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Der pädagogische Ansatz „Spielzeugfrei“

Lebenskompetenzförderung (nicht nur) bei Kindern

In diesem Artikel möchte ich den von mir sehr geschätzten und meine Haltung grundlegend prägenden pädagogischen Ansatz „Spielzeugfrei“ vorstellen. Mein Blick liegt insbesondere auf den dem Ansatz innewohnenden Vorstellungen über Kinder, der pädagogischen Arbeit und der Rolle der Erzieher*In sowie auf der Beziehungsgestaltung mit den Eltern. Ich selbst habe diesen pädagogischen Ansatz auf praktischem Weg kennengelernt. So habe ich 1,5 Jahre in einer KITA „Spielzeugfrei“ gearbeitet. Auf diese Erfahrung blicke ich in diesem Artikel theoretisch fundiert zurück.

Der Ansatz SPIELZEUGFREi = Chance auf Lebenskompetenzförderung (nicht nur) bei den Kindern

Das (Pilot)Projekt „Spielzeugfreier Kindergarten“ ging Im Jahr 1992 aus einem bayerischen Suchtarbeitskreis hervor. Der Ansatz basiert auf einem salutogenetischen Gesundheitsverständnis, wonach GESUND_SEIN nicht allein die Abwesenheit von Krankheit bedeutet, sondern weit darüber hinausreicht.

So heißt es in der WHO - Ottawa- Charta: „Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl Einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können.“
Die WHO spricht in diesem Zusammenhang auch von Lebenskompetenzen. Und das durch die Aneignung ebendieser Lebenskompetenzen es möglich ist, sein eigenes Leben zu steuern und mit Veränderungen in der Umwelt umzugehen (WHO, 1997).
Lebenskompetenzen sind laut WHO persönliche, soziale, kognitive und psychische Fähigkeiten, die einer Person erlauben angemessen mit den vielfältigen Mitmensch*innen, Problemen und Stresssituationen umzugehen.

Alltägliche Lebenskompetenzförderung im pädagogischen Ansatz „Spielzeugfrei“ bedeutet v.a. Raum und Zeit zum Wahrnehmen der eigenen Gefühle und Bedürfnisse, zum Äußern ebendieser und der Vermittlung mit den Bedürfnissen der Mitmensch*innen v.a. den Umgang mit unwohleren Emotionen im Kontext von z.B. Angst, Unsicherheit, Scheitern, Frustration, Langeweile ohne Ablenkung und Ersatzbefriedigung (vgl. Schubert/ Strick 2019, S.8). Sie steht für das Verlassen von Routinen, Gewohnheiten und der eigenen Komfortzone (die zumeist nicht wirklich komfortabel ist).

Auch unsere Rolle als Erzieher*Innen verändert sich in dem Konzept. Wir treten nicht als „Animateur*In“, Angebotemacher*In, sondern lediglich als präsente Begleiter*In auf. Es werden also keine Spiel-, Lern- und Bastelideen und Problemlösungen angeboten, sondern maximal Impulse in Form von Fragen in den Raum gegeben. Es geht eher um eine bewusst-abwartende Haltung. Dies darf allerdings nicht mit einer gleichgültigen Haltung verwechselt werden.

Als Maßnahme der Primärprävention richtet sich der Spielzeugfrei-Ansatz an alle Kinder und dient dem Aufbau von Schutzfaktoren. Im Sinne einer Ursachenorientierung steht die Lebenswelt der Kinder im Fokus und dazu gehören in der westlichen Welt vorgefertigte Spielzeuge, Konsum und Zeitstress. Kindheit heute ist „Termin- und Vereinskindheit“ (Kraaz 2002, S. 24), „Förder- und Lernkindheit“ (Familienhandbuch 2019) mit kaum noch selbstbestimmter Freizeit (vgl. dpa 2018). Eine Lebenswelt also, die vorgefertigt, vorgeplant und vorstrukturiert fern von FREI-Zeit und FREI- Raum, eigenen Bedürfnissen und Zielen ist. Somit ist der Ansatz zugleich Gesellschaftskritik.

In einer Gesellschaft, die Leistung und Haben als Lebensmaßstäbe setzt, ist wenig bis kein Platz für das Sein und die Entwicklung der ureigenen Persönlichkeit. In einer normierten Welt mit Fertigprodukten und schnellen (vorgegeben) Lösungen fehlen Zeit und Raum für die individuellen menschlichen Bedürfnisse und Phantasien der Weltaneignung durch je ureigene Wege.

