Sabine Urban

Armutssensibles Handeln von pädagogischen Fachkräften

Co-Autorin: Hannegret Frohn

Ist arm sein ein Stempel? Wie erleben Kinder Armut? Welche Handlungsmöglichkeiten und welche Grenzen gibt es für armutssensibles Handeln in der Kindertageseinrichtung? Der Beitrag stellt sich diesen Fragen mit Blick auf die Ergebnisse des 5. Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung.

Juliana (1) ist 4 1/2 Jahre alt. Beim gemeinsamen Frühstück in der Kita macht sich Juliana seit geraumer Zeit Brote – und zwar mehr als sie essen kann. Hanna, ihre Erzieherin bemerkt, dass Juliana die Brote in ihr Fach legt, zu all den anderen wichtigen eigenen Dingen, die sie dort aufbewahrt. Später zeigt ein Hausbesuch mit dem Jugendamt, dass der Kühlschrank in der Wohnung, in der Juliana lebt, leer ist. Juliana schmiert Brote, mit denen sie sich, ihren Bruder und vielleicht auch ihre Mutter versorgen will. Armut ist Alltag für Juliana, in vielerlei Hinsicht, auch wenn sie das noch nicht abstrahieren kann.

Aaron ist 5 und schon in der dritten Kita. Wegen seines aggressiven Verhaltens anderen Kindern gegenüber wurde er immer wieder weitergereicht. »Hier in der Kita reden sie mit mir und schmeißen mich nicht raus«, sagt Aaron und versteht schon, dass er hier so sein und bleiben kann wie er ist. Aaron wächst in einem sozial belasteten Haushalt auf. Er hat keinen eigenen Raum und lebt mit Eltern und mehreren Geschwistern in beengtem Wohnraum. Sich durchsetzen, das konnte er bisher nur mit Gewalt.

Meren ist immer hübsch gekleidet. Ihre Eltern sind immer freundlich und beteiligen sich viel bei Aktionen in der Kita. Bei Ausflügen aber möchte Meren neuerdings nicht mehr mitkommen oder wird an dem Tag abgemeldet. Darauf angesprochen erzählt sie ihrem Erzieher Patrick, dass sie sich schämt, weil sie keinen schönen neuen Rucksack besitzt, wie ihre Freunde. Sie möchte deshalb auch lieber nicht mit zum Ausflug kommen. Armut sieht man Merens Familie nicht an. Merens Eltern geben, wie die meisten Eltern, alles für ihre Kinder. Sie leben in einem Einfamilienhaus, doch seit ein paar Monaten haben beide Eltern keine Arbeit mehr. Die Lebensumstände für Merens Familie haben sich von heute auf morgen verändert. Jetzt reicht das Geld manchmal nicht, damit Meren so wie andere Kinder teilhaben kann.

Armut kann definiert werden – Armut ist aber auch ein Gefühl und persönliche Wahrnehmung

Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung orientiert sich an einem umfassenden Analyseansatz, der die Risiken für Armut und soziale Ausgrenzung in verschiedenen Lebenslagen beschreibt. Anzeichen aus 11 verschiedenen Bereichen wie Einkommensverteilung, Überschuldung, Arbeitslosigkeit, Mindestsicherung, materielle Entbehrung, Wohnen, Gesundheit oder soziale Teilhabe werden dabei in den Blick genommen. Armut und Reichtum werden also nicht absolut (i.S. von materieller Unter- oder Überversorgung), sondern relativ, d.h. im Verhältnis zum gesellschaftlichen Durchschnitt in Deutschland, betrachtet.

Eine zentrale Dimension aber ist das Einkommen, da Teilhabe eng an "finanzielle Ressourcen geknüpft ist. Als von Armut bedroht gilt, wer mit weniger als 60% des mittleren Einkommens auskommen muss. Das mittlere Einkommen liegt genau in der Mitte der Pro-Kopf-Einkommensskala in einem Land. Wer also 60% oder weniger des Median-Einkommens verdient, ist nach dieser Definition von Armut bedroht.

Wer sich in der Gesellschaft umsieht, weiß aber auch: Armut ist mehrdimensional und individuell. Familien in belasteten Lebenslagen sind selten nur von einem Risiko betroffen. Julianas Mutter aus dem Anfangsbeispiel ist alleinerziehend und wegen einer psychischen Erkrankung in Therapie. Sie überlässt ihre beiden Kinder oft sich selber, schafft es aber, sie regelmäßig in die Kita zu bringen. An das Einkaufen zu denken schafft sie nicht immer und hat auch oft nicht mehr das Geld.

