Petra Wagner

Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung

- Ein inklusives Praxiskonzept für die KiTa -

Zwei konzeptionelle Kerngedanken kennzeichnen Inklusion in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen: Die Heterogenität der Lernvoraussetzungen und Lernwege von Kindern seien zu berücksichtigen und für Bildungsprozesse zu nutzen. Barrieren, die den Zugang von Kindern zu Bildungseinrichtungen und Bildungsinhalten behindern, seien abzubauen. (DUK 2009) Das ist einfach gesagt und geschrieben, doch wie ist eine entsprechende pädagogische Praxis zu gestalten? Wie müssten sich Erziehungs- und Bildungseinrichtungen als lernende Organisationen entwickeln, was müssten die Beteiligten wissen und können?

Gefragt sind pädagogische Konzepte, die fundiert und gleichzeitig praxisrelevant sind, um Inklusion zu realisieren. Dazu gehört auch, dass sie Hinweise geben, wie Kinder mit ihren verschiedenen Identitätsmerkmalen wahrgenommen und angesprochen werden, ohne Stigmatisierung, Stereotypisierung oder Festlegung auf nur ein Merkmal ihrer Identität.

Der Anspruch auf Inklusion bezieht seine Legitimität aus den Menschen- und Kinderrechten: „Education for all“ war bereits 1990 das Motto der globalen Initiative der Vereinten Nationen für Bildungsgerechtigkeit und gegen Bildungsbenachteiligung. Praxiskonzepte müssten von dieser Wertorientierung ausgehen und verdeutlichen, dass die Gestaltung einer inklusiven pädagogischen Praxis nicht ausreichen wird, um Bildungsbarrieren abzubauen, sondern von institutionellen und strukturellen Veränderungen begleitet und initiiert sein muss.

Konzepte, die Kinder und Familien in ihren Mehrfachzugehörigkeiten adressieren, die DiversitätDiversität|||||siehe Diversitysbewusstsein mit Diskriminierungskritik verknüpfen, die nicht nur individuelles professionales Handeln, sondern auch den institutionellen Kontext in den Blick nehmen, sind nach wie vor Mangelware (vgl. Sulzer/ Wagner 2011, 42). Eines der wenigen inklusiven Praxiskonzepte ist der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, der seit 2000 vom Berliner Institut für den Situationsansatz im Rahmen von KINDERWELTEN entwickelt und bundesweit erprobt wurde.


Inklusion in der Praxis: Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung


Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung ist ein frühpädagogischer Ansatz, eine Adaption des „Anti-Bias-Approach“ (= Ansatz gegen Einseitigkeiten und Diskriminierung) von Louise Derman-Sparks, der in den 1980er Jahren in den USA entwickelt wurde, für Kinder ab zwei Jahren. In Deutschland wurde er seit 2000 als Praxiskonzept für Kindertageseinrichtungen erprobt und verbreitet und als „Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung“ übersetzt, bei der es darum geht, sich der Ursachen und Wirkungen von Vorurteilen und Diskriminierung in Kindertagesein-richtungen bewusst zu werden und pädagogische Praxis gezielt zu verändern. Gemeint sind Vorurteile und Abwertungen aller Art, die an den unterschiedlichen Merkmalen von Menschen festgemacht werden: an Hautfarbe, Herkunft, Sprache wie auch Religion, Geschlecht, sozialer Schicht, sexueller Orientierung, Alter, Behinderung.

Die bildungs- und gesellschaftspolitische Relevanz und Brisanz des Ansatzes liegt in der Verknüpfung des Rechts auf Bildung mit dem Recht auf Schutz vor Diskriminierung. Damit hat Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung eine klare Wertorientierung: Unterschiede sind gut, diskriminierende Vorstellungen und Handlungsweisen sind es nicht. Respekt für die Vielfalt findet eine Grenze, wo unfaire Äußerungen und Handlungen im Spiel sind. Interventionen sind gefordert, mit denen man sich deutlich gegen Abwertung und Ausgrenzung ausspricht.

