Miteinander in Bewegung
Psychomotorik in der Zusammenarbeit mit Familien
Familien stehen heute vor vielen Herausforderungen, die es täglich zu bewältigen gilt. Die Anforderungen können sich belastend auf einzelne Familienmitglieder und somit auch auf das familiäre Miteinander auswirken. Psychomotorische Angebote richten sich meist an Kinder und nur vereinzelt werden ganze Familien einbezogen. In dem Artikel werden Vorschläge für eine Vorbereitung von Familiensettings und -stunden dargestellt, Themengebiete mit passenden Praxisideen vorgestellt und abschließend Anregungen für Reflexionsanlässe gegeben.
1. Einleitung
Eine gute Familienzeit zu erleben, ist ein großer Wunsch von vielen Eltern und Kindern. Aufgrund der aktuellen, auf verschiedenen Ebenen liegenden Herausforderungen von Familien gelingt dies im alltäglichen Miteinander jedoch immer seltener zufriedenstellend.Die aktuellen Befragungsergebnisse im Familienreport des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2024) zeigen, dass viele Familien durch die gegenwärtige Phase der sich überlappenden Krisen verunsichert sind (vgl. ebd. S. 22). Hinzu kommt die Belastung der Eltern durch doppelte Berufstätigkeiten sowie eine zunehmende Erziehungsunsicherheit, die bei vielen Eltern beobachtet werden kann. Die Kombination aus Kindern, die zunehmend Verhaltensweisen zeigen, durch welche sich Eltern herausgefordert fühlen, und belasteten und verunsicherten Eltern führt zu einer Kumulation an Hindernissen, die das Erleben einer guten gemeinsamen Familienzeit stark einschränken.
Die Idee, Psychomotorik für Familien anzubieten, hat in der Geschichte der Psychomotorik zwar eine lange Tradition, aber psychomotorische Angebote für Familien sind im Gegensatz zu kindorientierten Psychomotorikgruppen eher selten. Ergebnisse von Studien, z.B. Schäfer (2017), und Erfahrungsberichte von Psychomotoriker*innen machen jedoch deutlich, dass sich das psychomotorische Setting in besonderem Maße dafür eignet, Familien einen Raum zu geben, in welchem eine gute Zeit miteinander erlebt werden kann (vgl. Broxtermann/Martzy 2023, S. 9).
Die folgenden Ausführungen und Praxisideen beruhen in großen Teilen auf der Veröffentlichung von Broxtermann & Martzy (2024) Das Buch mit vielen Praxisanregungen ist hier im nifbe-Onlineshop erhältlich.
Tipp
Die Autorinnen bieten zu dem Thema Familie bewegt am 23.01.-24.01.2025 eine Fortbildung in Melle an: https://psychomotorik.com/fortbildungen/kurs/familie-bewegt/
2. Familiensettings und Stundengestaltung
Die Gestaltung eines Familienangebots setzt sich aus der Auswahl eines Familiensettings, das den Rahmen des Angebots bildet, sowie der Planung der Familienstunden zusammen.Die nachfolgende Auflistung beispielhafter Familiensettings soll eine Idee für die Vielfalt und Variabilität in der Zusammenarbeit mit Familien geben. Die jeweilige kurze Beschreibung verdeutlicht, wie unterschiedlich die Angebote hinsichtlich der Inhalte und Zielsetzungen gestaltet werden können. Die Ideen reichen von eher niederschwelligen, präventiven Bewegungsangeboten auf Familienspielfesten bis zu therapeutisch ausgerichteten Angeboten für einzelne Familien.
Neben Settings, in denen Eltern und Kinder gemeinsam eingebunden werden, wird ein weiteres Setting beschrieben, das sich nur an Eltern (oder auch an Großeltern) richtet. Im Rahmen eines bewegten Elternabends soll) ein Raum geschaffen werden, in dem sie sich auf sich selbst konzentrieren können. Eine Elternzeit, in der sie mit der Aufmerksamkeit nicht beim Kind sein müssen, könnte ihnen zu mehr Möglichkeiten verhelfen, ins eigene Erleben zu kommen.