Armut ist immer auch eine Frage der Perspektive. Ändern sich Lebensumstände der Eltern durch plötzlichen Verlust des Arbeitsplatzes von heute auf morgen, wie im Beispiel von Meren, ist die Teilhabe am Gewohnten nicht mehr uneingeschränkt möglich. Auch wenn Merens Familie nach Faktenlage noch nicht als arm gilt, ist der Verlust für Meren plötzlich real, auch wenn sich die Lebensumstände vielleicht später wieder ändern.

Insgesamt betrachtet bescheinigt der 5. Armuts- und Reichtumsbericht Deutschland eine gute Entwicklung: Konjunkturaufschwung, sinkende Arbeitslosenzahlen und stabile Mittelschicht. Zugleich macht der Bericht aber auch deutlich, dass der wirtschaftliche Aufschwung eben nicht bei allen Menschen ankommt: Dies drückt sich vor allem darin aus, dass die Armutsrisikoquote nicht zurückgegangen ist, dass sich Langzeitarbeitslosigkeit immer weiter verfestigt und dass es einen großen Teil verdeckter Armut gibt. Diese Form Armut betrifft jene Menschen, die ihre Ansprüche aus Unkenntnis, Scham oder Angst vor Stigmatisierung nicht wahrnehmen.

Die letzten beiden Punkte sind im Bericht eher unterbelichtet. Ebenfalls wenig detailliert setzt sich der Bericht mit den Punkten auseinander, die sich verändern müssen, um die Lage von Familien und Kindern zu verbessern. Ein eigenes Bild über den 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung können Sie sich unter www. armuts-undreichtumsbericht.de machen.

Wie ist das denn nun? Wie viele Kinder sind in ihren Familien in Deutschland von Armut betroffen?

Je nachdem welche Datengrundlage man heranzieht, sind in Deutschland 14,6% oder 21,1% der Kinder von Armut bedroht. Die Unterschiede ergeben sich durch verschiedene Basisdaten und Indikatoren, die zur Bewertung herangezogen werden. Je nach Betrachtungsweise sind von den insgesamt 12,9 Mio. Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren in Deutschland rund 1,9 bis 2,7 Mio. Kinder aufgrund der Verhältnisse ihrer Familie arm. Jedes 5. oder 6. Kind ist also von Armut bedroht (Armuts- und Reichtumsbericht 2017, S. 250).

Was bedeutet das konkret? Objektiv sind Kinder in armen Familien, um nur zwei Beispiele zu nennen, eher betroffen von:


Was macht das mit Kindern wie Juliana, Aaron und Meren?

Kinder erleben die Verhältnisse in ihrer Familie erst einmal ganz normal. Juliana erlebt, dass sie selber schauen muss, wo sie bleibt. Sie hat Überlebensstrategien entwickelt, für sich, für ihren Bruder und auch für ihre Mutter. Am Wochenende gibt es wenig zu essen und sie und ihr Bruder sind sich häufig selbst überlassen. In der Kita erlebt Juliana zunächst eine andere Welt. Hier kann sie sich satt essen. Im Gewusel des Aufräumens nach dem Frühstück bringt sie Lebensmittel in ihre Schatzkiste in der Garderobe. Für Juliana ist es normal, dann viel zu essen, wenn es etwas gibt. Essen zu bunkern ist für sie lebensnotwendig und deshalb selbstverständlich.

Aaron hat wenige Konfliktlösungsstrategien gelernt. Er reagiert meistens mit Gewalt, wenn auch unbewusst und manchmal ungewollt. In Situationen, die ihn überfordern, schlägt er um sich. Dabei entwickelt Aaron die Kraft, die ihm sonst fehlt. Im beengten Wohnumfeld hat er keine Möglichkeit, Raum für sich zu haben. Zu Hause ist oft Krach, zwischen seinen Geschwistern und noch öfter zwischen seinen Eltern. Weil er mit seinem Überschwang schon häufig Kinder verletzt hat oder mit seinem Verhalten die Kindergruppe gestört hat, wurde er schon früh von einer Einrichtung zur nächsten vermittelt. Aaron erlebt früh die Ablehnung seiner Person und zwar egal ob zu Hause oder von anderen. Er entwickelt das Bewusstsein »Ich bin nicht richtig«.

