Kulturelle Unterschiede in der Erziehung - Vertiefung

Seit einigen Jahren nehmen die Themen der frühkindlichen Bildung und Entwicklung, der Übergang zur Elternschaft und die Stärkung elterlicher Kompetenzen einen immer größeren Raum in der öffentlichen Debatte ein und auch die Politik nimmt sich zunehmend dieser Thematik an. Familienbildungsstätten und viele andere öffentliche Einrichtungen halten eine breite Palette an Kursangeboten für interessierte Mütter und Väter bereit, die alle dazu dienen sollen, die optimale Entwicklung des Kindes zu fördern.

Schaut man sich genauer an, was dabei eigentlich unter optimaler Entwicklung oder unter optimalem Elternverhalten verstanden wird, fällt auf, dass es sich dabei um ein sehr spezifisches Bild handelt. Beispielsweise liest man in den Broschüren der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: „Bei aller Abhängigkeit ist Ihr Baby schon eine eigene kleine Persönlichkeit mit eigenen Interessen. Wenn Sie Ihr Baby als Partner betrachten und ihm viel von sich und seiner neuen Welt mitteilen, werden Sie ein Team fürs Leben sein.“ (BZgA, 2009, S. 39). Oder an die Eltern gerichtet: „Bei allem, was Sie tun, ist eines ganz besonders wichtig: Achten Sie die Individualität und Eigenständigkeit Ihres Kindes!“ (BZgA, 2008, S. 18). In Aussagen wie diesen steckt ein ganz spezifisches Bild davon, was ein Baby ist – eine eigene kleine Persönlichkeit mit eigenen Interessen – und wie man sich ihm gegenüber am Besten verhalten sollte – Seien Sie ein Partner in einem Team fürs Leben! Achten Sie die Individualität und Eigenständigkeit Ihres Kindes! Einem ganz ähnlichen Gedanken folgen verschiedene Ansätze zur Förderung der Mutter-Kind-Interaktion (siehe z.B. „watch, wait and wonder“ von Cohen, Muir & Lojkasek, 2003).

Natürlich ist dieses Bild vom Kind nicht falsch und genauso wenig lehnen wir das beschriebene Elternverhalten generell als unangemessen ab. Worum es uns in diesem Kapitel geht, ist viel eher zu zeigen, dass es sich dabei nicht um universell gültige Aussagen handeln kann, sondern um eine ganz bestimmte, kulturspezifische Sichtweise, die sich in einem bestimmten soziokulturellen Kontext – der gebildeten städtischen Mittelklasse westlicher Gesellschaften – als adaptiv erwiesen hat. Daneben gibt es jedoch auch viele andere Vorstellungen davon, was ein Neugeborenes oder Kleinkind ausmacht, wozu es sich entwickelt, was der beste Umgang mit dem Kind ist, etc., die von dem oben gezeichneten Bild abweichen oder diesem sogar diametral gegenüberstehen.


1. Was verstehen wir unter Kultur?

Wir definieren soziokulturelle Kontexte als Lebenswelten mit bestimmten soziodemographischsoziodemographisch|||||Soziodemographische Daten werden häufig in Sozialforschungen erhoben. Der Begriff, der Bevölkerungsmerkmale beschreibt, umfasst häufig Kategorien wie: Geschlecht, Alter, Familienstand, Religion, Schulabschluss, Nationalität, Haushaltsgröße etc.en Charakteristika, in denen Menschen leben, die Werte, Normen und Einstellungen teilen und die sich ähnlich verhalten. Zwei grundlegende Themen, die in allen soziokulturellen Kontexten für das soziale Miteinander und insbesondere auch für die Erziehungsvorstellungen von Eltern eine große Rolle spielen sind dabei Autonomie und Verbundenheit.

Verhalten und Erleben, das durch Autonomie gekennzeichnet ist, zeichnet sich durch das Primat des Individuellen aus. Allgemein ist damit die Selbständigkeit des Individuums in Bezug auf zentrale psychische Prozesse wie Emotion, Willensbildung, Motivation und Kognition gemeint. Dem unabhängigen und eigenständigen Funktionieren wird zentrale Bedeutung zugeschrieben: es ist zentral, sich selbst und seine Gedanken und Gefühle zu erleben, sich selbständig seine Meinung zu bilden, Urteile zu fällen und Entscheidungen zu treffen. Verhalten und Erleben, das sich an dem kulturellen Modell der Verbundenheit orientiert, ist stark an normativnormativ|||||Normativ  bedeutet normgebend, somit wird etwas vorgeschrieben, dass Normen, Regeln oder ein „Sollen“ beinhaltet.en Rollenmodellen und den daran geknüpften Erwartungen, Verantwortlichkeiten und Rechten orientiert. Die Entwicklung und Pflege von Beziehungen stehen im Vordergrund und das Verfolgen gemeinsamer Ziele ist handlungsleitend.

