Gemeinsam Kinder mit Sprachauffälligkeiten begleiten
Logopädie und Kindheitspädagogik im Dialog – Voraussetzungen für die Zusammenarbeit
Co-Autor*innen:
Prof. Dr. Tim Rohrmann
Prof. Dr. Tim Rohrmann
Laura Praetze
Bianka Wachin
Bianka Wachin
Die steigende Anzahl von sprachauffälligen Kindern im Vorschulalter erfordert eine bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit von Bildungs- und Gesundheitssystem. Im Rahmen eines Lehr-Innovationsprojektes an der HAWK Hildesheim konnten Impulse für die gemeinsame Ausbildung und Praxis der beiden Professionen entwickelt werden.
Einleitung
Die Zahl von Kindern mit Sprachauffälligkeiten im Vorschulalter ist in den letzten Jahren immer weiter gestiegen. In den Schuleingangsuntersuchungen in Niedersachen zeigen im Jahr 2022 25,4% der Kinder sprachliche Auffälligkeiten (1). Dabei wurden Kinder mit Sprachförderbedarf und Kinder, die Sprachtherapie benötigen oder bereits bekommen, zusammengefasst. Daten aus Heilmittelberichten der Krankenkassen zeigen einen Anstieg der Verordnungen von logopädischer Therapie. Dabei fällt auf, dass insbesondere um den Schulbeginn herum vielen Kindern Logopädie verordnet wird (2).Für pädagogische Fachkräfte sind dies wichtige Informationen, da seit der Änderung des NKitaG 2021 die Erfassung von Sprachkompetenzen sowie die alltagsintegrierte Sprachbildung und Sprachförderung als wichtiger Auftrag von pädagogischen Fachkräften in Kitas festgeschrieben ist.
Trotz hoher Zahlen von Kindern mit Sprachauffälligkeiten und Sprachstörungen in Regelkindergärten ist die Versorgung aufgrund bürokratischer Hürden ungenügend. Zudem wird zu wenig zwischen Sprachförder- und Sprachtherapiebedarf differenziert. So muss z.B. unterschieden werden, ob Kinder in erster Linie Sprachförderung benötigen, weil sie bislang zu wenig Kontaktzeit zur deutschen Sprache hatten, oder ob sie aufgrund einer Sprachstörung in einer logopädischen Praxis Sprachtherapie erhalten sollten. Die Folgen der ungenügenden Versorgung sind gravierend, denn sie wirken sich negativ auf den weiteren Bildungsweg der Kinder aus.
Viele Probleme in der Sprachförderpraxis von Kitas lassen sich durch eine bessere Zusammenarbeit von pädagogischen und sprachtherapeutischen Fachkräften lösen (3). Dazu muss die Kommunikation zwischen den Berufsgruppen verbessert werden. Durch eine interdisziplinäre Professionalisierung von Logopädie und Kindheitspädagogik kann eine Grundlage für eine transparentere Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den Professionen geschaffen werden. Es braucht in der Aus- und Weiterbildung beider Berufsgruppen die Vorbereitung auf gemeinsame Handlungsfelder und das Erarbeiten von klaren Handlungswegen für die Identifikation von Sprachauffälligkeiten.
Das Projekt „Logopädie und Kindheitspädagogik im Dialog“ (LoKiD+) hat daher an der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit der HAWK Hildesheim ein gemeinsames Lehrangebot für Studierende der Logopädie und der Kindheitspädagogik entwickelt. Im Folgenden werden das Vorgehen und die Ergebnisse des Projektes vorgestellt und Handlungsempfehlungen für die Praxis aufgezeigt.
Das Projekt LoKiD+
Die Planung, Durchführung und Evaluation eines gemeinsamen Seminars der Studiengänge Logopädie und Kindheitspädagogik wurde in einem partizipativen Forschungsmodell erarbeitet. Mit Leitfaden-Interviews wurden die Perspektiven mehrerer Hochschulen auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Kindheitspädagogik, Logopädie und anderen Professionen eingeholt. Der Fokus lag hier sowohl auf organisatorischer als auch auf inhaltlicher Ebene: wie können gemeinsame Seminare in den Modul- und Stundenplänen verankert werden? Welche Inhalte und Methoden werden bereits für diese beiden Studiengänge vermittelt und angewendet?Weiter wurden die Studierenden der beiden Studiengänge an der HAWK in Fokusgruppen zu ihren bisherigen Erfahrungen aus einzelnen gemeinsamen Seminarterminen und Tätigkeiten in der HAWK Sprachwerkstatt sowie zu ihren Erwartungen an die zukünftige Zusammenarbeit befragt. Außerdem konnten Einblicke in die praktische, interdisziplinäre Arbeit über Kooperationseinrichtungen wie das DialogWerk (Braunschweig) und KEA (Stiftung Universität Hildesheim) für die inhaltliche Erarbeitung des Seminars gewonnen werden. Beide Einrichtungen sind für die Fachberatung im Bereich Sprachbildung und Sprachförderung in der jeweiligen Kommune verantwortlich. Hier arbeiten bereits Personen mit pädagogischen und logopädischen Abschlüssen zusammen. Die Auswertung der Interviews und der Fokusgruppen erfolgte mittels einer strukturierenden Inhaltsanalyse.
