Vorschulerzieung

Im weitesten Sinne bezeichnet der Begriff Vorschulerziehung oder vorschulische Erziehung die Gesamtheit des Erziehungsgeschehens innerhalb und außerhalb der Familie bis zum Beginn des Schulbesuchs. In einer eingegrenzteren Bedeutung sind damit institutionelle Formen familienergänzender Erziehung gemeint, die für Kinder vor dem Eintritt in die Schule angeboten werden, wobei dem Kindergarten eine besondere Bedeutung zukommt. Im engsten Sinne meint Vorschulerziehung eine im Rahmen einer gezielten Förderung von Kindern im letzten Kindergartenjahr stattfindende Vorbereitung der Kinder auf die Schule. Die verbreitetste Begriffsverwendung bezieht sich auf die institutionellen Formen familienergänzender Erziehung von der Geburt bis zum Schuleintritt.

Mit der Industrialisierung entstanden bereits im frühen 19. Jahrhundert Einrichtungen zur Betreuung von Kindern. Sie sollten einerseits die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter aus der Arbeiterklasse erleichtern, andererseits der Verwahrlosung der Kinder vorbeugen. Die nachhaltigste Wirkung unter den Erziehungskonzeptionen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für diese Einrichtungen herausbildeten, hatte die von Friedrich Fröbel entwickelte Idee des Kindergartens mit einer Pädagogik, in der dem Spiel eine zentrale Rolle eingeräumt wird. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatten sich vorschulische Einrichtungen in Deutschland so weit ausgebreitet, dass für ca. 30% der Drei- bis Sechsjährigen ein Platz zur Verfügung stand.

Dabei gab es zum einen Kindergärten in der Tradition von Fröbel, bei denen Bildungsintentionen im Vordergrund standen und die nur halbtags geöffnet waren, zum anderen ganztägige Kleinkinderschulen und Bewahranstalten, in denen der sozialfürsorgerische Aspekt dominierte. In ganztägig geöffneten sog. Volkskindergärten wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Annäherung der beiden Konzepte eingeleitet. Einrichtungen für Kinder unter drei Jahren (Krippen) wurde im Unterschied zum Kindergarten keine pädagogische Aufgabe zugeschrieben. Sie blieben Lückenbüßer für Leistungen, die eigentlich von der Familie hätten erbracht werden müssen, vor allem aber wegen der aus finanzieller Not notwendigen mütterlichen Erwerbstätigkeit nicht erbracht werden konnten.

Träger dieser Einrichtungen waren überwiegend religiös oder humanitär motivierte Initiativen und Vereine. Um die Trägerschaft für diese Einrichtungen für Kinder gab es zwischen den Kirchen bzw. freien Wohlfahrtsverbänden und der staatlichen Bürokratie eine lange Jahre dauernde Auseinandersetzung. Daraus entstand die für Deutschland bis heute typische, auf dem Subsidiaritätsprinzip beruhende Mischung von Angeboten freier und öffentlicher Träger, die 1922 im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz erstmals festgeschrieben wurde.

Die Verbreitung und der Stellenwert von Kindertagesbetreuung änderten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) grundlegend. Seit den 1950er Jahren wurden Betreuungsplätze für Krippen- und Kindergartenkinder bis zu einer praktisch flächendeckenden Bedarfsdeckung ausgebaut. Ende der 1980er Jahre besuchten in der DDR ca. 80% der Ein- bis Drei-jährigen und über 90% der Drei- bis Sechsjährigen solche staatlichen Institutionen. Ein Ziel dieses Ausbaus von Betreuungseinrichtungen war die volle Erwerbstätigkeit von Männern und Frauen. Zudem beanspruchten Staat und Gesellschaft eine primäre Verantwortung für Kinder und deren Erziehung zu sog. sozialistischen Persönlichkeiten, was sich auch in zentral definierten Erziehungszielen in einheitlichen CurriculaCurricula|||||Ein Curriculum ist ein Lehrplan, Modulplan oder Lehrprogramm, das Aussagen über Lehrziele und Ablauf des Lehr- Lern – Arrangement gibt und auf einer Didaktik aufbaut. niederschlug. Demgegenüber galt in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) auch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst grundsätzlich das Modell der primären Verantwortung der Familie für die Kinder. Mitte der 1960er Jahre gab es erst für knapp ein Drittel der 3-6jährigen Kinder einen Kindergartenplatz, bei großen regionalen Unterschieden. Das Angebot an Krippen- und Hortplätzen blieb verschwindend gering.