Aber wie entscheidet sich nun, ob in einem spezifischen soziostrukturellen Kontext eher autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.e oder relationale Organisationsprinzipien greifen? Mit ihrem Konzept der Entwicklungspfade beschreibt Keller (2007), wie die normative Orientierung innerhalb eines soziokulturellen Kontexts als Anpassungsleistung an bestehende Umwelt- und Kontextbedingungen erklärt werden kann. Dabei ist der Grundgedanke, dass verschiedene makrostrukturelle Kontextbedingungen wie die Ökologie oder Ökonomie Einfluss auf die Sozialstruktur nehmen. Diese Einflüsse prägen entscheidend die Familienstruktur und damit den Alltag der Familie und der dort aufwachsenden Kinder mit. Von einem evolutionstheoretischen Standpunkt aus argumentiert Keller, dass von den beiden Organisationsprinzipien, die universell angelegt sind, jenes greift, welches es den Menschen erlaubt, sich möglichst kompetent innerhalb des gegebenen Kontexts zu verhalten. Dabei haben das Niveau der formalen Bildung, das Alter bei der Geburt des ersten Kindes und die Anzahl der Nachkommen bzw. die Anzahl der Kinder einen nachweislichen Einfluss darauf, durch welche kulturelle Brille Menschen ihre Welt sehen (Keller, 2007).

Für dieses Kapitel haben wir das Mittel des Kontrasts gewählt und wollen in einem ersten Schritt Prototypen einander gegenüberstellen, und zwar den Prototyp der psychischen Autonomie und den der relationalen Anpassung.Wir beschreiben die jeweiligen Lebenswelten und die dazugehörigen Vorstellungen über das Wesen des Kindes, die Aufgaben der Eltern und Ideen über den optimalen Entwicklungsverlauf. In einem zweiten Schritt wollen wir diese Gegenüberstellung, die nicht als Dichotomisierung missverstanden werden darf, relativieren - denn neben diesen beiden Prototypen gibt es eine Vielzahl von kulturellen Modellen, die Aspekte von beiden Prototypen vereinen.

Eine zentrale Annahme in unserem Modell ist, dass es wenig Sinn macht oder sogar irreführend ist, Kultur mit Herkunftsland, Religion oder ethnischer Gruppe gleichzusetzen. Viel eher wird das soziokulturelle Modell von Menschen und insbesondere die Bedeutung von Autonomie und Relationalität durch spezifische Kontextbedingungen, insbesondere dem sozioökonomischen Status, dem Bildungsgrad und der Familienform geprägt. Es ist zudem wichtig, im Auge zu behalten, dass kulturelle Modelle nicht statisch sind, sondern sich unter bestimmten Bedingungen mit sich ändernden Kontextbedingungen – beispielsweise bei Migration oder in bikulturellen Familien – auch verändern.


2. Soziodemographische Kontexte und kulturelle Modelle

Der Terminus der westlichen Mittelschichtfamilie, der bisher verwendet wurde, steht also für einen ganz spezifischen, prototypischen soziokulturellen Kontext: Vater und Mutter sind relativ hoch gebildet und das Leben spielt sich in einem ökonomisch gesicherten Rahmen ab. Die Mutter bekommt ihr erstes Kind nach der Berufsausbildung oder dem Studium und zumeist nach einigen Jahren der Berufstätigkeit. Später bekommt die Kleinfamilie möglicherweise noch ein zweites Kind, selten mehr. Die Erziehung der Kinder ist die Privatangelegenheit der Eltern. Niemand hat das Recht sich einzumischen, auch nicht die eigenen Eltern. Das Elternverhalten wird ernsthaft reflektiert und erfolgt unter quasi-wissenschaftlicher Begleitung in Form von Ratgebern.