Beispiele für mögliche Familiensettings:
Familienspielfest In einem regelmäßigen Turnus (z. B. einmal jährlich) wird ein Spielfest für alle interessierten Familien angeboten. Durch ein niederschwelliges Angebot erhalten die Familien die Gelegenheit, gemeinsame Erlebnisse zu sammeln, Kontakte zu knüpfen und ggf. eine Idee von den Inhalten der Psychomotorik zu bekommen. |
Bewegter Elternabend Die Eltern der Kinder werden zu einem bewegungsorientierten Elternabend eingeladen. Dieser könnte eine psychomotorische Ausrichtung haben, so dass sich die Eltern über theoretische Inhalte austauschen und Psychomotorik selbst in der Praxis erfahren können. In der Kita oder Schule könnten die Themen der Eltern und/oder Kinder durch Spiel und Bewegung erfahrbar gemacht werden. |
Familienbegleitung (mehrere Familien) Die Familien mehrerer Kinder werden eingeladen. Im Fokus stehen nicht die Themen einer Familie/eines Kindes, sondern gemeinsame Themen und Erlebnisse der Familien. |
Eltern-Kind-Dyade(n) Ein Kind wird zusammen mit einem Elternteil eingeladen. Das Duo kann gemeinsame positive Erlebnisse sammeln. Im therapeutischen Rahmen kann an gemeinsamen Themen gearbeitet werden, um Impulse in den Alltag zu transferieren. Die Einladung mehrerer Dyaden aus unterschiedlichen Familien ist ebenfalls denkbar, wenn es gemeinsame Themen gibt oder die Möglichkeit besteht, dass sich die Dyaden gegenseitig stärken. |
Familienbegleitung (eine Familie) Die Familie eines Kindes wird eingeladen und erhält die Möglichkeit, sich in einem anderen Rahmen anders zu erleben und viele gemeinsame Erlebnisse zu teilen. Ein therapeutisch ausgerichtetes Angebot ermöglicht der Familie zudem, ihre Themen im geschützten Rahmen und in enger Begleitung zu erleben und ‚bearbeiten‘ und so Impulse in den Alltag zu transferieren. |
Wenn eine Idee zum Setting des Familienangebots entstanden ist, kann im nächsten Schritt die weitere rahmengebende und inhaltliche Planung der Familienstunden angegangen werden.
Da der Ablauf von psychomotorischen Stunden immer höchst individuell und situativ ist, steht die Fachkraft vor der Aufgabe, die Stunden vorzubereiten, ohne dass die inhaltliche Ausgestaltung programmartig festgeschrieben ist. Diese Aufgabe erfordert viel Flexibilität und ein gutes Gespür für die Bedürfnisse und Interessen der Teilnehmenden (vgl. Zimmer 2022, S. 155). Im psychomotorischen Fachdiskurs sind zum Beispiel von Passolt & Pinter-Theiss (2003) und Köckenberger (2016) Ideen zu finden, wie Planungen systematisch angegangen und strukturiert werden können, ohne dass die geforderte Flexibilität verloren geht.
Köckenberger bietet mit einer Methodik-Drehscheibe, die er in seinem Werk Vielfalt als Methode (2016, S. 43) ausführlich darstellt, eine Planungsgrundlage, die neben einer Vielzahl an Ideen für die Strukturierung, Vorbereitung und Planung einzelner psychomotorischen Stunden zusätzlich Orientierungshilfen aus einer stundenübergreifenden (Meta-)Perspektive gibt.
Im Folgenden werden die sieben Ebenen der Drehscheibe genannt und diesen beispielhaft Leitfragen zugeordnet, deren Beantwortung eine flexible, individualisierte Stundengestaltung ermöglichen soll. Begonnen wird mit der Grundhaltung, die den Kern der Drehscheibe und somit die Basis der Stundengestaltung bildet. Dazu gehören u.a. die psychomotorischen Prinzipien wie z.B. Entwicklungs- und Ressourcenorientierung und das Menschenbild. Die weiteren Ebenen bauen auf dieser Grundhaltung auf.