Das änderte sich im Zug der Bildungsexpansion in den 1970er Jahren zumindest für die Drei- bis Sechsjährigen. Als Teil der Bemühungen um die Ausschöpfung gesellschaftlicher Bildungsressourcen wurde der Kindergarten zur Eingangsstufe des Bildungssystems. In der fachlichen Auseinandersetzung um die angemessene Pädagogik setzte sich eine sozialpädagogische Konzeption durch, die schulische Lernformen für diese Altersgruppe zurückwies und dem Kindergarten eine konzeptionelle und institutionelle Eigenständigkeit sicherte. Von nachhaltigem Einfl uss war dabei der Situationsansatz, der in den 1970er Jahren in der Arbeitsgruppe Vorschulerziehung am Deutschen Jugendinstitut entwickelt wurde.

In Folge der PISA-Debatten ist der Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen erneut in den Vordergrund gerückt. Die im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHGKJHG||||| Das Kinder- und Jugendhilfegesetz umfasst die bundesgesetzlichen Regelungen, die die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland betreffen. Das SGBVIII (Achte Buch Sozialgesetzbuch) ist der Artikel 1 des KJHG. Es umfasst ein Angebote- und Leistungsgesetz für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern, welches der früheren Kontroll- und Eingriffsorientierung entgegensteht. Daher steht das Inkrafttreten  (Januar 1991) auch für einen Paradigmenwechsel in der Kinder-und Jugendhilfe. ) festgelegte enge Verknüpfung von Betreuung, Bildung und Erziehung gilt als Charakteristikum der deutschen Frühpädagogik. Zugleich hat ein konstruktivistisches Lernverständnis an Bedeutung gewonnen, das den Eigenanteilen von Kindern an ihren Lernprozessen hohe Bedeutung zumisst und für praktisch alle curricularen Vorgaben für den frühpädagogischen Bereich kennzeichnend ist, die inzwischen in allen Bundesländern erarbeitet wurden. Nachdem diese Sicht auf Lernen heute von Vertretern der Frühpädagogik und Grundschulpädagogik weitgehend geteilt wird, hat die früher meist dezidierte Abgrenzung zwischen Fachkräften aus der Frühpädagogik und Lehrkräften in ihrer Sicht auf kindliches Lernen an Schärfe verloren.

Der Besuch des Kindergartens ist heute zu einem Teil der normalen Bildungsbiographie geworden, der in Deutschland von über 90% der Kinder im Alter von vier Jahren bis zum Schuleintritt in An-spruch genommen wird. Bei den jüngeren Kindern ist die Nutzung von Kindertageseinrichtungen in Ostdeutschland erheblich höher als im Westen, was eng mit Unterschieden im Platzangebot zusammenhängt. Der Begriff Vorschulerziehung wird in der heutigen Diskussion kaum mehr benutzt. Schon in den 1970er-Jahren wurde kritisch vermerkt, dass damit eine enge Orientierung an Schule nahe gelegt werde und soziale und emotionale Bedürfnisse zu kurz kämen. Stattdessen wird der Begriff Elementarerziehung vorgeschlagen, der sich allerdings oft nur auf Angebote für Kindergartenkinder (ab drei Jahren bis zum Schuleintritt) bezieht. Verbreiteter ist die Rede von Frühpädagogik oder – in Anlehnung an das Kinder- und Jugendhilfegesetz – von frühkindlicher

Betreuung, Bildung und Erziehung. Die seltene Verwendung des Begriffs Vorschulerziehung, kann man als Hinweis darauf verstehen, dass die darin anklingende, mit schulischem Lernen assoziierte Dominanz von kognitiv akzentuiertem, instruktionsgeleitetem Lernen nicht der heute weitgehend geteilten konstruktivistischen Sicht auf kindliche Bildungs- und Lernprozesse entspricht.

Literatur

  • Deutsches Jugendinstitut (Hg.) (2005): Zahlenspiegel 2005. Berlin.
  • Laewen, H.-J./Andres, B. (Hg.) (2002): Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit. Weinheim, Berlin, Basel.
  • Roßbach, H.-G. (2003): Vorschulische Er-ziehung. In: Cortina, K. S. u.a. (Hg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Reinbek, 252-284.
  • Sachverständigenkommission Zwölfter Kinder- und Jugendbericht (Hg.) (2005): Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern unter sechs Jahren. München.
  • Wehrmann, I. (Hg.) (2004): Kindergärten und ihre Zukunft. Weinheim, Basel, Berlin.

 

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Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © 2011 Verlag Julius Klinkhardt. Quelle: Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft (KLE), hg. v. Klaus-Peter Horn, Heidemarie Kemnitz, Winfried Marotzki und Uwe Sandfuchs. Stuttgart, Klinkhardt/UTB 2011, ISBN 978-3-8252-8468-8. Nutzung mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Das komplette Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft erhalten Sie im UTB-Online-Shop (Link s.u.)



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