Wir können uns an dieser Stelle (erstaunt?) fragen: Ist in unserer Konsum-Gesellschaft die Unfähigkeit elementare Bedürfnisse wahrzunehmen schon so selbstverständlich? Sind Eile, die permanente Glücks(Kick)suche, „das immer etwas zu tun haben müssen“ so zwingend, dass es ungewöhnlich erscheint, einfach zu sein, Lange-Weile zu haben und nichts zu leisten?

Die Antwort ist LEIDER JA. Und nun?

Ein wichtiger Impuls ist für mich eine Aussage Gisela Eschenbachs (1992). Sie schreibt, dass die „[…] Verletzung oder Nicht-Erfüllung (kindlicher) Bedürfnisse Ersatzbefriedigungen (über)lebensnotwendig [machen].“ Es sei folglich die Aufgabe, diesen Fehlentwicklungen frühzeitig durch gezielte Maßnahmen vorzubeugen und dem Menschen die Chance zu geben „eigene Erfahrungen ausprobieren und leben zu können.“

Der pädagogische Ansatz SPIELZEUGFREI ist ein „Freiraum […] zu sich selbst zu kommen [und somit] eine "Gegenerfahrung" (Schubert/ Strick 2019, S.10.), frei von äußeren belebten oder unbelebten Problemlöser*Innen die eigenen Fähigkeiten, den eigenen Rhythmus, die eigenen Grenzen und Möglichkeiten erkennen zu können (vgl. Schubert/ Strick 2019, S.9).

ZWISCHENDURCH: Assoziationsspiel „Langeweile“


  • Die Ziele des Spiel`s findet ihr in der Fußnote 2 (siehe unten). Bitte erst nach dem Spiel lesen!
  • Aufgabe: Bitte schreibt den Begriff LANGEWEILE diagonal auf ein Blatt Papier und schreibt dann die 1. Wörter(kombinationen) mit Bezug zu LANGEWEILE, die euch einfallen, auf.

Hier ein Bsp. für die Aufgabe mit dem Wort FRUST:
F – feiern, fernsehen, fasten, fressen ... (Ablenkungen?)
R –rastlos, ruhelos ...
U – unangenehme Unruhe im Innern ...
S – Schwermut, Selbstreflexion, Sport, sprechen ...
T – Tee trinken und abwarten, tanzen, toben ..


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Vom (aus)Halten unangenehmer Gefühle

Die Kinder treten in der spielzeugfreien Zeit ein in einen FREI- RAUM, in eine FREI- Zeit ohne vorgefertigte Angebote und Spielzeuge. Ihre bekannte Umgebung ist weg(geräumt). UND DAS ist anfänglich absolut unangenehm!

Die Kinder sind voller unangenehmer Gefühle wie Unsicherheit und Angst wegen der neuen Situation, Traurigkeit ob des Fehlens geliebter Gewohnheiten, Langeweile durch das Zurückgeworfensein auf sich selbst, Unruhe durch die ungewohnte Situation etc.

Und was tun wir Erwachsene, wenn wir unangenehme Gefühle fühlen? Ich beobachte, dass Mensch*innen sich oftmals für Vermeidungs-/ Kompensationsverhalten entscheiden, wie „die Flucht nach vorn“, „work hard - play hard“, „sich etwas schöntrinken“ statt sich nüchtern und frei den Lebensanforderungen zu stellen.

So ist es immer häufiger auch bei Kindern der Fall, sich mit Ersatzbefriedigungen von Frustrationen und Problemen zu entlasten und Erwachsene befriedigen Unzufriedenheit bei Kindern (und bei sich selbst) „um des lieben (inneren und äußeren) Friedens und der eigenen Ruhe Willens“ mit irgendeinem schnellen Trostpflaster.

Verhaltensmuster wie das Überspielen unangenehmer Situationen mittels Aggressivität oder Rückzug oder Ersatzbefriedigungen stehen in Verbindung mit schwach ausgeprägten Lebenskompetenzen. Aus denen heraus kann eine konkrete Lebensangst entstehen oder Grundgefühle wie „sich dem Leben nicht gewachsen fühlen“, „nicht aushalten können“, „ausgeliefert, ohnmächtig“.

