Jedes Verhalten hat seinen Sinn


In den letzten Jahren klagen KiTa-Fachkräfte immer häufiger über verhaltensauffällige Kinder bzw. über herausforderndes Verhalten von Kindern und fühlen sich dadurch an der Belastungsgrenze. Entsprechend warnt Martin R. Textor: »Der Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern ist inzwischen zur größten beruflichen Belastung von Erzieher/innen geworden« (Textor 2006, o.S.).

Gerade unter den oftmals unzureichenden Rahmenbedingungen und großen Gruppen in der KiTa ist der adäquate Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern eine echte Herausforderung: »Es bedarf viel Empathie, Achtsamkeit und Geduld […], auf verhaltensauffällige Kinder einzugehen«, und wenn solche schwierigen Situationen über längere Zeit anhalten und die pädagogischen Interventionen nicht fruchten, »kann Frustration seitens der Kinder als auch seitens der Erwachsenen entstehen« (Schmieder 2018, S. 3).

Dem Klagen der Fachkräfte über die zunehmende Zahl verhaltensauffälliger Kinder entsprach in den vergangenen Jahren auch eine oftmals reißerische Berichterstattung in den Medien. Da wurde über Kinder »außer Rand und Band« oder »außer Kontrolle« berichtet, von Kindern, die maßlos wütend sind, die schreien und um sich schlagen – eine neue Generation von »Tyrannen«, »Narzissten« oder »Systemsprengern« schien in den Familien und KiTas heranzuwachsen.

Aber auch von den Kinder- und Jugendärzten waren entsprechende Alarmsignale zu hören. So konstatierte Wolfram Hartmann, Vorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, 2015 im Ärzteblatt: »Der Anstieg ist erschreckend. Bis zu 30 Prozent aller uns vorgestellten Heranwachsenden sind psychisch auffällig« (aerzteblatt.de 2015, o.S.).

Doch was sagen repräsentative Studienergebnisse zu der aktuellen Situation? Ist die Zahl verhaltensauffälliger Kinder tatsächlich angestiegen?
Die umfassendste Erhebung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist in Deutschland die KiGGS-Erhebung des Robert Koch-Instituts, eine kombinierte Quer- und Längsschnittstudie. Im sogenannten »BELLA-Modul« werden dabei auch die psychischen Auffälligkeiten in den Fokus genommen. Die KiGGS-Basiserhebung fand von 2003 bis 2006 als Befragungs- und Untersuchungssurvey mit über 17.600 TeilnehmerInnen statt, die wiederum die Grundlage für die längsschnittliche Einbeziehung in weiteren Erhebungswellen bildeten. Die erste Fortsetzungsstudie namens KiGGS Welle 1 begann 2009 und endete im Jahr 2012. KiGGS Welle 2 startete im September 2014 und endete im August 2017.

Die Studie »zeigte erstmals anhand repräsentativer Daten, dass in den Jahren 2003–2006 jedes fünfte Kind [im Alter zwischen drei und 17 Jahren] in Deutschland (d. h. 20 Prozent) psychisch auffällig war« (Klipker et al. 2018, S. 37). Insgesamt waren dabei Jungen häufiger als Mädchen betroffen und »Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischen Status häufiger als Heranwachsende aus Familien mit höherem sozio-ökonomischen Status« (ebd.).

Im Alter zwischen drei und fünf Jahren lag die Quote in der ersten Erhebung bei den Mädchen bei 17,2 Prozent und bei Jungen bei 21,4 Prozent. Während diese Zahlen in Welle 1 stabil blieben, zeichnete sich in Welle 2 ein Rückgang auf einen Gesamtanteil psychisch auffälliger Kinder und Jugendlicher von 16,9 Prozent ab. Mädchen im Alter zwischen drei und fünf Jahren waren demnach noch zu 13,9 Prozent betroffen, die Jungen in dieser Altersspanne zu 20,9 Prozent. Psychische Problembereiche bildeten dabei »Emotionale Probleme«, »Probleme mit Gleichaltrigen«, »Verhaltensprobleme« und »Hyperaktivität« (vgl. ebd., S. 38). Die AutorInnen der Studie weisen dabei darauf hin, dass emotionale und verhaltensbezogene Probleme insbesondere dann auffallen, wenn sie sich nach außen richten, »beispielsweise in Form von oppositionellem oder hyperaktivem Verhalten. Weniger sichtbar sind solche Auffälligkeiten, die sich nach innen richten, beispielsweise in Form von Traurigkeit oder sozialem Rückzug« (ebd., S. 41).