Ein völlig entgegengesetzter, prototypisch relationaler soziokultureller Kontext sieht zum Beispiel so aus: Eine Bäuerin in einer entlegenen, ländlichen Region heiratet mit 17 oder 18 Jahren und lebt dann in der Großfamilie ihres Mannes. Sie hat die auf den Dörfern obligatorische Schulzeit von 7 Jahren absolviert. Es ist ihre Pflicht, möglichst schnell Kinder zu bekommen, die als helfende Hände in der Familie gebraucht werden. Mit jedem Kind, besonders auch mit Söhnen, gewinnt sie an Ansehen und Status. Alle Generationen sind an den alltäglichen Abläufen beteiligt und führen diese zusammen aus. Kinder aller Altersgruppen sind selbstverständlicher Teil dieses Alltaghandelns und immer mit dabei. Die Erziehung der Kinder ist öffentlich, d. h. nicht nur die Familie betreut ihre Kinder, sondern das ganze Dorf wacht über die physische Gesundheit und die moralischen Werte, die die kulturelle Identität ausmachen.

Die Mütter in diesen beiden Szenarien verfolgen sehr unterschiedliche Erziehungsziele und auch ihr Elternverhalten unterscheidet sich grundlegend. In unserem ökokulturellen Entwicklungsmodell systematisieren wir diese Unterschiede und differenzieren dabei verschiedene Ebenen, die zunehmend weniger abstrakt und verhaltensnah werden (Abbildung 1). Die abstrakteste Ebene bilden Sozialisationsziele, also Vorstellungen davon, in welche Richtung sich das eigene Kind entwickeln sollte. Wie wichtig sind Respekt und Gehorsam? Wie wichtig ist die Selbstverwirklichung des Kindes? Diese Sozialisationsziele sind zentral für die parentalen Ethnotheorien, also elterlichen Vorstellungen darüber, wie man mit einem Kind umgehen sollte bzw. was eine gute Mutter ausmacht usw. Soll man auf jedes Schreien reagieren? Sollte man bzw. wann sollte man ein Baby früh daran gewöhnen, alleine zu schlafen? Welche Verhaltensweisen soll man aktiv fördern oder unterbinden? Diese Ethnotheorien können als motivationale Grundlage des Verhaltens im Umgang mit dem Kind verstanden werden. Sie sind zum Teil bewusst abrufbare Skripts. Sie haben aber auch, wie das gesamte Paket der Sozialisationsstrategien, viele nicht-bewusste, intuitive Anteile.

Abbildung 1: ökokulturelles Entwicklungsmodell


3. Konsequenzen für die Erziehung

3.1. Seien Sie ein Partner in einem Team fürs Leben! Achten Sie die Individualität und Eigenständigkeit Ihres Kindes!

Die westliche Mittelschichtfamilie verkörpert den Prototypen der psychologischen Autonomie. Die distale Sozialisationsstrategie, die für diesen Kontext typisch ist, stellt das Baby ins Zentrum. Beschäftigt sich die Mutter oder eine andere zentrale Bezugsperson mit dem Kind, versucht sie, ihre volle Aufmerksamkeit auf das Kind zu konzentrieren. Das sieht typischerweise so aus, dass die beiden alleine sind, wechselseitiger Blickkontakt hergestellt wird, während das Kind auf dem Rücken liegt. Dabei werden häufig Spielzeuge in die Unterhaltung mit einbezogen. In der Interaktion greift die Mutter jede „Äußerung“ des Kindes auf, imitiert Gesichtsausdruck und stimmliche Laute. Das Baby wird als quasi-gleicher Partner behandelt und die Mutter gibt ihm Raum für eigene Äußerungen. Die Sprache spielt schon hier eine wichtige Rolle. Während dieser frühen Proto-Konversationen wird dem Baby gespiegelt, dass es einzigartig ist, es wird viel gelobt und in seinen Verhaltensäußerungen bestärkt. Die Bezugspersonen führen mentalistische Diskurse mit dem Baby, indem sie auf innere Zustände („Bist Du müde?“), auf Wünsche („Willst Du mit mir spielen?“), auf Präferenzen („Willst Du lieber die rote oder die gelbe Mütze?“) der Babys eingehen. Bezogen auf Erziehungsvorstellungen und optimales Elternverhalten handelt es sich also um einen kindzentrierten Ansatz, mit dem insgesamt das Ziel verfolgt wird, Individualität und deren Ausdruck zu vermitteln und zu unterstützen (vgl. dazu Keller, 2008).