Meren nimmt ihre Eltern in letzter Zeit als gestresst wahr. Irgendwas ist anders, aber Meren kann das nicht greifen. Früher war das nicht so. Da konnte Meren alles mitmachen und z.B. ihre Freunde zu Kindergeburtstagen nach Hause einladen. Sie weiß nicht, warum das jetzt anders ist. Ihre Eltern sagen, es sei alles ok und sie solle sich keine Gedanken machen. Trotzdem schämt sie sich, weil sie keinen tollen Rucksack hat, wie alle anderen Kinder. Meren hat Angst, ausgegrenzt zu werden und weiß nicht so genau warum.

Das Erleben von Kindern ist individuell. Je nach Entwicklungsstand beziehen Kinder eine größer werdende Umgebung in ihre Erfahrungen mit ein. Die im Jahr 2013 erschienene 3. World Vision Kinderstudie bestätigt, dass in Deutschland Kinder unter Armut und eingeschränkten Beteiligungsmöglichkeiten leiden. Dafür wurden in der Kinderstudie Kinder im Alter von 6 bis 11 Jahren nach der eigenen subjektiven Einschätzung ihres Wohlbefindens befragt. Vier Fünftel der befragten Kinder sind (sehr) zufrieden mit ihrem Leben – was ein vielversprechendes Ergebnis ist. Dafür kann aber ein Fünftel der befragten Kinder als abgehängt bezeichnet werden. Diese Kinder sind von Armut oder Armutsgefährdungen betroffen, sie fühlen sich in ihrer Meinung nicht wertgeschätzt und ernst genommen, sie haben weniger positive Erwartungen an ihre Zukunft und sie fühlen sich ungerechter behandelt als die anderen Kinder (Andresen/Hurrelmann 2013, S. 95 #.).


Was brauchen diese Kinder in der Kita?

a) Empathische Erwachsene, die sich bedingungslos für sie einsetzen
Meren erzählt ihrem Erzieher Patrick, dass sie sich schämt. Dieser sagt ihr, dass er nun verstanden hat, weshalb sie nicht mehr mitkommen möchte. Er glaubt aber, dass die anderen Kinder sich sicher freuen, wenn Meren dabei ist, auch ohne neuen Rucksack. Und überhaupt haben er und andere bestimmt Ideen, um gemeinsam eine einfache Lösung zu finden. Patrick ist empathisch. Er erkennt und versteht Merens Empfindungen. Bestimmte Lebenssituationen von Kindern und Familien, die wir im pädagogischen Alltag erleben, machen uns betroffen. Wir empfinden Mitleid – was uns häufig lähmt. Sich in das Gegenüber, in seine Eigenarten und seine Lebenskultur hineinzuversetzen hingegen ist Empathie. Sowohl auf professioneller als auch auf menschlicher Ebene ermöglicht Empathie Handeln. Dabei geht es um die kleinen Schritte. Wie sehen diese in Merens Beispiel aus? Die Fachkräfte überlegen erst im Team und später mit den Kindern und Eltern, was sie tun können, um Meren und vielleicht auch andere Kinder zu unterstützen. Die Kinder können sich beim Ausflug doch z.B. auch einen Rucksack teilen, fällt den gefragten Kindern ein. Das Essen wird in der Kita vorbereitet und von den Fachkräften mit auf den Ausflug genommen, bespricht das Team. Für die Eintrittsgelder oder Kosten bei Ausflügen können vom Träger Sponsoren gewonnen werden oder der Unterstützerverein der Kita wird angefragt, ob er Kosten übernehmen kann. Meren erlebt, dass ihre Lebenslage und die ihrer Familie wahrgenommen und verbalisiert wird. Sie ist kein Tabu mehr und wird damit auch für Meren fassbarer und sie scheint lösbar. Meren empfindet Zuversicht.

b) Jedes Kind in seiner Entwicklung wahrnehmen und unterstützen
In der Kita erlebt Aaron verlässliche Strukturen, und dass man mit ihm spricht. Aaron hat eine Bezugserzieherin, Shirin, die mit ihm arbeitet. Die beiden haben Signale gefunden, an denen Aaron merken kann, dass er wütend wird. Dabei weiß Aaron am besten, was er braucht. Meist macht ihn Shirin noch darauf aufmerksam und bietet ihm dann einen Raum für sich. Manchmal aber merkt Aaron schon selber, wenn er gerade außer sich ist. Dann nimmt er sich eine mit Sand gefüllte Weste aus dem Regal und stülpt sie über, um sich wieder spüren zu können. Morgens geht er manchmal zuerst raus, wenn alle frühstücken und rennt über den Spielplatz. Die Fachkräfte haben mit ihm und der Kindergruppe besprochen, warum er das braucht. Besonders montags hat er oft ein großes Bewegungsbedürfnis. Für die anderen Kinder ist das okay. Für Aaron ist die Kita ein bisschen wie eine Insel, ein Ort an dem er auftanken und sich richtig fühlen kann. Kindertageseinrichtungen sind keine ambulanten Hilfen zur Erziehung light, sie haben Grenzen. Der wesentliche Blick der pädagogischen Arbeit in der Kindertageseinrichtung ist auf die Kinder gerichtet. Besonders bei Kindern, die in ihrem Leben stark belastet sind, ist es notwendig, zuerst das Kind wahrzunehmen und in seiner Entwicklung und seinem Handeln zu stärken. Dies ist die Ebene der Verhaltensprävention.