Mit Blick auf die aufgezeigte Entwicklung der Zahlen über den Untersuchungszeitraum hinweg unterstreichen die AutorInnen: »Der Trend stabil bleibender oder abnehmender psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen ist konsistent mit den derzeit vorliegenden Ergebnissen anderer internationaler Studien« (ebd., S. 40). Als mögliche Gründe für den Rückgang führt die Studie eine »verbesserte Versorgungslage« bei psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung, eine »Ausweitung der Kindervorsorgeuntersuchungen« sowie »Maßnahmen zur Prävention« in Kindergarten und Schule an (ebd., S. 41). Des Weiteren sei »vorstellbar, dass vor dem Hintergrund wachsender beruflicher Anforderungen sowie der zunehmenden Teilnahme von Müttern an der Arbeitswelt der Aufbau außerfamiliärer Betreuungsangebote die Lebenssituation der Familien entlastet« (ebd.).

Doch auch wenn sich ein leicht rückläufiger Trend zeigt, »ist die Anzahl psychisch auffälliger Kinder und Jugendlicher auf einem nach wie vor hohen Niveau« (ebd., S. 42) und in der KiTa gilt es entsprechende Strategien und Ansätze zu entwickeln, um diesen ressourcenorientiert zu begegnen.

Die Zahlen der KIGGS-Studie können also einen von vielen Fachkräften berichteten Trend zu mehr psychischen Auffälligkeiten erst einmal nicht untermauern. Mögliche Erklärungsansätze sind hier eine höhere Sensibilität im Hinblick auf Verhaltensauffälligkeiten und/oder aber auch eine stetige Überlastung und entsprechend gesteigerte Empfindlichkeit der Fachkräfte. Fachkräfte, die am Limit arbeiten, könnten sich verständlicherweise schneller durch ein vielleicht anstrengendes, aber immer noch nicht psychisch auffälliges Verhalten von Kindern gereizt fühlen.

Dies führt uns auch zu der Frage, was als »verhaltensauffällig« interpretiert wird und wie der Rahmen gespannt wird, in dem sich akzeptiertes Verhalten abspielt. Doch zuvor möchten wir noch einen kurzen Blick auf die Auswirkungen aktueller Entwicklungen wie die Corona-Pandemie oder einen sich immer weiter steigernden und immer früher beginnenden Medienkonsum werfen.

Aktuelle Entwicklung in Corona-Zeiten

Aktuelle Studien zur Befindlichkeit der Kinder in der Corona-Pandemie zeigen eine deutlich erhöhte Belastungssituation, deren mittel- und langfristige Folgen derzeit allerdings noch schwer abzusehen sind. Im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie sind die Patientenanfragen bei Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen um 60 Prozent gestiegen (vgl. Rabe-Menssen 2021). Grundsätzlich konstatiert die Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften in einer Ad-hoc-Stellungnahme, dass Kinder und Jugendliche »von der aktuellen Situation hinsichtlich ihrer Bildungs- und vielfältiger Entwicklungsmöglichkeiten deutlich betroffen« sind (S. 1). Es habe sich dabei gezeigt, dass die Pandemie »oft als Verstärker bereits zuvor bestehender Ungleichheiten und Entwicklungsrisiken« (ebd.) gewirkt habe.

Die zweite Befragungsrunde der »COPSY«-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, die allerdings erst Kinder ab sieben Jahren in den Fokus nahm, ergab, dass fast jedes dritte Kind ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten litt – von Sorgen und Ängsten über psychosomatische Beschwerden bis zu depressiven Symptomen. Einmal mehr zeigt sich hierbei, dass insbesondere Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund betroffen sind. Zugleich erwiesen sich Familien mit geregelten Strukturen, die zusammenhalten und viel Zeit miteinander verbringen und in denen die Kinder sich wohlfühlen, als Schutzfaktor (vgl. PM UKM vom 10.02.2021).