Didaktisch-methodische Ebene |
Mögliche Leitfragen (Beispiele) |
Grundhaltung |
Was sind für mich die wichtigsten Prinzipien? |
Intention |
Welche Ziele hat die Familie formuliert? Was könnten aktuelle Themen sein? |
Stundenaufbau |
Wieviel Struktur braucht die Familie/Gruppe? Welche Phasen könnten passen? |
Handlungsmethoden |
Welche Rolle(n) habe ich in diesem Setting? |
Methodenformen |
Welche Praxisideen habe ich zu den Themen der Familie/Gruppe? |
Ansätze |
Welche Reflexionsfragen könnten sich auf Basis der Ansätze, mit denen ich arbeite, ergeben? |
Lebensphasen & Arbeitsfelder |
Was ist mein Auftrag? Mit welchen Lebensthemen ist die Familie/Gruppe konfrontiert? |
3. Familienthemen und Praxisideen
Wenn Familien im psychomotorischen Setting Raum bekommen, über Bewegung und Spiel mit sich und anderen in Kontakt zu treten, werden aktuelle Themen der einzelnen Personen sowie Themen der ganzen Familie bewusst oder unbewusst geäußert und sichtbar. So werden im Spiel und in der Bewegung Sinn- und Bedeutungshaftigkeiten offenbart, welche theoretisch eingeordnet werden können.Ende der 80er Jahre entwickelten sich in der Psychomotorik Positionen zum sinnverstehenden Arbeiten und der Verstehende Ansatz (vgl. Eckert 2004, S. 60; Hammer 2004, S. 164; Seewald 2007). Bewegung wurde nicht nur als Methode zum Aufbau von motorischen Kompetenzen gesehen, sondern auch als Bedeutungsphänomen betrachtet, d.h. es wurde versucht, zu verstehen, was die Kinder in ihrem Spiel und ihrer Bewegung emotional und symbolisch ausdrücken wollten (vgl. Seewald, 1998, S. 156). Die zentrale Fragestellung im Verstehenden Arbeiten ist damit nicht, ‚wie man sich bewegt’, sondern ‚was einen bewegt’.
Da Psychomotorik nicht anleitend und direktiv ausgerichtet ist und mit dem Medium Bewegung arbeitet, bietet sie Spielräume an, in denen sich die individuellen Leib- und Beziehungsthemen in besonderem Maße zeigen können. „Menschen inszenieren ihr Leben, ihre Themen wie auch ihre Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen im leiblichen Spiel“ (Richter 2012, S. 100).
So kann in Spiel- und Bewegungssituationen, die mit Überquerungen zu tun haben (wie z.B. eine Bank, die zwischen zwei Kästen eingehängt ist oder ein Sprung von einer Matte zur anderen), symbolisch das Thema Übergang bearbeitet werden (vgl. Seewald 2007, S. 50).
Familien bringen aus ihren Lebenskontexten einen bunten Strauß an Themen mit, die sich für eine themenorientierte Zusammenarbeit in der Praxis beispielweise wie folgt strukturieren lassen:
Ankommen – sich finden
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Sehen – gesehen werden
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Verbinden – loslassen
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3.1 Ankommen – sich finden
In Kontakt kommen ist zum einen ein wichtiges Thema, wenn Familien neu kennengelernt werden oder Gruppen sich zum ersten Mal treffen. Die Stärke der psychomotorischen Spielideen ist es, einen wertschätzenden und dialogorientierten Kontakt anzubieten. Dadurch wird eine Atmosphäre geschaffen, in welcher Menschen nicht Leistung erbringen müssen und damit direkt offenlegen, was sie können und was sie nicht können. Derartige Spiele sind nicht nur für Situationen wertvoll, in denen Familien oder Gruppen neu zusammenkommen. In Kontakt kommen ist häufig auch hilfreich nach Konfliktsituationen oder nach Stundenteilen, in denen eher Einzelaktivitäten im Vordergrund standen. Insgesamt bieten die Bewegungs- und Spielideen die Möglichkeit anzukommen, Spaß zu haben und Vertrauen und Beziehung aufzubauen.
