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Kinderläden und antiautoritäre Erziehung

Modelle einer Gegengesellschaft und veränderten Erziehungskultur

Inhaltsverzeichnis

  1. Vom Gleichschritt zum aufrechten Gang
  2. Keine eigene wissenschaftsmethodisch überzeugende Theorie
  3. Anfänge und Entwicklung in Westdeutschland
  4. Anfänge und Entwicklung in Ostdeutschland
  5. Antiautoritäre Sexualerziehung/-aufklärung
  6. Selbsterziehung der Erwachsenen - Vom Kinderladen zum Elternladen
  7. Anpassung an den Mainstream?
  8. Wegweisende Impulse gesetzt
  9. Neueste wissenschaftliche Studien
  10. Anmerkungen
  11. Literatur

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Anfänge und Entwicklung in Westdeutschland

demo volksuni 69Plakate mit Forderungen des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen und der Kindergärtnerinnengruppen (Aus: "Mitten im Malestream", Film von Helke Sander, Foto: Susanne Beyeler)Die ersten Gründungen antiautoritärer Vorschuleinrichtungen entstanden in etwa zur gleichen Zeit und unabhängig voneinander als Selbsthilfeorganisationen, in Frankfurt, West-Berlin und Stuttgart, den Frontstädten der antiautoritären Bewegung (vgl. Göddertz 2016, S. 32 ff.). Es wurden vor allem „Tante-Emma-Läden“, die durch das Aufkommen von Supermärkten schließen mussten und daher frei waren, zu günstigen Bedingungen angemietet. Darum die Titulierung Kinderläden, von denen im Jahre 1971 allein in West-Berlin an die 100 existierten. Sie verstanden sich als Alternative zu den klassischen Kindergärten in kommunaler oder konfessioneller Trägerschaft, die „eher Friedhöfen“ (o. V. 1970, S. 51) glichen, als Modelle einer „Gegengesellschaft“, in der nicht nach den Prinzipien von „Konkurrenzkampf“ und „Leistung“ erzogen wurde (vgl. Baader 2008, S. 21). Aus einem Bericht der Deutschen Presseagentur (dpa) vom 10. Juni 1969 geht hervor, dass die meisten Vorschuleinrichtungen in der BRD, „noch immer nichts anderes als Verwahranstalten [sind; M. B.]. Viele der in ihren Mauern versorgten rund 1,1 Millionen Kinder atmen täglich noch den Muff pädagogischer Provinz. Gruppen bis zu 40 Kindern sind in vielen Kindergärten... der Bundesrepublik keine Seltenheit. Bei manchen staatlichen, kirchlichen und privaten Trägern gilt: Je mehr Kinder und je billiger die Kräfte, desto größer die Rentabilität des Kindergartens“ (zit. n. Bott 1970, S. 9). Selbst die damalige SPD-Bundesfamilienministerin Käte Strobel musste einräumen:

„Unsere Kindergartenarbeit ist veraltet und wird den Maßstäben nicht gerecht, die an ein modernes Bildungswesen zu stellen sind“ (zit. n. o. V. 1970a, S. 77).

Diesen unerfreulichen Zuständen innerhalb der traditionellen Vorschulerziehung wollten die KinderlädenKinderläden||||| Die Kinderladenbewegung entstand in den 1986 in Frankfurt mit ersten selbstverwalteten Kindergärten, oftmals Elterninitiativen, in denen Kinder verschiedenster Alter  betreuut wurden. Es wurde die Maxime eines antiautoritären Erziehungsstil vertreten, um neue Erfahrungen für Kinder zu ermöglichen, sowie die Ansicht, dass Regeln von "Autoritäten" nicht blind verinnerlicht werden dürften. Dies führte und führt noch heute zu Diskussionen und fälschlichen Verwechslungen mit dem Laissez-Faire Erziehungsstil.   mit ihrem „alternativen Konzept“ entgegenwirken.