 

3.2. Sie sind der Experte: Vermitteln Sie Ihrem Kind was richtig ist und wie es sich zu verhalten hat!

Die ländliche Bäuerin verkörpert dem Prototypen der relationalen Anpassung. Sozialisation zum relationalen Selbst informiert das Kind primär über seine soziale Identität und seine Rolle in der Gemeinschaft. Eltern trainieren und kontrollieren ihre Kinder, damit sie Gehorsam und Respekt vor Älteren als oberste Verhaltensmaxime verinnerlichen.

Die proximale Sozialisationsstrategie, die für diesen Kontext typisch ist, ist erwachsenenzentriert (Keller, 2007). Meistens ist die Mutter mit mehreren Sachen gleichzeitig beschäftigt, daher sind von Geburt an geteilte Aufmerksamkeitsmuster und viele Interaktionspartner die Norm. Das Kind hat viele enge Bezugspersonen, oft ältere Geschwister, Tanten und Nachbarn. In der Interaktion mit dem Kind dominieren Körperkontakt und Körperstimulation. Häufig synchronisieren die Mutter diese oft rhythmischen Interaktionsmuster mit ihren sprachlichen Äußerungen. Diese Synchronisierung motorischer und vokaler Stimulation unterstützt die Entwicklung der Wahrnehmung von sich selbst als Teil eines sozialen Systems. Während in der distalen Strategie die Eigenständigkeit der individuellen Persönlichkeit im Vordergrund steht, ist hier die Anpassung und Eingliederung in das soziale System zentral.

Die gute Mutter weiß, was das Beste für ihr Baby ist und tut es. Wir haben diese Konzeption elterlichen Verhaltens als responsive Kontrolle bezeichnet (Yovsi, Kärtner, Keller & Lohaus, 2009). Diese Konzeption basiert in der Hierarchie zwischen Mutter und Kind, die als Expertin-Novize-Beziehung beschreibbar ist. Eine gute Mutter muss nicht die Signale des Babys explorieren, um herauszufinden, was angemessenes elterliches Verhalten ist, sondern sie weiß, was getan werden muss, um das Wachstum und die Entwicklung des Kindes zu fördern.

An dieser Stelle ist es wichtig, festzuhalten, dass beide Systeme gleichwertig sind, da sie Anpassungsstrategien an sehr verschiedene Umwelten darstellen. Es ist unmöglich, universelle Kriterien für das optimale Erziehungsverhalten und den optimalen Entwicklungsverlauf zu formulieren, sondern qualitative Unterschiede müssen innerhalb jeder Strategie definiert werden.

 

3.3. Die große Bandbreite autonom-relationaler kultureller Modelle

Wie schon eingangs beschrieben, stellen diese beiden Szenarien Prototypen dar, also sehr unterschiedliche Lebensformen, die extrem unterschiedlich sind und in vielen Punkten unvereinbar erscheinen. Schaut man sich jedoch die Bevölkerung in vielen Ländern an, entsprechen viele Familien keinem dieser Prototypen. Befragt man diese Eltern zu ihren Erziehungsvorstellungen oder beobachtet man ihr Elternverhalten, handelt es sich eher um ein Nebeneinander einzelner Facetten von Autonomie und Bezogenheit.

Familien, die sich von der typischen westlichen Mittelschichtfamiliezum Beispiel dadurch unterscheiden, dass die Eltern über einen geringen Grad an formaler Bildung verfügen, dass sie einen niedrigen sozioökonomischen Status haben oder dass sie in einem stark ländlich geprägten Umfeld leben, sollten relationale Aspekte stärker leben (z.B. Großfamilie) und betonen (z.B. Respekt) als die gebildete, urbane, westliche Mittelschichtsfamilie. Das Beispiel, das wir hier kurz aufgreifen wollen, sind gebildete Familien der Mittelschicht, die in Großstädten nicht-westlicher Länder wohnen. Auch hier ist der Fall, dass das kulturelle Modell dieser Familien dem autonom-relationalen Muster, also einem Nebeneinander von autonomen und relationalen Einflüssen, folgt. Die dominante Lebensform ist in der Regel immer noch die Großfamilie, so dass das Thema der Verbundenheit eine wichtige Rolle spielt. Aufgrund des hohen Bildungsgrades und der Struktur der Arbeitswelt, gewinnt das Thema der Autonomie auch für die Kindererziehung an Bedeutung. Wir wollen das hier beispielhaft an den dominanten Sozialisationszielen in diesen verschieden soziokulturellen Kontexten veranschaulichen.