Eine vertrauensvolle Atmosphäre, in der Beziehungen geknüpft und gestärkt werden, bietet wiederum Raum für das Individuum, sich authentisch zu geben, sich auszudrücken und Gefühle zu zeigen. Beim Thema Gefühle zeigen geht es um das Begleiten, Befürworten und Aushalten von Gefühlsausbrüchen oder -äußerungen. Sowohl für Kinder als auch für Erwachsene ist es wichtig zu erfahren, dass es in Ordnung ist, unterschiedliche Gefühle zu haben. Die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit des Zulassens von Gefühlen kann erlebt und reflektiert werden. Der Umgang mit Gefühlen bietet Entwicklungspotenzial. Denn wenn sich in einer Situation sozial unerwünschte Emotionen wie Wut, Frustration oder Trauer zeigen, kann auf diese eingegangen und sie können ins Stundengeschehen aufgenommen und integriert werden. Somit bieten Emotionen die Chance, die Kinder bzw. die Familie mehr verstehen zu lernen.
Neue Kontakte zu knüpfen bzw. in Kontakt zu sein und mit den eigenen Gefühlen und denen der anderen konfrontiert zu werden, kostet Kraft. Aus diesem Grund halten wir es für wichtig, auch Impulse anzubieten, in denen Familien Ruhe finden können. Häufig kommen im vielfältigen Alltag des Familienlebens Gelegenheiten zu kurz, in denen man gemeinsam mit den Kindern zur Ruhe kommt, Stille genießen kann und sanfte Berührungen möglich sind. Wie Menschen zur Ruhe kommen können, ist sehr individuell, so dass die Angebote von bewegten Entspannungseinheiten, über Wechsel von An- und Entspannung, Wahrnehmungsfokussierung oder Massagegeschichten reichen können.
Abb. 1: In Kontakt kommen: Praxiskarte Ballvarianten
3.2 Sehen – gesehen werden
Die Ressourcenorientierung als psychomotorisches Prinzip spiegelt sich in der Haltung der Psychomotoriker*innen wider. Beim Thema Ressourcen sehen geht es um die Ressourcen, die mir von anderen gespiegelt werden können, aber die ich auch selbst an mir sehe oder vielleicht auch erst finden kann. Die eigenen Stärken und auch das Aufdecken der eigenen Stärken geben mir die Möglichkeit zu wachsen. Wie häufig hören Kinder aber auch Erwachsene, was nicht richtig ist und was sie nicht gut machen. Das ‚erwünschte’ Verhalten wird meist als selbstverständlich wahrgenommen und nicht verbalisiert oder benannt. Spürt man jedoch in sich hinein, wenn jemand authentisch formuliert, was er/sie in einer bestimmten Situation passend, gut, clever etc. von mir oder an mir findet, wird man merken, wie gut positive Rückmeldungen im ganzen Körper spürbar sind und welch wohlig warmes Gefühl sie auslösen können.
Im Themenfeld Wachsen lassen geht es dann darum, Kindern, Eltern und Geschwistern die Möglichkeiten zu bieten, selbst Dinge zu tun und somit selbstständig zu werden und sich weiterzuentwickeln. Aus Sicht des Kindes braucht es dazu z. B. Mut, Willenskraft, Motivation und das Wissen um die eigenen Stärken, aber vor allem auch eine ermutigende und vertrauensgebende Unterstützung durch die Eltern. Aus Sicht der Eltern braucht es ebenfalls Vertrauen in die Fähigkeiten der Kinder, aber auch das Aushalten (um nicht sofort einzugreifen) und das Raum-und-Zeit-Geben zur Entfaltung.
Hier kann dann auch der Übergang zum dritten Themenbereich gefunden werden. Denn erst wenn ich zu mir stehen kann und Mut angesammelt habe, kann ich Position beziehen. Die eigene Position zu beziehen, hat in sozialen, familiären Kontexten immer auch etwas mit Aushandlungsprozessen zu tun. Wo stehe ich, wo steht mein Gegenüber? Ist es ein Miteinander oder ein Gegeneinander? Wie wird das Kräfteverhältnis ausgelotet? Für diese Themen eignen sich die Spielideen aus dem Spektrum des Ringens und Raufens.