Kindliche Ein- und Ausschlusspraxen
Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass sich Kinder auch aus Vorurteilen und Einseitigkeiten ihr Bild von der Welt konstruieren: Kinder nehmen früh Unterschiede zwischen Menschen wahr und unterscheiden vertraute von unvertrauten Personen. Etwa im dritten Lebensjahr zeigen sie Unbehagen gegenüber äußeren Merkmalen und Besonderheiten von Menschen. Und sie verweisen auf solche Merkmale bei Aushandlungen um Spielpartner und Spielideen: Sie wollen nicht neben bestimmten Kindern sitzen, sie nicht an der Hand halten oder schließen sie von ihrem Spiel aus, weil sie dick sind, „komisch reden“, „komisch aussehen“, ein Junge/ ein Mädchen sind usw. Kinder bauen die Bezugnahme auf äußere Merkmale in die Durchsetzung ihrer Spielinteressen ein. Sie übernehmen dabei nicht 1:1, was Erwachsene sagen, sondern experimentieren mit einem Argumentationsmuster, das Vorurteile kennzeichnet: Ein Merkmal wird bewertet, für die ganze Person genommen und „begründet“ ihre Sonderbehandlung oder ihren Ausschluss.
Die Auswirkungen solcher Ein- und Ausschlusspraxen unterscheiden sich je nachdem, welcher sozialen Gruppe ein Kind angehört. Für Kinder aus diskriminierten oder benachteiligten Fami-lien können abwertende Urteile über ihre soziale Gruppe zu Beschädigungen ihres Selbstbildes führen, die ihre Lernbereitschaft ernsthaft gefährden.


Herabwürdigungen und Diskriminierung (1) als Lernbehinderung


Kinder bekommen früh mit, wer in der Gesellschaft als „normal“ und wer als „unnormal“ gilt – und zu welcher Kategorie sie selbst und ihre Familien gehören. Kitas oder Schulen wirken als Spiegel: Sie sagen dem Kind nicht nur etwas über sich selbst, sondern auch über seine Familie. Da sich junge Kinder stark mit ihrer Familie identifizieren, haben sie feine Sensoren für Abwertungen oder Herabwürdigungen, die ihrer Familie gelten. Nehmen sie solche wahr, so müssen sie die Botschaft verarbeiten, mit Merkmalen ihrer Identität oder als Teil der Familie selbst abgelehnt zu werden.

Während einer Radiosendung über Kinder und Vorurteile gibt es die Möglichkeit, im Studio anzurufen. Maria aus Düsseldorf, 10 Jahre alt, ruft an und klagt ihr Leid:

„Immer wenn in meiner Klasse etwas wegkommt, geben sie mir die Schuld. Weil ich Polin bin. Das finde ich so gemein! Dass ich Polin bin, heißt doch nicht, dass ich klaue!“ Ihre Lehrerin bemerke das nicht und als sie es ihr einmal gesagt hat, habe die geantwortet, sie solle nicht petzen. Ihre Mutter sei einmal in die Schule gekommen und habe mit den anderen Kindern gesprochen. Aber nichts habe sich seither geändert. Maria wolle aber auch nicht, dass die Mutter immer wieder komme, das sei ihr peinlich vor den Klassenkameraden. „Was soll ich denn machen?“ fragt sie.

Maria hat schon Einiges ausprobiert, aber es ändert sich nichts. Das stereotype Vorurteil „Polen klauen“ gehört in ihrer Klasse zum Fundus „sozialen Wissens“. Es dient als „Erklärung“, wenn in der Klasse etwas abhandenkommt und richtet sich dann gegen diejenigen, die das Merkmal „polnisch“ tragen. Maria ist das Ziel der Zuschreibung, jedes Mal, ganz egal, wie sie sich verhält und ganz egal, wie gut ihre Beziehungen in der Klasse gerade sind.