Der Beginn der repressionsfreien / antiautoritären Erziehung begann im September 1967, in Frankfurt/Main. Monika Seifert (6), Tochter des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich und Adorno-Schülerin, war mit vier Gleichgesinnten auf der Suche nach einer geeigneten Vorschuleinrichtung für ihre Tochter, ähnlich der „Kirkdale School“, die sie während ihres einjährigen Studienaufenthalts in London kennen gelernt hatte. Rückblickend resümierte Seifert in einem Interview:

"Kindergärten fand ich unmöglich, sie kamen für mich nicht infrage, auch nicht Waldorf oder Montessori. Es sollte ein Kindergarten sein, der auf die Bedürfnisse der Kinder eingeht und nicht einer, der erzieht" (zit. n. Finkbeiner 1988, S. 42).

Zunächst wurden in einem Raum eines Nachbarschaftsheims fünf Kinder im Alter von noch nicht drei und fünf Jahren „unter Anwesenheit einer ‚neutralen Bezugsperson‘ (Malerin) und jeweils einem Elternteil“ (Seifert 1971, S. 160) betreut. Die Kinder kamen zweimal wöchentlich und blieben vorerst nur zwei, später drei Stunden in der „Mal- und Spielgruppe“. Am 1. April 1968 übersiedelte die Vorschulbetreuung, mit kurzer Zwischenstation in einen Raum im “Walter-Welker-Heim“, in eine Erdgeschoßwohnung in einem vierstöckigen Altbau, Eschersheimer Landstraße 107. Dazu gehörte ein kleiner Garten hinter dem Haus. Ihre pädagogische Konzeption der „repressionsfreien / antiautoritären Erziehung“ fasste die die "Mutter der antiautoritären Kinderläden" (Negt 1995, S. 298) unter folgenden drei Punkten zusammen:

"* Daß Kind muß sein Bedürfnis frei äußern und selbst regulieren können.
* Die Kinder müssen ohne Schuldgefühle - also frei von dem, was wir heute Moral nennen - in funktional begründeter Rücksichtnahme aufwachsen können.
* Das Lernen muß primär von den Fragen des Kindes ausgehen und nicht auf einem für das Kind notwendig abstrakt erscheinenden Programm beruhen" (Seifert 1977, S. 13).).

Entschieden wehrte sich Seifert gegen das sich schnell verbreitende Vorurteil, dass in ihrer Einrichtung chaotische Zustände, Zügellosigkeit und Hemmungslosigkeit vorherrschen würde, hervorgerufen durch den waltenden „Laissez-faire-Stil“. Dem hielt Seifert entgegen, dass das in ihrer Einrichtung herrschende Erziehungsprogramm auf dem Prinzip der Freiheit, der Selbstregulierung der kindlichen Bedürfnisse beruht. Für sie ist ein „selbstregulierendes Kind kein sich selbst überlassenes Kind im Sinne des ‚Laissez-faire-Stils‘. Das Kind kann seine Bedürfnisse nur dann regulieren und seine eigene Interessenvertretung lernen, wenn es sich in der Geborgenheit eines stabilen Bezugsrahmens (Elternhaus, Kinderkollektiv) befindet. Die Voraussetzung für Selbstregulierung ist ein liebevolles Klima, wo affektive Zuwendung möglich ist, in dem keine festen rigiden Deutungsmuster von den erwachsenen Bezugspersonen vorgegeben sind, sondern der Erfahrungsspielraum für das Kind in jeder Hinsicht offengehalten wird. Häufig werden von Kritikern des Prinzips der Selbstregulierung Bedenken geäußert, daß diese Freiheit in chaotische Freiheit umschlage, in Zügellosigkeit und Hemmungslosigkeit der Bedürfnisse – kurz: in Tyrannei des Kindes. Ein tyrannisches Kind aber ist kein freies Kind, es ist ein zwanghaftes, unfreies Kind. Ein Kind, das ‚hemmungslose‘, unstillbare Bedürfnisse äußert und nicht zufriedenzustellen ist, ist ein unglückliches, gestörtes, krankes Kind, dessen Bedürfnisse nach Liebe und Zuwendung nicht oder mangelhaft gestillt werden oder in vorausgegangenen Phasen vernachlässigt wurden und das nun das Gefühl hat ‚zu kurz‘ zu kommen“ (Seifert 1971, S. 164). Auch für die Mitglieder der berühmt berüchtigten „Kommune 2“ bedeutete antiautoritäre Erziehung, nicht „die Kinder völlig sich selbst [zu] überlassen“, vielmehr gehe es darum „eine Form der Realitätsbewältigung ohne Angst zu vermitteln“(Kommune 2 1969, S. 109). Und die damalige Bonner Staatssekretärin des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft und FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Bücher attestierte den antiautoritären Einrichtungen „eine konsequent freiheitliche und konsequent demokratische Erziehung [die; M. B.] in keinem Augenblick mit Zügellosigkeit zu verwechseln [ist; M. B.]“ (o. V. 1970a, S. 66).

