„Wesentlich ist der Blick auf das Kind und nicht der auf die Uhr“

Interview zum Thema Schlafen in der KiTa

Fragen von Prof. Dr. Jörg Maywald an Dr. rer. nat. Dipl. Biol. Joachim Bensel und Dr. rer. nat. habil. Gabriele Haug-Schnabel, Inhaber der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM) in Kandern bei Freiburg

  • Warum benötigen Kinder wie auch Erwachsene für ihre Gesundheit und für ihr Wohlgefühl regelmäßigen Schlaf?

Ausreichender Schlaf ist ein potenter Schutzfaktor. Im geruhsamen Schlaf laden sich die Körper-Akkus wieder auf. Er stärkt die Abwehrkräfte, erlaubt konzentriertes Denken und Handeln, verbessert Gedächtnis- und Lernleistungen, da er sowohl die Speicherung wie das Wiederaufrufen von gemachten Erfahrungen erleichtert.

  • Die Schlafdauer und die über den Tag verteilten Schlafens- und Wachzeiten sind von Kind zu Kind – selbst aus derselben Familie – verschieden. Sind diese individuellen Eigenschaften genetisch vorgegeben und inwieweit können sie beeinflusst und verändert werden?

Haug BenselBeim Menschen gibt es, ähnlich wie in der Tierwelt, verschiedene Chronotypen. Die sogenannten „Lerchen“ sind frühaktiv und werden am Abend rasch müde. „Eulen“ dagegen gehen erst spät ins Bett und kommen am nächsten Tag nur schwer aus den Federn. Bei Eulen tickt die innere Uhr deutlich langsamer als normal, bei Lerchen dagegen läuft sie zu schnell. 60 Prozent der Menschen gehören allerdings zu einem Normaltypus, der zwischen beiden Extremen liegt. Der Unterschied ist genetisch determiniert, die Chronotypen sind also angeboren und nicht umprogrammierbar.
Allerdings entwickeln sie sich vollumfänglich erst mit dem 20. Lebensjahr und junge Kinder sind erheblich häufiger Lerchen als Erwachsene. Dagegen sind Teenager gehäuft Eulen. Genetische Einflüsse wie auch beachtliche individuelle Unterschiede bezüglich des kindlichen Schlafbedarfs können Familien und Einrichtungen vor Herausforderungen stellen, die nur mit Blick auf dieses Mädchen, diesen Jungen beantwortet werden können. Immer sollte eine Lösung gefunden werden, die von den betroffenen Kindern als Entspannung empfunden werden kann.

  • Wenn jedes Kind ein individuelles Schlafverhalten zeigt, erfordert dies eine auf das einzelne Kind bezogene differenzierte Wahrnehmung. Woran können pädagogische Fachkräfte erkennen, dass ein Kind müde ist und Ruhe oder Schlaf braucht?

Wesentlich ist der Blick auf das Kind und nicht der auf die Uhr! Motorische Unruhe, Spielunlust, vermehrte Konflikte, abnehmende Frustrationstoleranz und Stürze sind klare Anzeichen, dass e in Kind momentan von der Gruppensituation überfordert ist und individuell zugewandte Regulationshilfe braucht: Körperkontakt, beruhigende Bewegungen, Sicherung eines geschützten Rückzugsplatzes oder ein vorgezogenes Schläfchen.

  • Worin unterscheiden sich Ruhezeiten von Schlafzeiten und welche Bedeutung kommt ihnen jeweils zu?

Eine wichtige Differenzierung, die zu viele Einrichtungen nicht mehr machen und zu viele Sachzwänge als dafür verantwortlich nennen. Ruhezeit bedeutet, sich im Wachzustand an einem bewusst gestalteten Rückzugsplatz eine Aktivitätsauszeit zu gönnen – maximal zu zweit – mit einem Auto, einem Tier, einem Buch, einem Schmusetuch... Einschlafen ist natürlich erlaubt. Schlafzeiten bieten primär die Möglichkeit zu schlafen, in bequemer Kleidung, in einem leicht abgedunkelten Raum, immer mit der Möglichkeit, in den Ruhebereich zu wechseln. Je individueller und je weniger gruppenbezogen die Abläufe sind, je mehr fließende Übergänge möglich sind, desto gerechter kann man dem einzelnen Kind am heutigen Tag werden. Und der Fachkraft-Kind-Schlüssel muss stimmen, auch über Mittag!

  • Viele Eltern klagen darüber, dass ihr Kind nicht gut schläft. Kann wirklich jedes Kind schlafen lernen oder müssen sich Eltern mit kindlichen Ein- und Durchschlafproblemen abfinden, sich so gut es geht darauf einstellen?