In der bereits im ersten Lockdown durchgeführten DJI-Studie »Kind sein in Zeiten von Corona« berichtete nahezu ein Drittel der befragten Eltern, dass ihr Kind Schwierigkeiten hatte, mit der Situation umzugehen (vgl. Langmeyer et al. 2020). Den Studienergebnissen nach erleben sie insbesondere die Trennung von Freunden, das Fehlen des gewohnten (Schul-)Alltags und den Mangel an Freizeitaktivitäten als belastend. Aus den Interviews geht zudem hervor, dass sie durch Corona verstärkt mit Niedergeschlagenheit, Ängsten und Sorgen konfrontiert sind. Mit solchen emotionalen Problemen oder auch Hyperaktivität haben deutlich mehr Kinder aus finanziell schlechter gestellten Familien zu kämpfen – und zwar umso mehr, je angespannter die Eltern ihre wirtschaftliche Situation empfinden (vgl. ebd.).

Laut der Studie sind bei insgesamt 23 Prozent der Kinder emotionale Schwierigkeiten und bei 29 Prozent Auffälligkeiten im Hinblick auf Hyperaktivität zu erkennen. Während Mädchen etwas mehr emotionale Probleme aufweisen (24 Prozent vs. 21 Prozent bei Jungen), sind Hyperaktivitätsprobleme häufiger bei Jungen vertreten (31 Prozent vs. 23 Prozent bei Mädchen). Als emotionale Probleme werden beispielsweise »oft unglücklich oder niedergeschlagen« bzw. »häufig bedrückt«, das Klagen über Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Übelkeit sowie »viele Ängste« oder Nervosität angeführt. Bei den Auffälligkeiten in Richtung Hyperaktivität sind es Eigenschaften wie unruhig, überaktiv, zappelig, leicht ablenkbar oder unkonzentriert (vgl. ebd.). Im Vergleich mit deutschen Normstich proben waren in der Studie »in beiden Dimensionen knapp 10 Prozent mehr auffällige Kinder zu beobachten«.

Erste Ergebnisse der Internationalen Corona Kita-Studie (ICKE) geben Hinweise auf gravierende Folgen der KiTa-Schließungen (vgl. Flöter et al. 2021). Aus Sicht der meisten befragten Familien haben sie eine große Auswirkung auf das Wohlergehen, die Entwicklung und die frühkindlichen Bildungsmöglichkeiten ihrer Kinder gehabt. Hunderte von Familien bemerkten mit zunehmender Länge bzw. Häufung von Lockdowns psychische bzw. sozio-emotionale Veränderungen bei ihren Kindern, die oft als »Wesensveränderungen« umschrieben werden (vgl. ebd.). Dazu zählen Gereiztheit, Lustlosigkeit und Traurigkeit. Auch in Bezug auf die physische, motorische sowie sprachliche Entwicklung werden von manchen Familien Veränderungen geschildert. Von vielen der Familien (über 1.000 Nennungen) wird dies mit den KiTa- bzw. Krippen- oder Kindergartenschließungen und der daraus resultierenden fehlenden Abwechslung und den mangelnden Sozialkontakten in Verbindung gebracht. Es wird deutlich, dass die befragten Familien die Wichtigkeit der außerfamiliären Betreuung in Einrichtungen der frühen Bildung für die Förder- und Bildungsmöglichkeiten, für die Sozialisation, für eine gesunde psychische Entwicklung sowie für die körperliche, motorische und sprachliche Entwicklung von Kindern sehr hoch einschätzen.

Es wird abzuwarten sein, inwieweit sich die in der Corona-Pandemie aufgetretenen emotional-psychischen Probleme der Kinder verfestigen und im Familien- oder KiTa-Alltag verstärkt als herausforderndes Verhalten zeigen – dies hängt entscheidend davon ab, wie Kinder nach der Pandemie auch durch öffentliche Programme gezielt psychisch unterstützt und gefördert werden. In diesem Sinne fordert die Leopoldina als eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe »Bildungs- und Unterstützungsstrukturen so zu gestalten, dass sie die pandemiebedingten Defizite kompensieren und die bereits vorher bestehenden Ungleichheiten in Bildungs- und Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen nachhaltig adressieren« (S. 2).