In etwa zur selben Zeit als Seifert ihre Kinderschule ins Leben rief, hatte sich der Frankfurter „Sozialistische Deutsche Studentenbund“ (SDS )um die Errichtung von weiteren Kinderläden bemüht. Im Frühjahr 1969 wurde in der Leerbachstraße, in einem ruinösen Haus, ein Kinderladen seiner Bestimmung übergeben. Es folgten weitere Einrichtungen in der Finkenhofstraße und der Böhmerstraße. Auf der Suche nach einem festen Bleibe für die SDS-Kinderläden wurde man eines Hauses in der Vogelweidstraße, das die Caritas räumte, fündig. Anfang der 1970er Jahre fanden alle Kinderladengruppen mit etwa 120 Kinder darin Platz.

kinderladen3 Die Frauen der ersten Stunde: Monika Seifert und Helke Sander, Quelle: bkp/Absiag Tüllmann/Helke Sander 7)Die ersten Kinderladengründungen in West-Berlin sind eng verknüpft mit der zweiten Welle der Frauenbewegung und dem „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“: Während die „im akademischem Milieu verankerte“ Kinderschule von Monika Seifert sich als „psychoanalytisch fundierte Alternative zur traditionellen Kindergartenerziehung“ (Sander/Wille 2008, Sp. 662) verstand, ging im Unterschied dazu das Berliner Konzept „von der Situation der Frau aus. Zunächst als Selbsthilfe unter Frauen gedacht, um sich gegenseitig zu entlasten“ (ebd.). Erst im zweiten Schritt sollte die „öffentlicher Erziehung“ einer Veränderung unterzogen werden. Anfang Januar 1968 wurde ein Flugblatt zur „Kinderfrage“ verteilt und zugleich zu einer Kundgebung an der Freien Universität eingeladen. Den Flyer hatten die feministische Filmstudentin Helke Sander (8), die Journalistin und spätere RAF-Terroristin Marianne Herzog (9) sowie Dorothea Ridder (10), Mitbegründerin der berühmt berüchtigten Kommune 1 und Unterstützerin der RAF, verfasst. Im gleichen Monat gründete sich der schon genannte „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ (11), bestehend aus sieben Frauen des SDS. Anfänglich war geplant, dass die antiautoritären Einrichtungen „Kinderläden des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“ heißen sollten, „in ‚Psychodiskussionen‘ habe sich dann jedoch der Begriff ‚antiautoritäre Kinderläden‘ durchgesetzt“ (Baader 2008, S. 23). Helke Sander, die Hauptinitiatorin der West-Berliner Kinderladenbewegung, schreibt dazu 40 Jahre später auf ihrer Homepage:

„Auf diesem Treffen im Januar 1968, zu dem ca. hundert Frauen und ein paar Männer kamen, wurden die ersten fünf Kinderläden gegründet. Die Initiatorinnen fragten: Wer wohnt in Kreuzberg, Charlottenburg, Neukölln usw.? Mehrere Hände hoben sich, die ersten fünf Gruppen bildeten sich. Nach ca. drei Wochen war der erste Laden bezugsfertig. Schon beim zweiten Treffen eine Woche später im grössten Raum vom Republikanischen Club kamen mehr Frauen, die sich an diesem Abend den Namen ‚Aktionsrat zur Vorbereitung der Befreiung der Frauen‘ gaben. Die „Vorbereitung” wurde schon nach dem dritten oder vierten Treffen fallen gelassen und es hiess nur noch ‚Aktionsrat zur Befreiung der Frauen‘ oder ‚Aktionsrat‘“ (s.a. hier).