Auf diese Weise immer wieder abgestempelt zu werden, ist mit Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden. Die erlebte Stigmatisierung ist umso schmerzhafter, je eher die stereotypen Vorurteile einem allgemeinen Konsens entsprechen und einer sozialen Gruppe gelten, die gesellschaftlich benachteiligt ist, wie hier der polnischen Bevölkerungsminderheit in Deutschland. Das Stigma dient der Rechtfertigung ihrer Benachteiligung, indem es negative Zuschreibungen über die Gruppe in den öffentlichen DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  einspeist, die den Anschein erwecken, als sei diese durch ihr Verhalten selbst „schuld“ an ihrer Randstellung.

Die damit verbundene „Exklusion“ ist äußerst leidvoll: Sie besteht nicht nur im Ausgeschlossensein von gesellschaftlicher Teilhabe und in den unüberwindbaren Zugangshürden zu gesellschaftlichen Ressourcen, sondern auch in der fortgesetzten Erfahrung, als Repräsentantin einer Gruppe betrachtet zu werden, der Geringschätzung und Herabwürdigung gilt.



Soziale Identitäten und normierende Botschaften


Das Selbstbild von Kindern setzt sich zusammen aus individuellen Eigenheiten und aus ihren Identifikationen zu sozialen Bezugsgruppen, zunächst ihrer Familie als primäre Bezugsgruppe. Bezugsgruppen fühlt man sich zugehörig oder man wird als dieser Gruppe zugehörig betrachtet. Soziale Identitäten sind Teil der Ich-Identität. Kinder oder Erwachsene auf nur einen Aspekt ihrer Identität zu reduzieren, wird von ihnen meist als schmerzlich oder unangemessen empfunden. Gleichzeitig nehmen Kinder von Anfang an Unterschiede zwischen Menschen wahr und verarbeiten Informationen über die gesellschaftliche Bewertung der einzelnen Identitätsaspekte:

„Kinder entwickeln ihre sozialen Identitäten als Gesamtheit. Im Kindergartengartenalter begin-nen Kinder, ihre Ideen und Gefühle über ihre eigene Identität als auch die Identitäten anderer auszubilden, in Bezug auf Hautfarbe, Ethnizität, körperliche und geistige Fähigkeiten, Ge-schlecht, sozio-ökonomischen Status und Familienstrukturen.“ (Derman-Sparks in Wagner 2013, 280)

Dass Informationen über die unterschiedliche Bewertung von sozialen Gruppen bereits früh das Selbstbild von Kindern beeinflussen, zeigten bereits in den 1940er Jahren Untersuchungen von Kenneth und Mamie Clark mit Schwarzen Kindern zu deren Präferenzen für hellhäutige und dunkelhäutige Puppen. Die meisten Kinder fanden die hellhäutige Puppe schöner, wollten lieber mit ihr spielen, fanden ihre Hautfarbe schöner. Eine Wiederholung der Untersuchung in 2005 bestätigte das Ergebnis (2). Eine Schlussfolgerung ist, dass rassistische Segregation die Entwicklung eines positiven Selbstbildes bei Schwarzen Kindern insofern behindert, als die Kinder früh negative Zuschreibungen erleben und diese verinnerlichen.

Diesen Zuschreibungen entnehmen Kinder Botschaften über sich selbst, über andere Menschen und darüber, wie die Welt funktioniert, was wünschenswert, „normal“, „schön“ ist. Die Quellen dieser Botschaften sind vielfältig und allgegenwärtig:



Verantwortung der Bildungseinrichtungen


Ohne eine bewusste Gegensteuerung verstärken Bildungseinrichtungen die gesellschaftlichen Dominanzverhältnisse. Sie stehen vor der Herausforderung, die gleichen Rechte aller Kinder auf Bildung und ihre gleichen Rechte auf Schutz vor Diskriminierung zu realisieren und dabei die großen individuellen und sozialen Unterscheide zu berücksichtigen, die ihren lernenden Weltzugang und ihre Bildungs-Möglichkeiten beeinflussen. Eine Strategie der Gleichbehandlung in dem Sinne, dass alle Kinder das Gleiche bekommen, wird die Unterschiede verstärken. Um Bildungsgerechtigkeit herzustellen, sind ungleiche Strategien erforderlich.