Abb. 2: Ressourcen sehen: Praxiskarte Ressourcendusche
3.3 Verbinden – loslassen
Die drei Themenbereiche des dritten Blocks sind eng miteinander verknüpft und beinhalten grundlegende Entwicklungs- und Lebensthemen. Hier spiegeln sich vor allem Bindungs- und Autonomiethemen wider, die von besonderer Bedeutung für die menschliche Entwicklung sind, da sie in allen Lebensphasen in unterschiedlichen Facetten immer wieder auftauchen. So beginnt das Leben mit der Verbindung mit der Mutter durch die Nabelschnur, über die das Kind ernährt wird, wachsen kann und dadurch gestärkt die Strapazen der Geburt bewältigen kann. Das Durchtrennen den Nabelschnur ist die erste große Trennungserfahrung zwischen Mutter und Kind. Dieser Dreiklang von Situationen, in denen wir Verbindungen spüren, die uns Halt geben und damit auch die Kraft Übergänge zu schaffen, um anschließend loslassen zu können, begleiten uns durchs Leben. Wenn ein Kind laufen lernt, wird es dies zunächst in Verbindung mit den Eltern machen, z.B. an der Hand, um irgendwann auch den letzten Finger loszulassen und allein seine ersten Schritte zu tun. Aber nicht nur das Kind muss loslassen, sondern auch die Eltern. Auch in späteren Lebensphasen, in denen es um institutionelle Übergänge geht, werden die drei Themenbereiche wieder sichtbar. Die Verbindungen zu den Eltern zu spüren, ist für Kinder eine wichtige Voraussetzung, um Sicherheit zu gewinnen und allein in die Krippe, in den Kindergarten oder in die Schule gehen zu können.
Das psychomotorische Erleben von Verbindungen, Übergängen und Loslassen kann die Bedeutung der Themen und die damit einhergehenden Emotionen bewusst machen und so zu einer empathischen Begleitung der Kinder bei Übergängen und in Prozessen des Loslassens anregen. Wenn sich Erwachsene mit einem Thema auseinandersetzen, geschieht dies meist auf einer rationalen, gesprächsorientieren, kognitiven Ebene. So kann über das Thema Übergang zwischen Kita und Schule gesprochen, reflektiert und diskutiert werden. Kinder erleben ihren Übergang zwischen Kita und Schule am ‚eigenen Leib‘. Psychomotorische Zugänge ermöglichen, dieses leibliche Erleben auch im erwachsenen Alter zu aktivieren. Was für Gefühle habe ich, wenn ich meinen ‚sicheren Hafen‘ verlassen soll?
Im abschließenden Themenbereich Loslassen geht es um das Erleben von Situationen, in denen wir etwas oder jemanden loslassen oder festhalten oder selbst loslassen (fallen lassen). Durch das Erleben und Bewusstmachen kann deutlich werden, was Loslassen bedeuten kann und welche Emotionen damit verknüpft sein können. Dabei können persönliche, individuelle Themen auftauchen, aber vor allem die Themen, die im gemeinsamen Eltern-Kind-Sein auftreten. Die Wirkung des elterlichen Loslassens bzw. Festhaltens stehen im Fokus der Erfahrungssituationen.
Abb. 3: Verbindungen spüren: Praxiskarte Rollbrett im Duett
Spielideen können Entwicklungsthemen von Menschen mehr oder weniger intensiv berühren. Dies kann bei allen Beteiligten im Erleben der Situationen vielfältige Reaktionen, emotionale Berührung und Wirkungen hervorrufen und bedarf professioneller Begleitung. Bei der Umsetzung der Angebote für Familien ist eine psychomotorische Fort- oder Ausbildung immer hilfreich. Je intensiver Menschen mit ihren eigenen Entwicklungsthemen in Berührung kommen und sich mit Fragen zu sich selbst auseinandersetzen, desto notwendiger wird die professionelle Begleitung, um den Raum passend zu gestalten, eine geeignete Rahmung zu gewährleisten und bei Bedarf Schutz zu bieten.