In einer unserer Studien haben wir insgesamt 270 Mütter 1½-jähriger Kinder aus vier sehr unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten gebeten, verschiedene Sozialisationsziele nach ihrer Wichtigkeit in eine Rangreihe zu bringen (Kärtner, under review). Den Osnabrücker Müttern, die dem Prototypen der psychologischen Autonomie entsprachen, war es am wichtigsten, dass ihre Kinder ihre Talente und Interesse entwickeln und lernen, ihre Vorstellungen klar auszudrücken (Abbildung 2). Am wenigsten wichtig war es diesen Müttern, dass ihre Kinder das tun, was die Eltern sagen und dass sie ältere Menschen respektieren. Daneben haben wir Mütter befragt, deren Familien dem Prototypen der relationalen Adaptivität entsprachen: subsistenzwirtschaftlich organisierte Großfamilien mit einem sehr geringen Grad formaler Schulbildung im ländlichen Indien (Umland von Delhi) und im Nordwesten Kameruns (ethnische Gruppe der Nso). Schaut man sich nun die Befunde an, sieht man, dass das Muster kippt: relationale Sozialisationsziele werden klar bevorzugt, allen voran Respekt und Gehorsam, wohingegen autonome Sozialisationsziele eher abgelehnt werden. Interessant ist das Ergebnis für die Gruppe autonom-relationaler Familien: Familien der gebildeten Mittelschicht aus Delhi. Sie bewegen sich durchgehend zwischen den anderen Gruppen und nehmen eine klare Mittelstellung ein.

Abbildung 2: Die Wichtigkeit autonomer (links) und relationaler (rechts) Sozialisationsziele in verschieden soziokulturellen Kontexten

 

Interessant ist an diesen Befunden auch, dass sich die ländlichen indischen Mütter viel stärker von den Müttern aus Delhi als von den ländlichen Nso unterscheiden, obwohl sie mit den Müttern aus Delhi Religion und Nationalität gemein haben. Insofern liefern auch diese Befunde einen klaren Beleg dafür, dass es eher soziodemographische Faktoren (Bildungsgrad, SÖS, Familienform und Kinderzahl) und nicht Nation oder Religion sind, die das kulturelle Modell der Familien beeinflussen.


4. Gefahren des normativen Blicks

Da jedes System normative Vorstellungen darüber enthält, was richtig oder falsch ist, haben Menschen die Neigung, das, was ihnen unvertraut ist und von ihrem Schema abweicht, als nicht normal und unrichtig abzulehnen. Ein Blick durch die eigene kulturelle Brille birgt also die Gefahr der normativen Bewertungsmaßstäbe: Das Verhalten von anderen Kindern wird nach Kriterien bewertet, die möglicherweise nicht denen der Eltern entsprechen. Als Folge davon kommt man gegebenenfalls zu einer defizitären Interpretation von Verhaltensmustern, im schlimmsten Falle zu einer PathologisierungPathologisierung|||||Pathologisierung beinhaltelt die Deutung von Verhaltensweisen, Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken, sozialen Verhältnissen oder zwischenmenschlichen Beziehungen als etwas Krankhaftes und somit Unerwünschtes. Im herrschenden Verständnis unterliegen solche Zustände oder Prozesse Veränderungen; findet eine Pathologisierung statt wird dies nicht als solche zur Sprache gebracht, sondern als medizinische Festellung behauptet.    von alternativen Sichtweisen.

Eine solche einseitige Ausrichtung an einem spezifischen kulturellen Modell kann negative Folgen für den Alltag in Krippe, KiTa und Kindergarten haben. Es kann bedeuten, dass Kinder auf Ziele hin erzogen werden, die den Eltern egal sind oder die sie im Extremfall sogar ablehnen. Außerdem würden Kinder, die zuhause mit einem anderen kulturellen Modell aufwachsen möglicherweise systematisch benachteiligt, zum Beispiel durch normorientierte Spielangebote und unpassende Interaktionsmuster der Erzieherinnen. In der Summe besteht also die Gefahr, dass Familien, die ein anderes kulturelles Modell als das in einer Gesellschaft dominierende favorisieren, sich systematisch von Angeboten außerfamiliärer Betreuung zurückziehen bzw. systematisch ausgegrenzt werden.