Schlaf ist eine höchst individuelle und irritable Angelegenheit! Der typische circadiane Schlaf-Wach-Rhythmus des Erwachsenen mit einer langen Wach- und einer langen Schlafphase muss sich erst im Laufe der ersten Lebensjahre etablieren. Zahlreiche Unterbrechungen der Nachtschlafphase zur Vergewisserung der elterlichen Anwesenheit und zur Nahrungsaufnahme gehören zu einer normalen Entwicklung dazu, werden aber in unserer westlichen Kultur oft wenig toleriert. Weltweit unterscheiden sich familiäre Schlafgewohnheiten und Schlaforte. Das eigene Zimmer und das damit verbundene Alleinschlafen sind menschheitsgeschichtlich extrem „jung“ und über die Kulturen hinweg extrem selten. Ohne ein runterregulierendes Abendritual in Geborgenheit ist der Einstieg schwierig. Ein eigenes Bett im eigenen Kinderzimmer zu haben, wird für viele Kinder erst im Grundschulalter zum Genuss!

  • Ein häufig anzutreffender Konflikt entsteht, wenn Eltern von den pädagogischen Fachkräften fordern, ihr Kind mittags nicht so lange schlafen zu lassen, damit es abends früher einschläft. Wie kann dieser Konflikt gelöst werden?
Eine gute Lösung für Kinderbedarf und Elternwunsch ist ein vorgezogenes Mittagessen für die Kinder unter drei Jahren. Wenn das Mittagessen für Kinder im Krippenalter bereits auf 11.15 Uhr terminiert ist und der Mittagschlaf nach einer stressfreien Mahlzeit und zugewandter Wickelzeit gegen 12.15 Uhr beginnt, kann das erste Wecken – nicht nötig bei Ganztagskindern – nach eineinhalb Stunden um 13.45 Uhr erfolgen. Nach dieser Zeit sind die meisten Kinder bereits ausgeschlafen und bei einer frühesten Abholzeit um 14.00 Uhr auch bereit für den Übergang. Das Prinzip „Schlafen nach Bedarf“ ist physiologisch und gehört genauso wie „Essen nach Bedarf“ und „Spielen nach Bedarf“ zu den kindlichen Grundbedürfnissen und sollte kein Aushandlungsthema zwischen Kita und Eltern sein.

  • Was sind die Folgen, wenn Kinder vorzeitig geweckt werden und macht es einen Unterschied, ob das Wecken in einer Tiefschlaf- oder in einer Leichtschlafphase stattfindet?

Mittagsschlaf kann Stress oder Erholung sein! Kinder unter drei Jahren können mit erheblichen Dysregulationen zu kämpfen haben, wenn ihnen der Mittagsschlaf verwehrt wird oder sie nach einem zu kurzen Mittagsschlaf aus dem Tiefschlaf geweckt werden. Die Kinder wirken „überdreht“, gestresst oder missgelaunt und finden nicht ins Spiel. Die Verletzungsgefahr steigt und aggressive Konflikte nehmen zu, da die noch im Blut kreisenden Schlafhormone die motorische Koordinationsfähigkeit stören können!

  • Manche berufstätige Eltern zum Beispiel in der Krankenpflege oder im Flugdienst haben Arbeitszeiten, die nicht mit dem Tagesablauf von Kindern in Einklang zu bringen sind. Um hier Abhilfe zu schaffen, hat die Bundesregierung das Programm KitaPlus aufgelegt, mit dem in Kitas und Kindertagespflegestellen erweiterte Betreuungszeiten in den Morgen- und Abendstunden sowie am Wochenende gefördert werden, um Eltern eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Was halten Sie von diesen Angeboten?

Grundsätzlich kann eine gesicherte Betreuung im gewohnten Betreuungsumfeld, also in Kita oder KindertagespflegeKindertagespflege|||||Kindertagespflege oder Tagespflege umfasst eine zeitweilige Betreuung von Jungen und Mädchen bei Tagesmüttern oder Tagesvätern. Nach dem Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2004 ist die Tagespflege neben der Tagesbetreuung in Kindertageseinrichtungen eine gleichwertige Form der Kindertagesbetreuung.  auch für Morgen-, Abend- und sogar Nachtzeiten die bessere Alternative zur wechselnden Patchworkbetreuung durch Nachbarn, Freunde und Verwandte darstellen. Aber die Qualität, die personalen Rahmenbedingungen und das pädagogische Konzept für diese Randzeiten müssen stimmen. Zu früh am Morgen sollten die Kinder aber nicht gebracht werden und auch nicht zu spät am Abend abgeholt werden, da sie sonst für den Transport geweckt werden müssen. Ihr begonnener Nachtschlaf wird auf diese Weise unterbrochen und ist damit weniger erholsam. Dann ist es die bessere Alternative, die Kinder in aller Ruhe nach einem gemütlich gestalteten Abendprogramm bis zum Morgen in der Kita schlafen zu lassen und erst danach von einem selbst ausgeruhten schichtarbeitenden Elternteil abgeholt zu werden.
 
Übernahme des Interviews mit freundlicher Genehmigung aus frühe kindheit 04-18, S. 46-48



Weiterer Lesetipp zum Thema Schlaf:

Ruhe- und Schlafbedürfnisse junger Kinder in der Kita



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