4 Reflexion von Familienstunden
Reflexionen von Praxissituationen gut zu begleiten, ist eine Kunst für sich. Häufig schwingt die Sorge mit, nicht die richtigen Fragen oder Impulse zu finden, die für ein Gespräch über das Erlebte förderlich sind. Aber warum sind abschließende Reflexionen überhaupt wichtig, welche Ziele können sie verfolgen? Hammer und Paulus (2002, S. 17) benennen zentrale Punkte speziell für Reflexionen mit Familien: „In der abschließenden Reflexion werden die Erlebnisse im Spiel angesprochen und damit zur bewußten Erfahrung versprachlicht. Daraus entwickelt sich ein Bild über das Beziehungsgeflecht in der Familie und die Möglichkeit, festgefahrene Beziehungsstrukturen zu verflüssigen, neue Beziehungsmuster aufzubauen und zu erproben.“ Weitere Ziele einer Reflexion könnten bspw. sein, einen Abstand zum Erlebten zu schaffen und gleichzeitig das Erlebte ins Bewusstsein zu transportieren, stärkende Erfahrungen hervorzuheben und Kompetenzen zu würdigen, einen Überblick zu geben und zusammenzufassen (vgl. Köckenberger 2016, S. 55).Die Reflexion einer psychomotorischen Stunde kann vielfältig gestaltet werden. Sie kann kurzgehalten oder ausgedehnt werden. Sie kann verbal, nonverbal, spielerisch, rituell, aktiv oder ruhig gestaltet werden. Die Entscheidung für die Art und Weise der Reflexion macht die Fachkraft vom Verlauf der Stunde, den Teilnehmenden und eigenen Vorerfahrungen abhängig. Je nach Alter der Kinder könnte eine rein sprachliche Reflexion überfordern und stattdessen eine spielerische Herangehensweise zielführender sein, indem z.B. die positiven Erlebnisse in eine Schatzkiste oder einen Rucksack ‚gesteckt’ werden oder ein Kuscheltier als Sprachrohr fungiert (vgl. Köckenberger 2016, S. 56). Auch bei den erwachsenen Teilnehmenden könnte ein Mix aus Versprachlichung und spielerischem Abschluss zur leichteren Integration der Erlebnisse führen. Manche Stunden brauchen vielleicht keine Reflexion oder die Reflexion findet zwischendurch mit oder unter einzelnen Teilnehmenden statt.
Die folgenden Beispielfragen können als Grundlage zur Ideenfindung von Reflexionsfragen dienen. Häufig reichen ein bis zwei passende Fragestellungen, um einen guten Reflexionseinstieg zu finden und in den Austausch zu kommen.
Reflexionsfragen zum Themenblock Ankommen – sich finden
- Was hast du erlebt?
- Wie ist es dir ergangen?
- Was hat es mit dir gemacht?
- Wie hast du dich in dem Moment gefühlt?
- Wie hast du dich gefühlt, als du in der Mitte standest?
- Wo im Körper hast du die Freude/Angst/Anspannung... gespürt?
- Was ist dir besonders gut gelungen?
Mögliche Schwerpunkte der Reflexion könnten bei diesen Praxisideen, die das In-Kontakt-kommen, Gefühle-zeigen und Ruhe-finden in den Vordergrund rücken, auf dem körperlich-leiblichen Erleben/Spüren/Empfinden, den Emotionen und/oder erfahrenen Herausforderungen liegen.
Reflexionsfragen zu den Themenblöcken Sehen – gesehen werden und Verbinden - loslassen
- Wie hat es sich für dich angefühlt, als dir Person X geholfen hat?
- Was hat euch geholfen, die (Kooperations-)Aufgabe lösen zu können?
- Was habt ihr getan, um die (Kooperations-) Aufgabe zu schaffen?
- Was hat Person X gemacht, dass du ihr vertrauen konntest?
- Was denkst du, wie könnte es deiner Mama, deinem Papa, Ihrem Sohn, Ihrer Tochter, deinen Geschwistern während des Spiels ergangen sein?
Mögliche Schwerpunkte der Reflexion könnten das gemeinsame Erleben, das Miteinander, die Interaktion/Kooperation und/oder das Vertrauen sein. Natürlich kann der Schwerpunkt auch auf das Spüren/Erleben wie im ersten Block gelegt werden.