c) Zusammenarbeit mit Eltern
Hanna, die Erzieherin von Juliana, hat das Verhalten von Juliana zunächst beobachtet, d.h. sich zurückgenommen und nach einem guten Grund für Julianas Verhalten gesucht. Hanna hat sich Juliana zugewendet, sie nicht für ihr Verhalten verurteilt, sondern ihr zunächst ein Angebot gemacht: Sie könne auch nachmittags Brote schmieren, damit sie frisch sind. Nach einer Weile wurde nach Absprache mit Juliana auch ihre Mutter einbezogen. Nachdem das Vertrauen da war, wurden gemeinsam andere Hilfsangebote gesucht und gefunden. Auch wenn die Idee, das Essen erst nachmittags für den Nach-Hause-Weg vorzubereiten, unkonventionell – auch für die Kita – war, traf sie doch genau das Bedürfnis von Juliana. Unkonventionelle und einfache Ideen sind in allen Kindertageseinrichtungen machbar. Sie werden gefunden: Wenn Kinder kein oder wenig Spielzeug zu Hause haben, wird ein Spielepool oder eine Ausleihe eingerichtet. Es gibt Flohmärkte, Tauschbörsen oder Kleiderkisten in der Kita für alle, die auch Familien mit wenig Geld für neue Kindersachen zugute kommen. Auf dieser zweiten Ebene (Verhältnisprävention) der Armutsprävention geht es um die strukturellen Aspekte der Gestaltung der Teilhabemöglichkeiten für Kinder und ihre Familien in der Einrichtung. Eltern, die sonst wenig Selbstwirksamkeitserfahrungen machen, können aktiv in den Elternrat einbezogen und in die Prozesse in der Kita eingebunden werden. Mitentscheiden und mithandeln können befähigt Erwachsene ebenso wie Kinder. Das gilt für Entscheidungen ebenso wie für gemeinsame Aktionen. Bei einem Gartentag zum Beispiel sind keine monetären Ressourcen notwendig, hier können sich dafür alle beteiligen.

d) Netzwerke als unterstützendes Element
Was Kindertageseinrichtungen brauchen, sind Netzwerke. Netzwerkpartner brauchen sich gegenseitig als unterstützendes Element. Alleinkämpfertum bringt einen nur an den Rand des Machbaren. Mit Verbündeten aber finden sich Lösungen. Es wurde schon viel über Netzwerke geschrieben und oft auch fehlende Ressourcen für die Netzwerkarbeit beklagt. Hier muss auch nach Einführung der Frühen Hilfen immer noch ein besseres Verständnis für den Nutzen und die Wirkungen von Netzwerkarbeit eingeworben werden. Ein Netzwerk für Kinder in einer Region, einem Ort oder einem Stadtteil kann aber nicht ohne die Perspektive von Kindertageseinrichtungen auskommen. Sie sind Seismografen für die Lage der Kinder und die Bedürfnisse ihrer Familien.

Was brauchen Fachkräfte für armutssensibles Handeln?









Fazit

Die Möglichkeiten aber auch die Wirkungen armutssensiblen Handelns einer Kindertageseinrichtungen sind umfassend. Für Kinder wie Juliana, Aaron und Meren bedeutet das, diese Kinder wahrzunehmen, ihr Verhalten wertschätzend zu hinterfragen und viele kleine und passgenaue Lösungen zu finden. Kinder und Familien erfahren so, dass sie wichtig und richtig sind.


Literatur


Fußnoten
1 Die Namen der in den Beispielen benannten Kinder sind zufällig gewählt. Die Beispiele spiegeln die Erfahrungen von Leitungskräften aus DRK-Kindertageseinrichtungen wieder.


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
KiTa Aktuell ND, 2-2018, S. 28-31

Drucken


Verwandte Themen und Schlagworte