Zirka sechs Monate später nach Gründung des Aktionsrats formierte sich am 10. August 1968 unter überwiegend männlicher Ägide der „Zentralrat der sozialistischen Kinderläden West-Berlin“. Dieser verfolgte verstärkt eine proletarische Erziehung und bemühte sich, die Kinderläden in „Arbeiterviertel zu verlegen. Bekannt wurde vor allem das Rote Kollektiv Proletarische Erziehung (Rotkohl) mit dem Arbeiterkinderclub Rote Panther“ (Reinhardt 2014, S. 730).

Helke Sander hielt als Mitglied des „Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“ auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS, September 1968 in Frankfurt/Main, einen Vortrag (12), in dem sie die vorhandenen Geschlechterverhältnisse sowie Geschlechterarbeitsteilung, als auch das vorherrschende Betreuungssystem von Kleinkindern, welches letztens auf Kosten weiblicher Bildungsbeteiligung und der Emanzipation der Frauen geht, einer scharfsinnigen Kritik unterzog (vgl. Heider 2014, S. 94 ff.):

„wir konzentrierten unsere arbeit auf die frauen mit kindern, weil sie am schlechtesten dran sind. frauen mit kindern können über sich erst wieder nachdenken, wenn die kinder sie nicht dauernd an die versagungen der gesellschaft erinnern. da die politischen frauen ein interesse daran haben, ihre kinder eben nicht mehr nach dem leistungsprinzip zu erziehen, war die konsequenz die, daß wir den anspruch der gesellschaft, daß die frau die kinder zu erziehen hat, zum ersten mal ernst nehmen. und zwar in dem sinne, daß wir uns weigern, unsere kinder weiterhin nach den prinzipien des konkurrenzkampfes und leistungsprinzips zu erziehen, von denen wir wissen, daß auf ihrer erhaltung die voraussetzung zum bestehen des kapitalistischen systems überhaupt beruht. wir wollen versuchen, schon innerhalb der bestehenden gesellschaft modelle einer utopischen gesellschaft zu entwickeln. In dieser gegengesellschaft müssen aber unsere eigenen bedürfnisse endlich einen platz finden. so ist die konzentration auf die erziehung nicht ein alibi für die verdrängte eigene emanzipation, sondern die voraussetzung dafür, die eigenen konflikte produktiv zu lösen. die hauptaufgabe besteht darin, daß unsre kinder nicht auf inseln fernab jeglicher gesellschaftlichen realität gedrängt werden, sondern darin, den kindern durch unterstützung ihrer eigenen emanzipatorischen bemühungen die kraft zum widerstand zu geben, damit sie ihre eigenen konflikte mit der realität zugunsten einer zu verändernden realität lösen können“ (zit. n. o. V. 1970, S. 60).

Eine weitere Initialzündung ging von dem vom SDS und der „Brüsseler Konferenz“ organisierten Internationalen Vietnamkongress aus, welcher am 17. und 18. Februar 1968 im Audi-Max der Berliner TU stattfand, den die autoritäre linke Kinderladenbewegung für sich „als Geburtsstunde der Kinderläden“ (ebd., S. 33) reklamiert (13). Am Rande der Veranstaltung spielten im „Garderobenraum der TU etwa 40 APO-Kinder. Die Frauen des Aktionsrates waren es müde gewesen, Zaungäste zu bleiben. Sie organisierten während des Kongresses und der Demonstration einen Kindergarten, in dem Eltern und freiwillige Helfer abwechselnd die Aufsicht übernahmen, so daß alle, die sonst wegen der Kinder zu Hause bleiben mußten, am Kongreß teilnehmen konnten. Die Kinder, die sonst ängstlich und vereinzelt im Gedränge herumgeschubst worden waren, erlebten so einen Teil der Begeisterung mit, die die Erwachsenen ergriffen hatte. Aus Stöcken und Stoffetzen machten sie sich Fahnen und spielten auf ihre Weise Demonstration. Zum erstenmal machten die Eltern und besonders die Mütter die Erfahrung, daß ihre Familienprobleme nicht privat bleiben mußten. Mit diesem ersten öffentlichen Auftreten des Aktionsrats deutete sich die Möglichkeit einer kollektiven Lösung an“ (ebd., S. 33 f). Aus den Zeilen wird ersichtlich, dass das Problem der Unterbringung der Kinder und ihre Erziehung als politische Angelegenheit in seiner Bedeutung für die Emanzipation der Frau gesehen wurde. Bei den Kinderladen-Müttern (Eltern) war das Bedürfnis groß, aus der Isolation der Kleinfamilie auszubrechen. Ein vom „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ herausgegebenes Flugblatt, das in der Freien Universität an Studentinnen verteilt wurde, begründete seine politisch motivierten Vorstellungen dazu wie folgt:

„Die Repressivität der Gesamtgesellschaft entlädt sich nach wie vor auf die Frau, die ihrerseits die von der übrigen Gesellschaft empfangene Aggressivität an die Kinder weitergibt. Aus Zeitmangel ist die Frau nicht in der Lage, über ihre Situation nachzudenken und daraus Konsequenzen zu ziehen. Selbst in Organisationen, die die Mitarbeit der Frauen wünschen, sind die Frauen nicht nur in der Minderzahl, ihre Teilnahme ist auch weniger produktiv als die der Männer... Es gibt ein akutes Bedürfnis nach einer Organisationsform, die den Müttern zu bestimmten Zeiten ihre Kinder abnimmt, um arbeiten zu können. Dieses Bedürfnis läßt sich vor allem aus zwei Gründen nicht befriedigen:

a) gibt es zu wenig Kindergärten
b) sind die Kindergärten, die es gibt, autoritär geleitet, so daß es für die Kinder schädlich wäre, sie in eine solche Anstalt zu schicken.
Daraus folgt: es müssen schnellstens Kindergärten gegründet werden“ (zit. n. ebd., S. 75 f).

Der erste West-Berliner Kinderladen wurde in einem leerstehenden ehemaligen Gemüseladen im Kiez Neukölln ins Leben gerufen (vgl. Michl/Birgmeier 2016, S. 245). Die Einrichtung war kapitalistischen Figuren „wie Frau Saubermann oder dem Weißen Riesen... verwehrt“ (Gebhardt 1969, S. 44). Diesem Kinderladen folgte bald ein weiterer in Schöneberg, der bewusst im Herbst 1969 ihr Domizil vom bürgerlichen Stadtteil in den Arbeiterbezirk Kreuzberg verlegte, denn eine politische Arbeit konnte erst fruchtbringend wirken, wenn es gelingt, große Zahlen von Arbeiterkindern zu mobilisieren und zu organisieren. Doch solch ein Unterfangen, welches die erforderliche Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess zugleich als Ziel formulierte, war von vornherein mit Schwierigkeiten behaftet, wie folgendes Zitat präzisiert:

„Die revolutionäre Arbeiterklasse galt als Voraussetzung für eine Verbesserung der Lage der Arbeiterkinder. Obwohl keinerlei revolutionäre Entwicklungen der Arbeiterklasse in Sicht waren, sollten die Kinder nicht bis zur Revolution vertröstet werden, denn schon die Teilnahme am Emanzipationskampf der Arbeiter befreie das proletarische Kind von der bürgerlichen Knechtsideologie, die Teilnahme am Klassenkampf öffne ihm die Augen für den wahren Charakter des Kapitalismus. Die Erziehung der Kinder müsse zu einem Prozess werden, der diesen Kampf unterstützt... Somit sollten die Kinder eine Art Vorreiter sein und nach dem Verlassen der sozialistischen Kinderläden in der Schule den ‚Schulkampf‘ mit der Errichtung von ‚roten Schulvorposten‘ aufnehmen“ (Michl/Birgmeier 2016, S. 249 f).