Medienkonsum

Schon vor der Corona-Pandemie, die einen deutlich erhöhten Medienkonsum mit sich brachte, sind dessen Auswirkungen auf das Verhalten von Kindern und ihre Entwicklung in den Fokus geraten. WissenschaftlerInnen der Universität Leipzig haben herausgefunden, dass der Konsum von elektronischen Medien bei zwei- bis sechsjährigen Kindern zu emotionalen und psychischen Verhaltensauffälligkeiten führen kann (vgl. Poulain et al. 2018). Dafür wurden im Rahmen der LIFE Child-Studie 527 Kinder aus Leipzig und Umgebung untersucht. Die Studienergebnisse resümiert Studienleiterin Dr. Tanja Poulain wie folgt: »Wir haben bei unseren Untersuchungen festgestellt, dass Vorschulkinder, die täglich Smartphone oder Computer nutzen, ein Jahr später mehr Verhaltensauffälligkeiten wie Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit aufweisen als Kinder, die diese Medien nicht nutzen […] Kinder ohne Medienkonsum haben vergleichsweise auch weniger emotionale Probleme.«

In der längsschnittlichen Betrachtung ergab die Studie aber auch, dass Kinder, die zum ersten Erhebungszeitpunkt mehr Probleme mit Gleichaltrigen hatten, ein Jahr später häufiger elektronische Medien nutzten (vgl. Poulain et al. 2018). Die beobachteten Zusammenhänge sind also in ihrer Wirkrichtung nicht eindeutig. Einerseits zeigt sich, dass verstärkter Medienkonsum ein Risiko darstellt Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln. Gleichzeitig können Verhaltensauffälligkeiten zu einem vermehrten Konsum dieser Medien führen. Grundsätzlich raten die Leipziger WissenschaftlerInnen, den Konsum elektronischer Medien äußerst gering zu halten und frühe Anzeichen von Verhaltensauffälligkeiten ernst zu nehmen (vgl. ebd.)

Auch die BLIKK-Studie der Bundesregierung und des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) zeigt: Wenn der Medienkonsum bei Kindern – oder auch bei den Eltern – auffallend hoch ist, geht dies immer wieder mit Problemen einher. Dazu zählen insbesondere Sprachentwicklungs- und Konzentrationsstörungen, aber auch schon Fütter- und Einschlafprobleme bei Babys (s. hier).

Zu den wesentlichen Erkenntnissen dieser Studie zählt, dass bereits rund 70 Prozent der Kinder im Kindergartenalter regelmäßigen Zugang zum Smartphone eines Elternteils haben und das Gerät im Schnitt mehr als eine halbe Stunde täglich nutzen. Infolgedessen finden sich bei Kindern bis zum sechsten Lebensjahr, die Medien besonders intensiv nutzen, vermehrt Sprachentwicklungsstörungen sowie Hyperaktivität. Die Studien-AutorInnen warnen vor einem erhöhten Risiko für Internet- und Onlinesucht, wenn im weiteren Verlauf der konstruktive und kritische Umgang mit digitalen Medien nicht erlernt wird (vgl. ebd.).

Die Studie kommt letztlich zu dem eindeutigen Ergebnis, dass es einen Zusammenhang zwischen einer intensiven Mediennutzung einerseits und Entwicklungsstörungen der Kinder andererseits gibt. Sie weisen zugleich darauf hin, dass ein hoher Medienkonsum bei Kindern immer im Zusammenhang mit der konkreten Lebenssituation der Familie steht.
Im Zuge der Corona-Pandemie und der Lockdown-Maßnahmen dokumentierten verschiedene Studien eine weitere deutliche Steigerung des Medienkonsums von Kindern und Jugendlichen. So berichten Eltern und Kinder in der DJI-Studie eine Erhöhung der Medienzeiten bzw. eine häufigere Beschäftigung mit digitalen Medien, wie Spielen am Computer oder Smartphone oder Surfen im Internet (vgl. Langmeyer et al. 2020).