Damit die Erfahrungen von Kindern mit Abwertung und Ausgrenzung nicht zur Lernbehinderung werden, brauchen sie Bildungseinrichtungen, in denen sie selbst in ihrer Besonderheit wahrgenommen und gestärkt werden. Respekt für ihre eigenen Familienkulturen und die aktive Auseinandersetzung mit anderen hilft ihnen, mit Unterschieden kompetent umzugehen. Zeigen Kinder Vor-Vorurteile, so sind Erwachsene aufgefordert, vorurteilsbewusst einzugreifen. Eine klare Positionierung gegen Ausgrenzung und Diskriminierung vermittelt Kindern Schutz und ein inneres Bild davon, wie man unfairem Verhalten und Denken widerstehen kann. Es stärkt sie darin, sich selbstbewusst und neugierig auf Bildungsprozesse einzulassen. Über das akute Eingreifen hinaus muss kontinuierlich und verlässlich eine Alltagskultur gestaltet werden, die von Respekt, Wertschätzung und dem Streben nach Gerechtigkeit geprägt ist.

Das Praxiskonzept vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung für Kindertageseinrichtungen (5) orientiert auf 4 Ziele, die aufeinander aufbauen:

Ziel 1: Alle Kinder in ihrer Identität stärken



Praxisbeispiel:
Familienwände sind großformatige Fotos der Familien der Kinder, angebracht auf Augenhöhe, an einer gut einsehbaren Stelle des Kindergartens. Die Auswahl und Zusammenstellung geschieht mit den Familien gemeinsam. Sie definieren, wer zu den Bezugspersonen ihres Kindes gehört, wer alles ihre Familie ausmacht. Dominiert die Erzieherin die Definition mit ihrer Normvorstellung von Familie, so haben Eltern und Kinder, deren Familie von dieser Norm abweicht, kein Zutrauen. Sind wirklich die Personen abgebildet, die dem Kind nahestehen, so schafft die Familienwand eine wichtige Verbindung zwischen Familie und Kindergarten. Sie repräsentieren die Familien als primäre Bezugsgruppen von jedem einzelnen Kind: „Das bin ich und das ist meine Familie!“ Diese Repräsentation erleichtert wiederum die Identifikation des Kindes mit dem Kindergarten: „Ich und meine Familie sind an diesem Ort willkommen!“ Die Familienwand kann für Kinder ein Ort des Trostes sein und sie ist häufig der Anlass für Gespräche unter Kindern, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede.



Ziel 2: Allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen



Praxisbeispiel:
Eltern sind eingeladen, zum mehrsprachigen Lesefest beizutragen, indem sie in bestimmten Ecken des Kindergartens ein Buch in ihrer Familiensprache vorlesen oder eine Ge-schichte erzählen. Für alle Kinder ist es anregend: Die einen erleben, dass ihre Eltern etwas Wichtiges im Kindergarten tun und haben auch Stoff für Gespräche zuhause. Die anderen hören Geschichten in einer Sprache, die sie nicht verstehen, aber sie bekommen etwas mit vom Klang, von der Konzentration der Zuhörenden. Und auch sie erleben, dass die Eltern von Kindern, die bisher nicht so aktiv in Erscheinung getreten sind, etwas Wichtiges beitragen können.