Noch 1968 hatte der Berliner „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ in Zusammenarbeit mit Kindergärtnerinnen beschlossen, einen Warnstreik vorzubereiten, der bessere Bedingungen in den öffentlichen Kindergärten West-Berlins durchzusetzen wollte. Am 10. Juni 1969 sollte die Demonstration von statten gehen, vorab wurden diverse Flugblätter verteilt, u.a. auf der 1. Mai Demonstration. Aber es kam anders, wie Helke Sander berichtet:

„Im Aktionsrat wurden diese Streikvorbereitungen hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt unterstützt, an diesem einen Tag zum erstenmal Frauenmacht öffentlich zu demonstrieren. Die Flugblätter wurden an die Frauen und die wenigen Väter vor den Kindertagesstätten verteilt und die meisten Eltern dieser Kinder erklärten sich bereit, den Streik zu unterstützen. Mit dem Streik sollte die Berliner Wirtschaft für einen Tag lahm gelegt und die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Frauen gerichtet werden. Die Eltern, besonders die Frauen, die in den Fabriken oder als Angestellte überhaupt nur Zugang zu Kindergärten hatten, würden an diesem 10. Juni 69 nicht zur Arbeit erscheinen. Diese Machtdemonstration der Frauen sollte uns ein Bewusstsein der eigenen Kraft und Stärke geben. Dieser Streik sollte ein Gegengewicht bilden zu der verbreiteten Ansicht, dass Frauen nicht alleine Politik machen und eigene Ziele formulieren können. Allerdings waren wir alle damals politisch unerfahren und aus Unwissenheit leicht zu manipulieren. Die Reaktionen der Eltern waren ungeheuer positiv und das Streikvorhaben sprach sich herum. Die Gewerkschaften ÖTV und Komba (Fachgewerkschaft für Beschäftigte der Kommunen; M. B.) schalteten sich ein, zunächst mit dem Versprechen, die Kindergärtnerinnen und ihren Streik zu unterstützen. Die Hilfe bestand in der Übernahme der schon geschaffenen Infrastruktur. Tatsächlich zerstörten diese Organisationen die ganze Aktion. Sie brachten die Kindergärtnerinnen dazu, sich zu spalten in solche, die Mitglieder der Gewerkschaften waren und solche, die es nicht waren. Sie verlegten den Streiktermin, der seit Monaten fest stand und schliesslich wurde nicht gemeinsam, wie ursprünglich geplant, sondern verteilt auf verschiedene Bezirke und ohne nennenswertes Presseecho hier und da gestreikt. Es war ein herber Rückschlag, sowohl für die Kindergärtnerinnen wie für den Aktionsrat. Dazu kam die Enttäuschung über die ‚eigenen‘ Leute. Die Frauen im Aktionsrat waren in der grossen Mehrheit links bzw. Teil der Studentenbewegung. Die Flugblätter für den Streik wurden verschiedenen Wortführern im SDS vorgelegt und sie wurden um Unterstützung gebeten. Sie wurden dort nicht einmal diskutiert, weil die männliche Linke vollkommen auf den männlichen Arbeiter fixiert war und keineswegs begriff, was sich bei den Frauen abspielte und anbahnte“ (http://www.helke-sander.de/2008/01/die-entstehung-der-kinderlaeden/)14).

Wenige Tage vor dem geplanten Kindergärtnerinnenstreik hatte die West-Berliner „Kommune 99“, die von ihrer Namensgeberin, Schriftstellerin und Aktivistin der Kinderladenbewegung Ute Erb (15) mitgegründet wurde, auf eigene Initiative zu einer Kinder-Demonstration aufgerufen. „93 APO-Zöglinge“ zogen mit ihren Eltern am 1. Juni 1969 durch die Straßen von Steglitz und forderten auf Transparenten: „‚Kinder aller Länder, vereinigt euch‘ und ‚Starfighter nein, Kindergärten ja‘“ (o. V. 1969, S. 85).
Flugblätter verkündeten:
* „‚Es gibt weder genug Kinderspielplätze noch genug schöne Kindergärten‘,
* ‚es gibt nicht genug gutbezahlte Kindergärtnerinnen‘,
* ‚Kinderspielzeug wird so hergestellt, daß es sofort kaputtgeht‘.
Und die Mamis klagten im Chor: ‚Mütter von zwei Kindern brauchen stärkere Nerven als Testpiloten‘“ (ebd.).