Weitere Schwerpunktsetzungen könnten, besonders für die Praxisideen aus dem Themenblock Verbinden – loslassen, der Transfer des Erlebten in den Alltag, der Symbolcharakter des Erlebten und/oder Lösungsansätze für die innerfamiliäre Interaktion/Kommunikation sein.
Falls in Reflexionsrunden die Situation auftritt, dass eine Frage nach der anderen gestellt werden ‚muss’, deutet dies vielleicht darauf hin, dass nicht der passende Zeitpunkt für die Verbalisierung des Erlebten ist.
Vor allem ist es nach dem Stellen einer Reflexionsfrage wichtig, den Teilnehmenden genügend Zeit zu geben und Geduld zu haben, bis sich die Gefühle zum Erlebten sortiert haben und Erlebtes auch in Gedanken und dann in Sprache übertragen ist. Für den/die Fragesteller*in fühlt sich das Warten auf die Antworten manchmal lang an. Für die Menschen, die versunken sind in Erinnerungen an Erlebnisse und Erfahrungen, die spüren, fühlen und verarbeiten, sind ein paar Minuten Schweigen keine lange Zeit, sondern häufig notwendig, um auf Fragen antworten zu können. Wir möchten dazu ermutigen, sich diese Zeit zu nehmen und darauf zu vertrauen, dass Bewegung Menschen bewegt und sich viele Menschen nach den Sortierungs- und Formungsprozessen mitteilen wollen.
6. Literatur
- Broxtermann, J. & Martzy, F. (2024): Familie bewegt. Praxisideen für Psychomotoriker*innen und Fachkräfte aus Kita und Schule. Dortmund: verlag modernes lernen.- Broxtermann, J. & Martzy, F. (2023): Zusammenarbeit mit Familien in der Psychomotorik – eine langjährige Tradition?! Historische Linien und eine systematische Einordnung. motorik 46 (1), 4–10.
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2024): Familienreport. Berlin. Abgerufen am 18. Juli 2024 von https://www.bmfsfj.de/resource/blob/239468/a09d21ecd295be59a9aced5b10d7c5b7/familienreport-2024-data.pdf
- Eckert, A. R. (2004): Menschen psychomotorisch verstehen und begleiten. In Eckert, A. R. & Hammer, R. (Hrsg.), Der Mensch im Zentrum (S. 59-73), Band 3. Lemgo: Verlag Aktionskreis Psychomotorik.
- Hammer, R. & Paulus, F. (2002): Psychomotorische Familientherapie - Systeme in Bewegung. motorik 25 (1), 13–19.
- Hammer, R. (2004): Der Verstehende Ansatz in der Psychomotorik. In Hammer, R. & Köckenberger, H. (Hrsg.), Psychomotorik. Ansätze und Arbeitsfelder (S. 164-186). Dortmund: verlag modernes lernen.
- Köckenberger, H. (2016): Vielfalt als Methode. Methodische und praktische Hilfen für lebendige Bewegungsstunden, Psychomotorik und Therapie. Dortmund: verlag modernes lernen.
- Passolt, M. & Pinter-Theiss; V. (2003): „Ich hab eine Idee”: Psychomotorische Praxis planen, gestalten, reflektieren. Dortmund: verlag modernes lernen.
- Richter, J. (2012): Spielend gelöst. Systemisch-psychomotorische Familienberatung: Theorie und Praxis. V&R: Göttingen.
- Schäfer, C. (2017): Bewegte Familienzeit. Empirische Studie zur Förderung der Interaktion und Lebenszufriedenheit von Familien durch ein präventives Bewegungsangebot. Dissertation, Universitätsbibliothek Dortmund, Dortmund, http://dx.doi.org/10.17877/DE290R-18152
- Seewald, J. (1998): Bewegungsmodelle und Menschenbilder in verschiedenen Ansätzen der Psychomotorik. motorik 21 (4), 151–158.
- Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. München: Reinhardt.
- Zimmer, R. (2022): Handbuch Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. (15. Gesamtaufl.). Freiburg: Herder.
Wir bedanken uns bei dem Verlag modernes lernen für die Übernahmemöglichkeit.
- Zuletzt bearbeitet am: Montag, 09. Dezember 2024 08:41 by Karsten Herrmann