Ziel 3: Kritisches Denken über Gerechtigkeit und Fairness anregen



Praxisbeispiel:
Was haben wir denn da in der Verkleidungsecke? Der Erzieherin fällt auf, dass eher Mädchen in der Verkleidungsecke spielen und Jungen eher nicht. In einer Kinderversammlung teilt sie ihre Beobachtungen mit. Es entsteht eine engagierte Diskussion, in der die Kinder die Ausstattung der Verkleidungskiste bemängeln: Nur Frauensachen seien da drin, da könne man gar nichts anderes spielen. Außerdem fehlten interessante, „andere“ Sachen. Eine Untersuchung folgt: Was ist wirklich drin in der Verkleidungsecke, was fehlt? Tatsächlich ist die Ausstattung einseitig. Was fehlt? Ideen werden notiert, was beschafft werden soll und wo man es bekommen kann: Von zuhause, vom Second-Hand-Laden, vom Theater-Fundus... Im Verlauf der Bestückung der Verkleidungsecke mit anderen Kleidungsstücken und Utensilien wird eine weiter Einseitigkeit erkennbar: Wenn Jungen in einer Verkleidungsecke spielen, wo nur Frauenkleider sind, dann seien die schwul... Die Erzieherin hat neue Fragen für weitere Untersuchungen...


Ziel 4: Aktivwerden gegen Unrecht und Diskriminierung


Praxisbeispiel:
In einer Kindergruppe wird die Aufschrift „hautfarben“ auf der Pflasterpackung zum Thema. „Was bedeutet das, was glaubt ihr?“ fragt die Erzieherin. Dass dieses Pflaster zur Hautfarbe passt, meinen die Kinder. Es folgt eine kleine Untersuchung: Kinder vergleichen die Pflasterfarbe mit ihrer Hautfarbe, zuerst in der Gruppe, dann bei Kindern auf dem Schulhof, dann auch in ihren Familien. Sie stellen fest, dass die Bezeichnung „hautfarben“ nicht korrekt und außerdem unfair ist, weil die meisten Kinder und Erwachsenen eine andere Hautfarbe haben. Sie schreiben dem Pflasterhersteller einen Brief und erhalten als Antwort eine Paket mit durchsichtigen Pflastern. Die Kinder sind erfreut, diese Pflaster finden sie fair! (berichtet von Derman-Sparks).



Herausforderungen an pädagogische Fachkräfte

Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung hat eine klare Wertorientierung: Unterschiede sind gut, diskriminierende Vorstellungen und Handlungsweisen sind es nicht. Respekt für die Vielfalt findet eine Grenze, wo unfaire Äußerungen und Handlungen im Spiel sind. Es gehe darum, so Louise Derman-Sparks (1989), die Spannung zwischen dem "Respektieren von Unterschieden" und dem "Nicht-Akzeptieren von Vorstellungen und Handlungen, die unfair sind", jeweils kreativ auszutragen (Louise Derman-Sparks, 1989). Es muss also in jedem Einzelfall überprüft und untersucht werden: Ist das fair? Ist das gerecht? Entspricht das der Wahrheit oder ist es eine Verzerrung, um sich über Menschen lustig zu machen? Die Lernumgebung wird entsprechend verändert: Stereotype und einseitige Darstellungen von Menschen haben hier keinen Platz, die Ausstattung wird um fehlende Aspekte von Vielfalt ergänzt. Einseitigkeiten und Diskriminierung werden mit den Kindern thematisiert.

Das alles verlangt viel von den Fachkräften: Sie sind aufgefordert, immer wieder kritisch zu überprüfen, wie weit sie in der Lage sind, Menschen eine Lebensgestaltung zuzugestehen, die sich von ihrer eigenen unterscheidet. Es ist ein Vorgang der „Dezentrierung“: Man versucht, seine eigenen Norm- und Wertvorstellungen nicht absolut zu setzen, sie nicht als die einzig wahren Grundlagen sinnvoller Lebensgestaltung zu behaupten. Das heißt: Respekt zu entwickeln für unterschiedliche Antworten auf die Grundfragen menschlichen Daseins.