Entgegen aller Unkenrufe und Anfeindungen hatten die ersten (sozialistischen) Kinderläden, „eine starke gesellschaftliche Ausstrahlung... [Sie; M. B.] schossen nicht nur in Universitätsstädten wie Pilze aus dem Boden“ (Notz 2009, S. 198). Als im April 1969 in West-Berlin der SDS-Kongress tagte, „konnten bereits 30 deutsche Städte solche Einrichtungen vorweisen. Anfang 1970 listete die Zeitschrift vorgänge in ihrem Schwerpunktheft zum Thema ‚Antiautoritäre Erziehung / Kinderläden‘ insgesamt 38 Kinderläden in 15 Städten auf, wobei Berlin mit 13 Kinderläden, Hamburg mit fünf sowie München und Münster mit jeweils vier Kinderläden die regionalen Schwerpunkte bildeten“ (Reichhardt 2014, S. 732). In West-Berlin wuchs in den Jahren von 1970 bis 1974 die Zahl von 58 auf über 300 Kinderläden an (vgl. hier).

Auf Initiative von Grit und Georg Kiefer wurde am 9. Januar 1968 in Stuttgart der Verein „Aktion Vorschulerziehung e. V.“ ins Leben gerufen. Am Anfang waren die zu betreuenden Kinder in einem Dachstuhl in einem Fabrikgebäude untergebracht. Aber schon im Frühjahr 1969 mussten aus baupolizeilichen Gründen die Räume verlassen werden. In Wirklichkeit hatten die Nachbarn, denen das Treiben der Kinder und ihrer BetreuerInnen seltsam erschien, eine Anzeige erstattet. Schließlich wurde ein alter „Konsumladen“ frei: „Wir hatten unseren Kinderladen‘!“ (Kiefer 1970, S. 17). Das pädagogische Angebot beschränkte sich anfänglich auf Leselernspiele und didaktische Spiele für Drei- bis Fünfjährige. Den theoretischen Hintergrund bildeten die Veröffentlichungen des Münchener Psychologen Heinz-Rolf Lückert u.a. zur vorschulischen Frühlesebewegung. Dabei war das Hauptziel, „für Arbeiterkinder vor dem Eintritt in die Schule die Chancengleichheit zu erhöhen“ (ebd., S. 16). Ferner sollten das Sozialverhalten und die Solidaritätsfähigkeit der Kinder gefördert werden, da dies „notwendige Voraussetzungen für den zu leistenden Klassenkampf sind. Klassenkampf ist ein politisch-ökonomischer Begriff, dessen Zusammenhänge von Kindern noch nicht durchschaut werden können. Sie können aber durchaus Teilaspekte der in der kapitalistischen (imperialistischen) Gesellschaft bestehenden Abhängigkeiten (Autoritäten, Hierarchien, Konkurrenzverhalten, Unterdrückung) erleben, nachvollziehen, begreifen, und man kann ihnen deren ökonomische Bedingtheit in adäquater Form und Sprache vermitteln. (Beispiel: Wir gehen mit den Kindern auf verbotene Rasenflächen, weil wir und die Kinder es für richtig halten. Dabei erfahren sie und wir die Konfrontation mit Autoritäten)“ (Bott 1970, S. 20).

Die Kinderläden, egal ob in den bisher genannten Städten oder in Hamburg, München, Nürnberg, Göttingen usw., waren ein Im Vergleich mit öffentlichen Kindergärten relativ teures Unternehmen. Die angemieteten (Laden-)Räume mussten erst einmal renoviert werden, was einen erheblichen finanziellen (und auch zeitlichen) Aufwand bedeutete. Obwohl von den Eltern und den KinderladenbetreuerInnen viel in Eigenleistung erledigt wurde, stieß die Sache schnell an gewisse Grenzen:

„Daß man möglichst kostensparend vorging, versteht sich von selbst. Problematisch erwies sich die Arbeit dennoch für Studenten, die das Handwerk nur vom Zuschauen aus dem bürgerlichen Elternhaus kannten und nun selbst Hand anlegen wollten. Es wurden einige Genossen engagiert, die etwas mehr handwerkliche Erfahrung hatten“ (Breiteneicher/Mauff/Triebe 1971, S. 40).

