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Kinderläden und antiautoritäre Erziehung

Modelle einer Gegengesellschaft und veränderten Erziehungskultur

Inhaltsverzeichnis

  1. Vom Gleichschritt zum aufrechten Gang
  2. Keine eigene wissenschaftsmethodisch überzeugende Theorie
  3. Anfänge und Entwicklung in Westdeutschland
  4. Anfänge und Entwicklung in Ostdeutschland
  5. Antiautoritäre Sexualerziehung/-aufklärung
  6. Selbsterziehung der Erwachsenen - Vom Kinderladen zum Elternladen
  7. Anpassung an den Mainstream?
  8. Wegweisende Impulse gesetzt
  9. Neueste wissenschaftliche Studien
  10. Anmerkungen
  11. Literatur

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Selbsterziehung der Erwachsenen - Vom Kinderladen zum Elternladen

In angeordneten Gruppendiskussionen, die immer mehr zu psychoanalytischen Selbsterfahrungsgruppen ausarteten, besprachen die Eltern (und andere Bezugspersonen) der Kinderladenkinder, neben ihre eigenen „autoritären Sozialisation“ und entsprechender „Autoritätsfixierungen“, ebenso ihre individuellen sexuellen Verdrängungen, Verkrampfungen und Projektionen, ihre enormen Unsicherheiten im Umgang mit der kindlichen Sexualität. Denn nur dem Erwachsenen, der die ihm anvertrauten Kinder nicht mit dem verklemmten „Kind in sich“ (Bernfeld 1925, S. 141) belastet, gelingt eine repressionsfreie (Sexual-)Erziehung - das bedeutete auch, sich von den Eltern, die alle (professionell) Erziehenden mit sich schleppen, zu befreien. Dadurch bedingt rückte in kürzester Zeit, wie Christin Sager schreibt, neben allgemeinen Erziehungsfragen, die Sexualität der Erwachsenen „in den Vordergrund und der Kinderladen fungierte mehr und mehr als ‚Elternladen‘: Nicht nur die Erziehung der Kinder stand im Fokus, sondern vor allem die eigene sexuelle Sozialisation, als auch die Selbsterziehung der Erwachsenen. Intimste Details wurden vor der Gruppe ausgebreitet, analysiert, protokolliert und schließlich publiziert. Wurde im Anschluss an den Faschismus vehement geschwiegen, musste nun alles ‚Private‘ öffentlich gemacht werden“ (Sager 2015, S. 175).

Für Monika Seifert produzieren die erwachsenen Bezugspersonen des Kindes gerade hinsichtlich der Sexualität die meisten Abwehrmechanismen und leisten darin die größte Verdrängungsarbeit. Dies hat zur Folge, dass unbeabsichtigtes Fehlverhalten und nicht reflektierte Fehlleistungen die Sexualerziehung negativ beeinflussen. Um unbewusste Verschleierungen und Manipulationen zu vermeiden, forderte sie:

„1. Die Erwachsenen müssen versuchen, ihre sexuellen Schwierigkeiten in der ganzen auto-biographischen und gesamt-gesellschaftlichen Komplexität aufzudecken und zu analysieren, was gleichzeitig
2. bedeutet, daß sie diese eigene Problematik kollektiv im politischen Kontext zu verarbeiten suchen müssen.
3. Sie müssen ihre Beziehungen zu den Kindern relativieren, d. h. ihre Fixierungen an das Kind abbauen, um damit autoritäre Fixierungen an die Erwachsenen und die Übertragung ihrer sexuellen Problematik auf die Kinder von vornherein zu verhindern. Von diesen Forderungen her gesehen, ist zwar eine liberale Einstellung zur Sexualität der Kinder ein Fortschritt, kann jedoch nicht den Ansprüchen einer Erziehung zur Selbstregulierung genügen“ (Seifert 1971, S. 169).

Damit unbewusste Übertragungen, Manipulationen und Verschleierungen seitens der Erziehenden auf die ihnen anvertrauten Kinder von vorherein ausgeschaltet werden, sollten a) „Fixierungen einzelner Kinder auf einzelne Erwachsene und umgekehrt vermieden werden“ und b) „Gruppenprozesse gefördert werden, die es den Kindern ermöglichen, kollektiv zu lernen, mit neu auftretenden Bedürfnissen umzugehen. Das heißt, daß auch die sexuellen Bedürfnisse und Äußerungsformen der Kinder auf der Grundlage solidarischen Verhaltens als Ausdrucksform zwischenmenschlicher Kommunikation eingeübt werden“ (ebd., S. 170).

Für Georg Kiefer ist es für Erwachsene äußerst problematisch die kindliche „Genitalerziehung“ in den Kinderladen miteinzubeziehen. Diesbezüglich kommt es „leicht zu Fehleinschätzungen, Bedeutungsüberhöhungen, Projektionen eigener Versagungen auf das Kind. Dazu kommt weiterhin, daß wir nicht einmal in der Lage sind die infantile Lustbefriedigung zu beachten, meist aus Verkrampfung jeden Ansatz abwehren, auch durch unbewußte Haltungen das Kind abschrecken, Verbote auferlegen, deren Sinn Kinder nicht verstehen, ihm ein Kommunikationsbedürfnis nehmen... Wir bemerken nicht einmal die bewußt streichelnde Hand des Kindes und wenn, wehren wir oft ab. Das Problem liegt also bei uns Erwachsenen. Um uns dies bewußtzumachen und Lösungen zu finden, haben wir einen Arbeitskreis über Sexualität mit einigen Eltern angefangen“ (Kiefer 1970, S. 39).

Durch die anstrengenden Gruppendiskussionen, an deren Folgen „viele Beziehungen kaputt... gingen“ (Kätzel 2002, S. 168), entstand ein hoher Leistungsdruck bei den TeilnemerInnen, der dazu führte, dass die Magnitude der kindlichen Befreiung miteinander verglichen und aus dem Verhalten der Kinder Rückschlüsse auf die jeweiligen Eltern gezogen wurden. Dieses Vorgehen widersprach letztlich der Intention einer antiautoritären Erziehung. Gabriele Flessenkemper erinnert sich:

„So schämten wir uns, wenn unsere Kinder ‚zu früh‘ nicht mehr in die Hosen machten, keine Lust hatten, ständig Spagetti-Ketschup-Schlachten zu veranstalten, in ihrer Scheiße oder ihren Genitalien nicht besonders interessiert waren“ (Flessenkemper 1983, S. 22).


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