Dazu gehört die Reflexion des eigenen Umgangs mit Unterschieden: Wie steht man zu be-stimmten Unterschieden? Wie findet man es, dass in einer Familie nicht gemeinsam gegessen wird – ist es kein „richtiges“ Familienleben? Diese Mutter mit Gehbehinderung – will man ihr ein zweites Kind ausreden? Der Vater, der nicht arbeitet – meint man, er bemühe sich nicht wirklich? Die allein erziehende Mutter, tut sie einem Leid? Findet man, die katholische Mutter übertreibe es mit ihrer Religiosität? Und dass dem Sohn des lesbischen Elternpaars letztendlich doch der Vater fehle?

Die eigenen Irritationen sind wichtig: Sie geben wertvolle Hinweise auf das eigene Normen- und Wertegefüge und können der Anlass sein, sich dieses zu vergegenwärtigen. Wie bin ich zu dieser Überzeugung gekommen? Und warum denke ich, dass sie wichtig ist, wie begründe ich sie? Das eigene Wertesystem gehört in der Regel zu den nicht weiter hinterfragten Selbstverständlichkeiten, die man in seinem „kulturellen Gepäck“ mit sich herumträgt. Unter „Seines-gleichen“ besteht auch kein Anlass, es auszupacken und zu erklären. Man tut dies nur, wenn andere es nicht verstehen oder dadurch in Frage stellen, dass sie etwas ganz anderes richtig finden.

Um Licht in die eigenen blinden Flecken zu bringen, muss diese Gelegenheit des In-Frage-Stellens geschaffen und gesucht werden. Es geht darum, Raum zu geben für andere Erfahrungen von Menschen, sie anzuhören, wissen-suchende Fragen an sie zu stellen, sie kennen lernen zu wollen. Günstig ist, eine Fragestellung zu wählen, zu der alle Beteiligten etwas sagen können. Was und wie sie es sagen, wird unterschiedlich sein. Es entspricht einem Prinzip der vor-urteilsbewussten Bildung und Erziehung: An Gemeinsamkeiten ansetzen und von da aus Unter-schiede beschreiben.



Beispiel: Das Familienspiel
KINDERWELTEN hat ein Familienspiel entwickelt, das zu einer Auseinandersetzung mit vielfältigen Familienkonstellationen und –kulturen auffordert: Es sind 36 Memory-Kartenpaare, die jeweils ein Kind und ein Kind mit seiner Familie zeigen. Eine ausführliche Handreichung enthält Anregungen, was außer dem „klassischen“ Memory mit den Karten gemacht werden kann, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu thematisieren. „Suchen und finden“ lautet eine Aufforderung, bei der es darum geht, ganz genau auf die Details zu schauen: Finde das Kind mit den Ohrringen, mit der Baseballmütze, mit einem Pferde-schwanz... Finde die Familie mit den Großeltern, mit dem Hund, mit zwei Papas... Beim „Sortieren und Zuordnen“ erkennen Kinder bestimmte Merkmale und beziehen sie aufeinander, wodurch sie ihre Vorstellungen hinterfragen und um neue Sichtweisen erweitern können: Suche Kinder, die schwarzes, blondes, braunes Haar haben. Welche Haarfarben findest du hier nicht? Welches Kind hat die gleiche Haarfarbe wie du? Suche Familien mit einem, zwei, drei, mehr als drei Kindern. Wie viele Kinder sind in deiner Familie? „Gespräche über Familien“ können mit Fragen angeregt werden, die Kinder Vermutungen und eigene Erfahrungen äußern lassen: Welche Familien sehen fröhlich aus? Woran erkennst du das? Was macht dich fröhlich?