Digitale Medien wurden in dieser Zeit aber auch intensiv genutzt, um soziale Kontakte zu FreundInnen und Verwandten zu halten und Einsamkeitsgefühlen und sozialer Isolation entgegenzuwirken (vgl. ebd.). Dabei waren die Kinder und Familien zum Teil sehr kreativ und innovativ und nutzten beispielsweise Videotelefonie, um gemeinsam Brettspiele oder klassische Kinderspiele zu spielen. Dies deckt sich mit einer Studie der DAK, laut der 89 Prozent der Kinder angaben, durch die Nutzung sozialer Medien soziale Kontakte aufrecht zu erhalten. Es gaben aber auch 86 Prozent an, damit ihre Langeweile zu bekämpfen, 38 Prozent wollten ihre Sorgen damit lindern und 36 Prozent der Realität entfliehen (vgl. DAK-Gesundheit 2020).

An den Studien wird auch deutlich, dass Schlussfolgerungen über die Auswirkungen von Medien nicht allein auf quantitativen Aussagen darüber, ob und in welchem Umfang Kinder Medien nutzen, fußen können. Vielmehr spielen ebenso qualitative Aspekte, wie und wofür die Medien zum Einsatz kommen, wie die Kinder dabei begleitet werden und ihre Medienkompetenz aufbauen, eine entscheidende Rolle.

»Was ist normal?«

Im KiTa-Alltag wird vermeintlich psychisch auffälliges Verhalten von Kindern auf ganz unterschiedliche Weise benannt und interpretiert. Da gibt es »grenzwertiges Verhalten«, »verhaltensauffällige Kinder«, »Kinder mit herausforderndem Verhalten«, »verhaltensoriginelle Kinder«, »schwierige Kinder« oder aber schlicht und abwertend »gestörte Kinder«. Bei jeder Abweichung vom erwarteten Verhalten spielt die »Normalitätsvorstellung« der Fachkraft eine entscheidende Rolle – was wird als »Norm« gesetzt und noch als »normal« bewertet? Wie eng oder weit ist der von Fachkräften gespannte Rahmen, innerhalb dessen sich akzeptiertes Verhalten abspielt? »Ob ein Verhalten als auffällig definiert und dessen Schweregrad festgestellt wird, hängt ganz wesentlich von den herrschenden Normen und Erwartungen der Mitmenschen sowie dem sozialen Bezugssystem ab, in dem sich das Verhalten abspielt« (Herrmann, 2007, S. 4f ), heißt es in einer Handreichung des Landesjugendamts Brandenburg zu verhaltensauffälligen Kindern in der KiTa.

Wird nicht akzeptiertes Verhalten dann einfach als nicht erwünschte »Störung« oder gar »Provokation« interpretiert oder wird nach der Ursache, nach dem Sinn und der versteckten Botschaft des Verhaltens gefragt? Und wird der gespannte Rahmen mit seinen impliziten Normvorstellungen auch kritisch hinterfragt und ggf. im Sinne der Inklusion angepasst, sodass er für alle Kinder geeignet ist?

Wir halten die Formulierungen »Kinder mit herausforderndem Verhalten« oder »verhaltensauffällige Kinder« für sinnvoll, da hier der Fokus nicht nur stigmatisierend auf das Kind und sein vermeintliches Fehlverhalten gelegt wird. Vielmehr wird das Verhalten in Relation zu einer anderen Person mit einem subjektiven Bewertungsmaßstab gesetzt, mit dem es als »herausfordernd« oder »auffällig« interpretiert wird. Diese Sichtweise liegt auch dem Zürcher Fit-Konzept zugrunde (vgl. Largo & Jenni 2007). Darin wird die Übereinstimmung von kindlichen Bedürfnissen und Eigenheiten mit Vorstellungen und Erwartungen der Umwelt als zentral beschrieben. Eine fehlende Übereinstimmung bzw. sogenannte Misfits seien demnach die Hauptursache für Verhaltensauffälligkeiten (vgl. ebd.).