Konflikte entstehen da, wo kulturelle Modelle der Menschen nicht im Einklang mit der Lebenswirklichkeit stehen. Das trifft beispielsweise häufig auf Menschen mit Migrationshintergrund zu. Sie werden im öffentlichen Leben häufig mit kulturellen Modellen konfrontiert, die in substanzieller Opposition zu den eigenen Vorstellungen stehen. Die überwiegende Mehrzahl der türkischen Migranten in Deutschland kommt z. B. aus traditionellen dörflichen Strukturen, in denen relationale Sozialisationsstrategien vorherrschen. Durch die Migration nach Deutschland geraten sie in eine Lebenswelt, die eine forcierte Betonung von Autonomie als gesellschaftliches und politisches Programm vertritt. Das einzigartige und selbstbestimmte Individuum ist die soziale Norm beim Kinderarzt ebenso wie in der Kita und der Schule. Diese unaufgelöste Konfrontation ist für beide Seiten in hohem Maße konfliktbeladen – dieses umso mehr, als die normativen Standards des einen kulturellen Modells pathologische Varianten des anderen darstellen können.


5. Wohin geht die Reise?

Um Familien zu motivieren, an Bildungs- und Förderprogrammen teilzunehmen und die Teilnahme langfristig zu sichern, ist es notwendig, auch andere kulturelle Modelle und Praktiken ins Bewusstsein zu heben. Das in den USA entwickelte „Bridging Cultures“-Programm (Greenfield, Trumbull & Rothstein-Fisch, 2003) ist hier beispielhaft. In einem mehrstufigen System werden zunächst Informationen über kulturelle Modelle vermittelt. Auf einer nächsten Ebene werden konkrete Verhaltensweisen im Kindergarten- und Schulalltag auf die zugrunde liegenden kulturellen Modelle hin analysiert, um so das unsichtbare Selbstverständliche, als das Kultur definiert werden kann, deutlich zu machen.

Die Forderungen, die sich daraus für den institutionellen Alltag in Krippe, KiTa, Kindergärten und Beratungsstellen ergeben, sind eine ressourcenorientierter Vorgehensweise und eine zielgruppenorientierte Umsetzung pädagogischen, erzieherischen und therapeutischen Handelns (Borke & Eickhorst, 2008). Durch die stärkere Berücksichtigung von Erkenntnissen über kulturspezifische Entwicklungspfade könnte es gelingen, Kinder optimal – und das heißt auch auf unterschiedliche Art und Weise – zu fördern. Eine stärkere Berücksichtigung von Erkenntnissen über kulturelle Modelle könnte außerdem dazu beitragen, das gegenseitige Verständnis und die Kooperation zwischen Institution und Elternhaus zu verbessern. Begreift man DiversitätDiversität|||||siehe Diversity als Ressource und nicht als Bedrohung, könnte es im Rahmen kultursensitiver Konzepte für den institutionellen Alltag in Krippe, KiTa, Kindergarten und Beratungsstelle gelingen, Handlungsspielräume zu gestalten, die den Bedürfnissen aller gerecht werden und sich nicht nur an den normativen Vorstellungen des dominanten kulturellen Modells orientieren.

 

Der Beitrag ist zuerst erschienen in:

Transkulturelle Kompetenz in klinischen und sozialen Arbeitsfeldern. Hrsg. von Eva van Keuk, Cinur Ghaderi, Ljiljana Joksimovic, Dagmar M. David. Verlag Kohlhammer 2010, 350 S.


6. Weiterführende Literaturhinweise

Borke, J. & Eickhorst, A. (Hrsg.) (2008). Systemische Entwicklungsberatung in der frühen Kindheit. Wien: Facultas/UTB.

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2008). Unsere Kinder.

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2009). Das Baby.

Cohen, N., Muir, E. & Lojkasek, M. (2003). Watch, wait and wonder. Kinderanalyse, 11(1), 58-79.

Greenfield, P., Trumbull, E., & Rothstein-Fisch, C. (2003). Bridging cultures. Cross-cultural Psychological Bulletin, 37(1-2), 6-16.

Kärtner, J., Keller, H., & Yovsi, R. (under review). Sociocultural influences on the development of mirror self-recognition.

Keller, H. (2007). Cultures of infancy. Mahwah, NJ: Erlbaum.

Keller, H. (2008). Culture and biology: The foundation of pathways of development.

Social and Personality Psychology Compass, 2(2), 668-681.

Yovsi, R., Kärtner, J., Keller, H., & Lohaus, A. (2009). Maternal interactional quality in two cultural environments: German middle class and Cameroonian rural mothers. Journal of Cross-Cultural Psychology, 40(4), 701-707.


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