Das Familienspiel eignet sich darüber hinaus auch für Reflexionen der Erwachsenen über spontane Bilder, die sie sich von Kindern und Familien machen und was diese mit ihren Erfahrungen und Wertvorstellungen zu tun haben: In Fortbildungen wählen die TeilnehmerInnen zunächst das Bild eines Kindes aus, das sie „anspricht“. In Paaren tauschen sie sich darüber aus, was sie angesprochen hat: Das Kind ähnelt einem Kind, das ich kenne, es ähnelt mir selbst als Kind, ich habe auf den Blick reagiert, auf den Ausdruck (lebhaft, frech, verträumt, bedürftig...). Auch Hypothesen darüber, wie wohl das Kind ist, werden benannt: Mit diesem Kind kann man Pferde stehlen, das sagt seine Meinung, das kriegt die Erwachsenen immer rum, das ist anhänglich und leise... Im zweiten Schritt finden die TeilnehmerInnen die Karte mit der Familie des Kindes. Die Frage lautet nun: Das Bild des Kindes im Kreis seiner Familie gibt euch etwas mehr Information über das Kind. Was verändert diese Information? Gibt es Überraschungen? Bestätigungen? Meist gibt es hier ein Raunen und nachdenkliche Gesichter, denn einige Familien hat man sich so nicht vorgestellt! Dass dieses blonde Kind eine Mutter mit Kopftuch hat! Dass dieses Kind der Sohn eines alleinerziehenden Vaters ist! Dass dieses Mädchen zwei Väter hat! Auch bei den Bildern, die das vorherige Bild zu bestätigen scheinen, lauern Einseitigkeiten und Vorurteile: Was drücken wir aus, wenn wir von „vollständigen“ Familien sprechen? Wenn wir beim dunkel-häutigen Vater denken, er stamme aus Afrika? Wenn wir anerkennend finden, der alleinerziehende Vater scheine das alles „erstaunlich gut zu packen“, während sich die Frage von Überforderung bei den alleinerziehenden Müttern nicht stellt... Viele Denkanstöße sind es, die eine solche Beschäftigung mit dem Familienspiel auslösen. Es eignet sich als Einstieg in eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Tendenz, Menschen spontan einzuordnen und zu bewerten und lädt ein, genauer hinzusehen, aus welchen Erfahrungen und Wertorientierungen sich solche Einordnungen speisen. Da TeilnehmerInnen auf dieselben Kinder- und Familienbilder unterschiedlich reagieren und Unterschiedliches hinein interpretieren, ist die Möglichkeit von „Dezentrierung“, dem Abgehenkönnen vom eigenen Standpunkt als einzig richtig und wahr, unmittelbar gegeben, die Perspektivenvielfalt liegt auf der Hand.


Farbenblinde oder touristische Vorgehensweisen sind kontraproduktive Wege des Umgangs mit Unterschieden (6): Weder das Leugnen von Unterschieden noch das Zuschreiben von „typischen“ Merkmalen und Gepflogenheiten an bestimmte Gruppen hilft, die vorhandenen Unterschiede und die Gemeinsamkeiten in den Familienkulturen zu verstehen und kompetent mit ihnen umzugehen.

Für pädagogische Fachkräfte besteht eine zentrale Herausforderung darin, Perspektivenvielfalt anzuerkennen und gleichzeitig Stellung zu beziehen, d.h. seine moralische Orientierung darüber einzubringen, was für ein gutes Zusammenleben der Menschen akzeptabel oder inakzeptabel ist. Gelingt es ihnen, Perspektivenvielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Tatsache zu sehen und von blinden Flecken in ihrer eigenen Wahrnehmung auszugehen, so begeben sie sich in einen dialogischen Prozess des Nachfragens, Klärens, Zur-Kenntnis-Nehmens und er-neuern ihre Wert- und Normvorstellungen auf einer weiterentwickelten Grundlage.