Der Begriff »Verhaltensauffälligkeit« oder »Verhaltensstörung« bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch erst einmal recht unspezifisch Abweichungen vom erwarteten Sozialverhalten. In der Fachliteratur gibt es zahlreiche Versuche, Verhaltensauffälligkeiten oder -störungen, die sich häufig an der Schnittstelle von Pädagogik, Psychologie und Medizin bewegen, zu klassifizieren. Zur Bestimmung von Verhaltensauffälligkeiten schlagen Petermann und Kolleginnen die Kriterien der Dauer und Intensität des Verhaltens sowie das Auftreten in verschiedenen Situationen und Lebensbereichen und im Kontakt mit unterschiedlichen Personen vor (vgl. Petermann et al. 2010). Keller und Novak definieren die beiden Begrifflichkeiten folgendermaßen:

»Eine Verhaltensstörung oder Auffälligkeit liegt erst dann vor, wenn ein erhebliches, dauerhaftes und immer wieder auftretendes Missverhältnis zwischen den Normansprüchen der Umwelt und dem individuellen Beitrag, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, vorliegt. Die beobachtbaren Auffälligkeiten sind durch organische Schädigungen (Behinderungen) nicht erklärbar« (1993, S. 356).

Wir wollen hier Verhaltensauffälligkeiten in den Blick nehmen, die in einem sozialen Kontext entstehen und denen im Rahmen einer KiTa mit pädagogischen Interventionsmöglichkeiten begegnet werden kann. Nicht näher in den Blick nehmen wir daher klinisch diagnostizierbare Krankheitsbilder oder psychiatrische Diagnosen, die mit Belastungen und Beeinträchtigungen von Lebensfunktionen einhergehen und mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ auf die weitere Entwicklung wirken. Grundsätzlich lässt sich diesbezüglich jedoch keine scharfe Grenze definieren, vielmehr ist von einem Kontinuum auszugehen, das sich von nicht-auffälligem über auffälliges Verhalten hin zu Verhaltensstörungen mit Krankheitswert erstreckt. Nicht im Fokus stehen des Weiteren temporäre Verhaltensweisen, wie sie sich als »normale« Begleiterscheinungen im Zusammenhang mit der Bewältigung universeller Entwicklungsaufgaben des Kindes oder aktueller Anforderungen durch kritische Lebensereignisse darstellen. In diesem Sinne können nicht bestimmte kindliche Verhaltensweisen per se als auffällig bezeichnet werden, sondern ihr Auftreten muss in Bezug zum kindlichen Entwicklungsstand und zur gesamten Lebenssituation des Kindes bewertet werden. So werden beispielsweise aggressive oder trotzig-oppositionelle Verhaltensweisen, wie Schlagen, Treten oder Beißen, bis zum dritten Lebensjahr als Begleiterscheinung der Autonomieentwicklung und Abgrenzung interpretiert. Wenn diese sich aber dauerhaft verfestigen, werden sie als auffällig wahrgenommen.

Die in einem sozialen Kontext auftretenden Verhaltensauffälligkeiten können mit aller gebotenen Vorsicht und im Wissen um Interdependenzen nach externalisierendem und internalisierendem Verhalten aufgeteilt werden. Externalisierende Verhaltensauffälligkeiten sind eher nach außen gerichtet, wie beispielsweise aggressives und störendes Verhalten, Wut- und Schreianfälle, Trotz, Hyperaktivität, Hauen, Beißen. Internalisierende Verhaltensauffälligkeiten hingegen sind eher nach innen gerichtet und können sich in Form von Schlaf- oder Essstörungen, sozialem Rückzug, Traurigkeit, Ängstlichkeit oder auch Mutismus äußern. Diese Verhaltensweisen fallen in der KiTa oftmals weniger auf oder werden gar übersehen.

Der systemische Blick

Wie jedes menschliche Verhalten kann auffälliges Verhalten nicht auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden. Vielmehr ist von einem multikausalen Bedingungsgefüge auszugehen (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2013), in dem ein aktives Individuum in ständiger Wechselwirkung mit einer aktiven Umwelt steht. Nach dem integrierten bio-psycho-sozialen Modell wirken biologische Faktoren (z. B. Temperament des Kindes), innere Strukturen des Individuums (z. B. Selbstwertgefühl oder Regulationsfähigkeiten), soziale Bedingungen und Erfahrungen (z. B. Bindungssicherheit) sowie Schutz- und Risikofaktoren (z. B. Unterstützungssysteme) auf die Bewältigung von aktuellen Anforderungen (vgl. ebd.).