Ich erachte im pädagogischen Ansatz „Spielzeugfrei“ insbesondere die Erfahrung des „Überlebens“ unangenehmer Emotionen suchtpräventiv als hochbedeutsam, da der Suchtkreislauf mit dem Nichtaushalten innerer Spannung und der „schnellen Lösung“ dafür beginnt (vgl. von Pock 2019, S.5). Da dies jedoch kein Selbstläufer ist i.S.v. „Spielzeug weg und das ist selbststärkende Suchtprävention“ braucht es Pädagog*Innen/ Erwachsene, die diese unangenehmen Gefühle mehr als Aushalten, die diese Emotionen HALTEN und die Kinder spiegelnd begleiten sowie ein vertrauensvolles Los- und Geschehenlassen, welches den eigenen und fremden Flügeln Freiraum (inkl. Astgabel) gibt. Und auch wenn dieser Ansatz nicht direkt auf gesellschaftlicher Ebene die Auswüchse einer Leistungs- und Konsumgesellschaft heilt, so löst der Ansatz lt. einer Studie „[…] einen komplexen, interaktiven Prozess [bei den Kindern, in der KITA, den Eltern und im weiteren Umfeld] aus […]“ (Aktion Jugendschutz o.J., Konzept).

Die Umsetzung des pädagogischen Ansatzes „Spielzeugfrei“ im Elternkontakt

Basierend auf dem im 1. Absatz geschilderten Ansatz „Spielzeugfrei“ und damit der Chance der Lebenskompetenzförderung (nicht nur) bei den Kindern orientierte sich auch der Kontakt zu den Eltern. D.h.
  • verbindlicher Kontakt ohne Bespaßung und Angebote sondern Lebenskompetenzförderungs- Impulse an die Eltern
  • Präsenz im Sinne von Ansprechbarkeit per Brief, Postkarte, eMail und telefonisch

Denn am nahesten an den Kindern sind die Eltern und damit verbunden ist ihr Handeln als Vorbild nicht nur in (Belastungs-) Situationen. D.h. wie die Kinder Situationen aufnehmen, hängt vor allem davon ab, wie Eltern selbst damit umgehen. Die Eltern sind das wichtigste Modell für die Kinder. Sie beobachten Verhalten z.B. im Umgang mit Ängsten und Unsicherheiten („Angst herunter- oder hochspielen “ oder „Unsicherheitsvermeidung“? etc).

Somit sind die Eltern und ihr (Un)Wohlbefinden, ihr Denk_Fühlen selbst Fokus unserer pädagogischen Arbeit. Ganz im Sinne von „Starke Eltern – Starke Kinder“ So waren wir im 2. Lockdown als KIGA präventiv tätig d.h. Raum und Zeit für die Gefühle der Eltern schaffen, damit es nicht eskaliert, sondern gar Wachstum in den Familien bei Eltern und Kindern geschehen kann.

Abgeleitetes Grobziel: Die Eltern als Begleiter*innen ihrer Kinder hin zu einem MEHR an Freude, Klarheit und Sicherheit weg von Gewalt und Kompensation in der Beziehung/ Erziehung zu ihrem Kind (aus der Ferne) begleiten. Daraus abgeleitete Feinziele samt konkreter Umsetzung

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Zu guter Letzt – Noch einmal die LANGEWEILE: „Nichts ist dem Menschen unerträglicher als völlige Untätigkeit [...]ohne Zerstreuungen, ohne Aufgaben zu sein. Dann spürt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, sein Ungenügen, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. [. . .] Das ist der Grund, dass die Menschen so sehr den Lärm und den Umtrieb schätzen [...].“

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ENDE

Fußnoten


(1) Ziele: 1. Das implizite Wissen der Lesenden zu einem wesentlichen Bereich des Thema`s (Umgang mit unangenehmen Gefühlen) sichtbar machen. 2. Dadurch die Lesenden im Innersten erreichen und so mit dem Thema berühren.

Literatur


Kinderbücher- Tipp´s zum Thema Spielzeugfreie Zeit
  • „Ganz schön langweilig“, „Der blaue Stuhl“, „Ein Karton ist ein Karton, ist kein Karton“, „Das Spielzeug fährt in die Ferien“, „Vielleicht“, „ Was macht man mit einer Idee“, „Das großartigste Ding der Welt“, „Eins und sonst Keins“

Zum Weiterlesen


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