, was ich machen soll. „Du sollst erstmal zwei Bahnen schwimmen und dann noch mal drei.“ Sie hat mir erstmal alles erklärt. Dann musste ich vom Dreier springen. Dann musste ich den Ring noch vom Boden holen. Dann musste ich untertauchen mit ner Taucherbrille. Die Frau hat mir gesagt, dass ich alles geschafft habe. Und sie hat mir das Seepferdchen im Briefumschlag gegeben.“

 

Erzieherin zur Mutter: „Oh, Jana hat ja schon das Seepferdchen gemacht.“

Mutter:  „Wie? Was? Seepferdchen?“

....

Erzieherin: „Wir legen die Geschichte ins Portfolio unter: Ausgedachte Geschichten.“

 


 

IX. Nachdenken über das eigene sprachliche Handeln

In regelmäßigen Abständen sollten sich Erzieherinnen im Rahmen einer Selbstreflexion ihres sprachlichen Handelns die folgenden Fragen stellen:

  • Zeige ich Interesse an dem, was Kinder machen und wie sie es machen?
  • Begleite ich ihre Aktivitäten sprachlich?
  • Achte ich darauf, dass neue Wörter in ihrem Zusammenhang erlebt und verstanden werden?
  • Unterstütze ich die Kinder bei ihren Interaktionen?
  • Korrigiere ich das Sprechen der Kinder, indem ich Moduliertechniken einsetze?
  • Stelle ich Fragen zu unvollständigen Äußerungen und bringe ich sie – falls erforderlich - in die grammatikalisch richtige Form?
  • Ermuntere ich die Kinder zu Rollenspielen und beteilige ich mich an Spielsituationen?
  • Bringe ich genügend Ideen mit in den Alltag?
  • Setze ich  anregende methodische Möglichkeiten ein (Erzählkoffer)?
  • Achte ich bewusst darauf, was Kinder mir mitteilen wollen?
  • Schreibe ich möglichst oft ihre Erzählungen und Berichte für sie auf?
  • Bin ich in meinem sprachlichen Handeln authentisch?
  • Rege ich die Kinder an, angemessen über ihre Konflikte zu sprechen?


 

X. Ausblick:Empathie – Kommunikation - Zukunft

Ein Kind braucht auf seinem Weg zu einer autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.en Persönlichkeit zugewandte Erwachsene (Eltern, Großeltern, Freunde, Geschwister, Erzieherinnen, Lehrer), die Interesse an seiner Entwicklung haben, seine Eigenaktivitäten unterstützen und auch wertschätzen. Auf diese Weise entwickelt ein Kind Interesse an sich und seiner Umwelt. Es sammelt durch konkretes Tun Erfahrungen, die als Wissen gespeichert werden. Dabei setzt es immer differenziertere Formen der Selbst- und Welterkenntnis ein. Wissen, Denken, Fühlen und Handeln stehen in diesem Prozess in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Mehr und mehr kristallisiert sich heraus, dass Empathie als eine entscheidende Quelle für eine gut verlaufende individuelle und auch gesamtgesellschaftliche Entwicklung anzusehen ist. Eine moralisch handelnde Person bezieht die Interessen der Anderen mit ein - der Egoist denkt nur an die Optimierung der eigenen Interessen. (Nidda-Rümelin 2012)

Eine humane Gesellschaft beruht auf der menschlichen Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, Rücksicht zu nehmen und mit anderen zu kooperieren. Der einzelne Mensch sollte ein Leben führen können, in dem ein freundschaftliches und liebevolles Miteinander die bestimmenden Faktoren sind. Damit wir empathisch miteinander umgehen, braucht es die Überzeugung, dass ein anderer die gleiche Daseinsberechtigung hat wie wir und genauso einzigartig ist wie wir selbst. Die Menscherrechte sind dafür ein einzigartiges Dokument.

Empathie ist der Boden, auf dem demokratische Verhältnisse wachsen und gedeihen können. In einer Welt ohne Empathie fehlt nicht nur das, was das Menschsein überhaupt ausmacht, es fehlt auch die Grundlage für ein demokratisches Wertesystem.  Auch ökonomischer Erfolg basiert auf einer verlässlichen Kommunikation. Und die beherzigt unverzichtbare Regeln wie Wahrhaftigkeit und Vertrauen.