Unter Berücksichtigung dieser Faktoren und ihrer Wechselwirkungen versucht der systemische Ansatz, »ein Verhalten als ›sinnvoll‹ im Gesamtkontext zu sehen und ermöglicht damit einen konstruktiven und lösungsorientierten Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen« (Schmieder 2018, S. 3). Demnach ist kein Verhalten ohne seinen sozialen Kontext verstehbar. Aus systemischer Sicht steht jedes menschliche Verhalten im Zusammenhang mit dem Verhalten anderer Menschen. Somit sind die Merkmale der jeweiligen InteraktionspartnerInnen und insbesondere die Wechselwirkungen zwischen ihnen, aber auch Merkmale der konkreten Situation und ihrer Rahmenbedingungen von Bedeutung.

In diesem Sinne sind kindliche Merkmale genauso wenig alleinige Ursache eines auffälligen oder herausfordernden Verhaltens wie es Erziehungsstile oder bestimmte Kontextbedingungen sein können. So wie ein kindliches Verhalten in einer Situation als angemessen und in einer anderen als hyperaktiv wahrgenommen werden kann, kann dasselbe elterliche Verhalten von einem Kind als angemessen, von einem anderen als vernachlässigend und einem dritten als überbehütend erlebt werden. Ausschlaggebend sind die jeweiligen Bedürfnisse des Kindes, die sich individuell, aber natürlich ebenso entwicklungsbedingt unterscheiden (vgl. Largo & Jenni 2007). Sowohl die kindlichen Bedürfnisse als auch die Verhaltensweisen der Bezugsperson sind jedoch nicht losgelöst vom Umfeld zu betrachten. So stellt jede Situation bestimmte Anforderungen, die als Belastung wirken können, oder sie bietet unterstützendes Entlastungspotential. In der KiTa sind dies organisatorische, strukturelle und räumliche Rahmenbedingungen, die das Erleben des Einzelnen beeinflussen. Beispielweise können große Gruppen oder Zeitdruck bei den Fachkräften als Stressoren wirken, während ein gutes Teamklima und ausreichend große, helle, freundliche Räume entlasten können. Darüber hinaus wirken sich gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen in Form von Erwartungs- oder Anpassungsdruck auf die Beteiligten aus.

Der systemische Ansatz ist auch stark von der konstruktivistischen Erkenntnistheorie beeinflusst. Diese geht davon aus, dass das, was wir für die Wirklichkeit halten, das Ergebnis eines langen Sozialisationsprozesses ist (vgl. Schlippe & Schweitzer 2000, S. 87 ff.). Soziale Wirklichkeiten sind also letztlich konstruierte Wirklichkeiten und bieten so immer einen Möglichkeitsraum für verschiedene Interpretationen und Perspektivwechsel. Soziale Wirklichkeiten und die dahinter liegenden Muster können in diesem Sinne umgedeutet, »reframt« oder durch paradoxe Interventionen aufgelöst werden (vgl. Beitrag Jessel ab S. 30). Voraussetzung dafür ist eine respektvolle und wertschätzende Grundhaltung, mit der die pädagogische Fachkraft sich stets ihrer eigenen Gefühle und Gedanken vergewissert und »die eigene Wirklichkeit« nur als Teil des Ganzen betrachtet. Wer sich dessen bewusst ist, dass seine Beschreibung das Beschriebene verändert, stellt sich auch die Frage, ob die eigene Beschreibung für den Veränderungsprozess hilfreich ist (vgl. Schlippe 2015). Das übergeordnete Ziel im systemischen Ansatz läuft immer darauf hinaus, den Menschen aus einer eher reaktiven und ohnmächtigen Position zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit und Selbstermächtigung zu führen.

Damit sind neben den vertrauensvollen und responsiven Bindungen bzw. Beziehungen zu Eltern und Fachkräften schon wichtige Grundlagen benannt, wie Kinder sich von Anfang an zu starken und psychisch stabilen Persönlichkeiten mit einem positiven Selbstbild entwickeln können.

Literatur



media 101023977Dieser Beitrag ist die Einführung zum nifbe-Buch: "Jedes Verhalten hat seinen Sinn. Herausforderndem Verhalten in der KiTa begegnen" (Herder 2023, S. 9-20).



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