So musste auch die Kinderschule von Monika Seifert ihren Betrieb einstellen, da das nötige Geld für dessen Sanierung fehlte, „und die Kräfte der Selbsthilfe nicht ausreichten, um die Sanierung selbst durchzuführen“ (Aden-Grossmann 2014, S. 138).

Im Laufe der Jahre wichen Entrüstung ebenso wie Enthusiasmus einer sich allerorts breitmachenden Ernüchterung. Die KinderladenaktivistInnen begannen um das Übliche zu kämpfen: Personalschlüssel/-kosten, ausreichend (Spiel-)Platz, hohe Mietkosten, bezahlte Vorbereitungszeit für pädagogische Diskussionen und Elternmitbestimmung. Hinzu kam die zunehmende politische Instrumentalisierung, so dass der Kinderladen immer mehr als „politisches Projekt“ (Kätzel 2001, S. 168) firmierte und „die ursprüngliche Idee, Frauen Zeit zu verschaffen, sich sogar in ihr Gegenteil“ (ebd.) verkehrte. Dabei war vor allem das Interesse der Männer „weit weniger auf die ‚praktische‘ Kinderarbeit als auf die politisch-strategische Bedeutung der Kinderladenbewegung gerichtet“ (Jansa 1997, S. 147). Aber auch ihr diskursiver Erfolg hatte über die Jahre hinweg, wie Paul Walter bereits 1986 in einem Abgesang auf die Kinderladenbewegung bemerkte, „eine Haltung begünstigt, sich auf den Lorbeeren der Vergangenheit auszuruhen. Die resignative Normalität des eigenen Tuns wird mit dem grandiosen Bewußtsein kaschiert, sich auf den richtigen, progressiven Pfad zu bewegen, ohne dafür noch etwas Besonderes leisten zu müssen. Auf diese Weise verkümmert die theoretische und argumentative Potenz, die einst die Kinderladenbewegung zum ernstgenommenen Widerpart der etablierten Pädagogik gemacht hat“ (Walter 1986, S. 25). Aber auch durch die verstärkte Radikalisierung der „Erziehung zum Klassenkampf“ ging der „zweitweise beachtlichen Einfluß“ der Kinderladenbewegung „auf die Vorschuldiskussion weitgehend verloren“ (Heiland/Klaßen 1974, S. 112). Kinderladenvater Jens Reißmann ist der Ansicht, dass Versuche der einzelnen Kinderläden eine beständige Zusammenarbeit zu organisieren, „zumeist sehr bald infolge Unverbindlichkeit, personeller Fluktuation und Desinteresse... scheiterten“ (Reißmann 1980, S., 36).

In der damaligen BRD (einschl. West-Berlin) entwickelt sich immer mehr eine Vielzahl neuer Erziehungskonzepte, „subsumiert unter dem Begriff ‚antiautoritäre Erziehung‘ – ein einheitliches Konzept, wie es schließlich mit dem Label DIE antiautoritäre Erziehung in der Gesellschaft (bis heute) popularisiert wurde, gab es nicht“ (Schmid 2011, S. 136 f). Es entstand eine Vielzahl von Mischformen und Ausprägungen an Erziehungspraktiken/-vorstellungen und Einrichtungen. Beispielsweise nannten sich einige Institutionen weiterhin Kindergarten und wählten für ihren Erziehungsstil das Wort „repressionsfrei“ (vgl. Ullner 1973, S, 11), „zwangsfrei“ (vgl. Baader 2008, S. 22) oder „unautoritär“ (vgl. Bott 1970, S. 21). Durch eine andere Wortwahl sollten eventuelle Unklarheiten über den Terminus antiautoritär, als auch jede Art der Politisierung ausgeklammert werden (vgl. Ullner 1973, S. 11). Für die pädagogische Profession wurde „von dem Begriff ‚antiautoritär‘ soviel übernommen, als wir verhindern möchten, daß sich die autoritären Verhaltensweisen zwischen die Beziehung vom Kind zum Erwachsenen stellen und sich in der kindlichen Charakterstruktur verändern“ (ebd.).
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Einige repressionsfreie Einrichtungen blieben bei der traditionellen Titulierung Kindergarten; Quelle: Ida-Seele-Archiv



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