Die Sprachwerkstatt der HAWK bietet vielfältige Materialien zu den unterschiedlichen Themen der Sprachbildung und Sprachförderung, z.B. Literacy, Mehrsprachigkeit, Stimme, Mundmotorik, Gender, Hören und Lauschen. Die Materialien werden aktiv in die Lehre eingebunden und stehen den Studierenden auch zur Ausleihe für die Praxisphasen zur Verfügung (Zur Sprachwerkstatt).
Die zentralen Ergebnisse für die gemeinsame Lehre
„[…] was ich immer oben drüber schreiben würde, wäre: ich darf nichts voraussetzen. […] Also, es braucht, glaube ich, ganz viel Vorlauf, um Dinge zu klären, damit nicht jede*r meint, er weiß es. Und wir reden ja alle über dasselbe. Aber dann stellt sich ganz zum Schluss raus: Ich hatte ja eine völlig andere Vorstellung. Das finde ich ganz wichtig.“ (eine Expertin im Interview)
Der Austausch und das gegenseitige Kennenlernen der Professionen, zu deren Modellen, Fachbegriffen, Störungsbildern und rechtlichen Grundlagen bilden die Basis der gemeinsamen Lehrveranstaltung. So soll sichergestellt werden, dass gemeinsame Voraussetzungen für das Begleiten von Kindern mit Sprachauffälligkeiten erarbeitet werden können.
Weitere Inhalte sind die Eltern- und Angehörigenberatung, mehrsprachiges Aufwachsen, das Kennenlernen von gemeinsamen Handlungsfeldern sowie die Bedeutung von Netzwerkarbeit. Die evidenzbasierte Praxis, also das wissenschaftliche Arbeiten, Denken und Handeln, begleitet die Lehrveranstaltung durchgängig.
Durch die Auseinandersetzung mit den Modellen und Methoden der jeweils anderen Berufsgruppe sollen auch die Grenzen der eigenen Profession verdeutlicht werden. Fachkräfte müssen die eigenen Kompetenzen wahrnehmen und benennen können, aber auch wissen, wo das eigene Kompetenzfeld endet und das der anderen Profession beginnt. So können Kita-Fachkräfte nicht entscheiden, ob eine sprachtherapeutische Behandlung erfolgen soll. Sie können Eltern aber Informationen für das Gespräch mit Kinderärzt*innen mitgeben, die diesen die Einschätzung erleichtert und eine solche Entscheidung unterstützen können. Wünschenswert wäre, dass es in Kitas Logopäd*innen gibt, die im Austausch mit pädagogischen Fachkräften klären, ob tatsächlich eine Sprach- oder und Sprechstörung vorliegt oder es sich eher um Sprachförderbedarf handelt, der in erster Linie eines regelmäßigen Kita-Besuchs und alltagsintegrierter Sprachförderung im Kita-Alltag bedarf.
Auch in der Methodik der Lehrveranstaltung wird das Ziel des gegenseitigen Kennenlernens verfolgt. Die Studierenden besuchen sich gegenseitig an ihren Arbeits-/Praktikumsplätzen und erhalten so einen Einblick in den Tagesablauf der jeweils anderen Profession. Dies fördert das Verständnis für Arbeitsabläufe der anderen Profession und legt wichtige Grundsteine für die spätere Zusammenarbeit. Hier kann es also wichtig sein zu erfahren, dass es erforderlich ist in logopädischen Praxen auf den Anrufbeantworter zu sprechen, weil während der Therapien das Telefon nicht besetzt ist. Oder in Kita-Einrichtungen einen Überblick über die gesetzlichen Anforderungen zu bekommen, die z.B. für die Beobachtung und Dokumentation der Bildungs- und Lernprozesse der Kinder gelten. Außerdem wird die Arbeit mit Fallbeispielen verfolgt, um eine möglichst praxisnahe Ausbildung zu gewährleisten. Hier wird auch auf gemeinsame Handlungsfelder eingegangen, in dem z.B. Mitarbeitende aus Sprachheilkindergärten oder Fachberatungen von ihren Arbeitsfeldern im Seminar berichten. Dies unterstreicht die Bedeutung von regionalen Netzwerken und des Wissens darüber, wer für welche Art der sprachlichen Auffälligkeit verantwortlich ist und welche Möglichkeiten der Unterstützung es für die Einschätzung von sprachlichen Auffälligkeiten gibt. Für die Vor- und Nachbereitung einzelner Themen wird der an der HAWK entwickelte Podcast „Sprachbildung in Kitas“ verwendet. Hier werden verschiedene Themen aus der frühkindlichen Bildung aufgegriffen und die Umsetzungsmöglichkeiten in der alltagsintegrierten Sprachbildung und Sprachförderung erläutert.