Vor diesem Hintergrund wird die herausragende Bedeutung gelingender Dialoge deutlich, die auf einer empathischen Grundsituation beruhen. Eine kompetente Person verfügt über die Fähigkeit, im konkreten Einzelfall angemessen zu handeln. Damit diese Prozesse gelingen können, müssen Kinder und Jugendliche ihre Gedanken, Ideen und Absichten anderen transparent machen können. Sie müssen sich also eine Kommunikationskompetenz aneignen. Und schließlich gehören emotionale und soziale Fähigkeiten wie Toleranz, Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft dazu. Man muss sich auch in die Gedankenwelt anderer hineinversetzen können (Empathie). Wer einen verantwortungsbewussten Umgang mit sich selbst, den anderen Menschen und mit der Natur pflegt, kann als gereifte Persönlichkeit angesehen werden. Ein solcher Mensch hat die Fähigkeit zu einem selbstständigen und solidarischen Handeln entwickelt. Er ist in der Lage, Anteil am kulturellen und politischen Leben zu nehmen. Damit ist die Entwicklung zu einer verantwortungsbewussten Persönlichkeit skizziert. Kommunikative Kompetenz ist mehr als das Verwenden von Wörtern und das richtige Aussprechen von Sätzen. Die Entwicklung einer kommunikativen Kompetenz beginnt in der frühen Kindheit.

 




Literatur


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Albers, T. (2012): Sprache ist kein Trainingsprogramm – Wie (mehrsprachige) Kinder im Alltag von Kindergärten und Krippen unterstützt werden können. (siehe Kongressdokumentation: „Dialog und Empathie“):    www.ibe-goettingen.de

Albers, T. (2012): Dialoge im Kinderarten – Gespräche von Kindern mit Gleichaltrigen und Erwachsenen. (siehe Kongressdokumentation: „Dialog und Empathie“):    www.ibe-goettingen.de

Bauer, J. (2005): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen. Hoffmann und Campe, Hamburg

Bauer, J. (2006): Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hoffmann und Campe, Hamburg

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Gebauer, K. (2011): Gefühle erkennen –sich in andere einfühlen. Kindheitsmuster Empathie. Ein Bilderbuch. Beltz, Weinheim und Basel

Gebauer K. / Hüther, G. (Hg.) (2001): Kinder brauchen Wurzeln. Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung. Walter, Düsseldorf

Gelberg, H-J. (Hg.) (2011) Wo kommen die Worte her? Neue Gedichte für Kinder und Erwachsene. Beltz & Gelberg, Weinheim

Habersack, C. / Bauer, J. (2011): Luftabong und Popapier. Klett Kinderbuch, Stuttgart

Hüther, G. (2001): Die Bedeutung emotionaler Sicherheit für die Entwicklung des kindlichen Gehirns. In: Gebauer K. / Hüther, G. (Hg.) (2001): Kinder brauchen Wurzeln. Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung. Walter, Düsseldorf

Jampert, K., u.a.(Hrsg.) (2011): Die Sprache der Jüngsten entdecken und begleiten. Schritt für Schritt in die Sprache hinein. Berlin, verlag das netz

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Kohl, E M. (2012):  Potenziale des Sprachspiels in kindlichen Bildungsprozessen – Worterfahrung als Welterfahrung. (siehe Kongressdokumentation):   www.ibe-goettingen.de

Kohl, E M. (2012): Ins Erzählen kommen –Mit Kindern Geschichten erfinden und aufschreiben. (siehe Kongressdokumentation):   www.ibe-goettingen.de

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Nidda-Rümelin, J. (2011): Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie. Irisiana, München

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Nentwig-Gesemann, I. (2011): Erzählkultur im Kindergarten: Dokumentation zum XII. Kongress für Erziehung und Bildung www.ibbw.de

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Dr. phil. Karl Gebauer, Rektor i.R., ist Verfasser und Herausgeber zahlreicher Bücher zu Erziehungs- und Bildungsfragen. Zusammen mit dem Hirnforscher Prof. Dr. G. Hüther hat er die Göttinger Erziehungs- und Bildungskongresse ins Leben gerufen. Beide haben wichtige Bücher zu aktuellen Forschungsergebnissen der frühkindlichen Bildung herausgegeben: Kinder brauchen Wurzeln; Kinder brauchen Spielräume; Kinder brauchen Vertrauen; Aktuelle Bücher von K. Gebauer: Klug wird niemand von allein. Patmos Verlag; Gefühle erkennen- sich in andere einfühlen. Kindheitsmuster Empathie. Ein Bilderbuch. Beltz Verlag.
 


Zum Weiterlesen:

Sprachbildung und Sprachförderung - eine Einführung

Sprachentwicklung und Sprachförderung - Handlungsempfehlungen des Landes Niedersachsen

Sprachförder-Richtlinie Niedersachsen 

  

  



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