Der HAWK-Podcast „Sprachbildung in Kitas“ vermittelt anhand von Gesprächen mit unterschiedlichsten Expert*innen Wissen zur kindlichen Sprachentwicklung und Möglichkeiten der Umsetzung im Kita-Alltag. 20 Folgen befassen sich mit unterschiedlichsten Themen rund um Sprachbildung und Sprachförderung (zum Podcast).
Schlussfolgerungen für die Zusammenarbeit in der Kita-Praxis
Aus den Ergebnissen des Projektes lassen sich Schlussfolgerungen für die Zusammenarbeit der Professionen in der Praxis von Kitas und Logopädie ziehen. Zunächst ist es enorm hilfreich, sich mit der Bedeutung des eigenen Netzwerks in der unmittelbaren Umgebung auseinander zu setzen. So sollten pädagogische Fachkräfte in Kitas wissen, zu welchen Berufsgruppen die Kinder aus der eigenen Einrichtung Kontakt haben oder welche Austauschmöglichkeiten durch den kommunalen Bildungsträger oder die Fachberatung zur Verfügung stehen. Vielleicht gibt es Logopädie-Praxen in der unmittelbaren Umgebung, in der Kinder aus der eigenen Einrichtung behandelt werden. Wenn es sich um Kitas mit Integrationsplätzen handelt, sind vielleicht auch Therapeut*innen im Haus.Über die Einladung von Logopäd*innen oder anderen Gesundheitsfachberufen (z.B. Ergotherapie oder Physiotherapie) in Dienstbesprechungen oder im Rahmen eines Studientags kann ein ähnlicher Austausch wie im LoKiD-Seminar möglich sein. So kann ein Bewusstsein für die Herangehensweisen der anderen Profession oder organisatorische Herausforderungen in der Zusammenarbeit geschaffen und Lösungen für konkrete Fälle erarbeitet werden. Dieses Bewusstsein kann die pädagogischen Fachkräfte in der Beratung von Eltern und Familien stärken, wenn es um die Kommunikation von sprachlichen Auffälligkeiten und Aufklärung der zuständigen Professionen im Netzwerk geht. Zukunftsweisend ist die Zusammenarbeit von Logopäd*innen und Kindheitspädagog*innen im gemeinsamen Team.
Eine zentrale Gemeinsamkeit der Professionen Logopädie und Kindheitspädagogik ist das sprachförderliche Verhalten der begleitenden Personen. Eine stetige Reflexion des eigenen Sprachverhaltens ist für die alltagsintegrierte Sprachbildung und Sprachförderung wie auch für die Sprachtherapie unerlässlich. Wie positiv sich eine gute sprachliche Begleitung durch Erwachsene auf die Sprachentwicklung von Kindern auswirkt, ist wissenschaftlich gut belegt. Dies sollten sich Fachkräfte - ob pädagogisch oder therapeutisch - immer wieder bewusst machen.
Fazit
Eine bessere Zusammenarbeit von pädagogischen und sprachtherapeutischen Fachkräften ist unerlässlich, wenn die Bildungschancen von Kindern mit Sprachförderbedarf verbessert werden sollen. Diese muss auch in der Aus- und Weiterbildung verankert werden. Das Projekt LoKiD+ hat konkrete Ansätze entwickelt, um das Ziel der interdisziplinären Begleitung von Kindern mit Sprachauffälligkeiten zu erreichen.Quellen
Link zur LoKiD+-Projektwebsite(1) Niedersächsisches Landesgesundheitsamt (2023). Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchung. Hannover.
(2) Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO) (2023). Heilmittelbericht 2022/2023: Ergotherapie, Sprachtherapie, Physiotherapie, Podologie. Berlin.
(3) Sallat, S.; Hofbauer, C. & Jurleta, R. (2017). Inklusion an den Schnittstellen von sprachlicher Bildung, Sprachförderung und Sprachtherapie. WiFFWiFF|||||WiFF ist ein Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, der Robert Bosch Stiftung und des Deutschen Jugendinstituts e.V. Die drei Partner setzen sich dafür ein, im frühpädagogischen Weiterbildungssystem in Deutschland mehr Transparenz herzustellen, die Qualität der Angebote zu sichern und anschlussfähige Bildungswege zu fördern. Expertisen, Band 50. München: Deutsches Jugendinstitut. https://www.weiterbildungsinitiative.de/uploads/media/WiFF_Exp_50_Sallat.pdf
Das Projekt LoKiD+ wurde gefördert vom Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur.
Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
KiTa aktuell ND 1/2025, S. 24-26
- Zuletzt bearbeitet am: Dienstag, 21. Januar 2025 09:30 by Karsten Herrmann