Indem offensiv Gelegenheiten geschaffen und genutzt werden, um von Menschen zu erfahren, was das Besondere an ihrer Perspektive ist, erweitert man sein Verständnis dafür, wie dieselbe Situation aus dem Blickwinkel anderer aussehen kann. Vorurteilsbewusstes Intervenieren heißt dann, hierbei nicht stehen zu bleiben, nach der Maxime. „Du siehst es so, ich sehe es eben so.“ Nicht jedes Interesse ist gleichwertig. Erwachsene sind dafür da, Kinder vor Abwertung und Geringschätzung zu schützen. ErzieherInnen müssen dafür sorgen, dass alle Kinder ihr Recht auf Bildung einlösen können, und hierzu gehört, dass sie sich wohl fühlen und zugehörig sind. Die Perspektiven der Beteiligten zu erkennen ist die Grundlage für eine parteiliche Intervention, die ein geschärftes Sensorium für Abwertung und Ausgrenzung erfordert und geklärte Standpunkte, worauf es auch in moralischer Hinsicht im Kindergarten ankommt.



Schlussfolgerungen

Kinder konstruieren ihre Bildungsprozesse eigensinnig, aber nicht in einem luftleeren Raum. Sie bauen auch die impliziten Botschaften ihrer Bezugspersonen über gut und böse, richtig und falsch in ihr soziales Wissen über die Menschen und über die Regeln ihres Zusammenlebens ein. Zurückhaltung der Erwachsenen ist gefragt bei der Rücknahme von Belehrungsaktivitäten auf Grund der realistischen Einschätzung, dass Kinder nicht einfach das lernen, was sie ihnen beizubringen versuchen. In moralischer Hinsicht hingegen dürfen sich ErzieherInnen in der Kita nicht „raushalten“, denn damit bestätigen sie herrschende Mechanismen von Ungleichbehandlung und Ausgrenzung. Sie müssen explizit Stellung dagegen beziehen. Gleichzeitig sind sie verantwortlich für die Gestaltung der Lernumgebung: Eine Lernumgebung, die allen Kindern Schutz und Zugehörigkeit zusichert, in der respektvoll mit Unterschieden umgegangen wird und in der Kinder lernen, sich gegen Hänseleien, Ausschluss und Ungerechtigkeit zu wehren. Bildungsprozesse unterstützt man nicht mit moralischer Abstinenz, sondern mit Klarheit und Dialogbereitschaft.





Anmerkungen



1 Diskriminierung meint die abwertende Ungleichbehandlung von Menschen auf Grund eines Gruppenmerkmals, von dem sie Nachteile beim Zugang zu gesellschaftliche Ressourcen haben wie Wohnen, Arbeiten, Einfluss. Dis-kriminierung kann direkt sein oder indirekt, interpersonal oder institutionalisiert sein. (Definition Fachstelle Kin-derwelten)

2 Doll Test: https://www.youtube.com/watch?v=tkpUyB2xgTM

3 Adultismus: Diskriminierungsform, die eine Höherbewertung von Erwachsenenanliegen vor den Anliegen und Sichtweisen von Kindern behauptet, vgl. Richter 2013

4 Diese Bezeichnung tauchte in der Presse 2000-2006 nach den Morden der rechtsterroristischen NSU an zehn Laden- und Imbissbesitzern mit Migrationshintergrund auf. In 2011 „deutsches Unwort des Jahres“.

5 Dieser pädagogische Ansatz wurde in Kalifornien für Kinder ab 2 Jahren entwickelt und im Rahmen von KINDERWELTEN seit 2000 auf der Grundlage des Situationsansatzes für Deutsch-land adaptiert. Der „Anti-Bias Ap-proach“ von Louise Derman-Sparks und ihren KollegInnen (1989) setzt auf die bewusste Auseinandersetzung mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten und gleichzeitig auf eine deutliche Positionierung gegen Vorurteile, Diskriminierung und Einseitigkeiten. www.kinderwelten.net. Siehe auch Erläuterungen am Ende des Texts.

6 s. Erläuterungen am Ende des Texts



Literatur:




Anhang 1: Das Konzept in Kürze und Hintergrund KINDERWELTEN


Der Ansatz stammt aus den USA, wo er Anti-Bias Approach genannt wird, übersetzt ein Ansatz gegen Einseitigkeiten und Diskriminierung. Gemeint sind Einseitigkeiten im Sinne von Bevorzugungen oder Benachteiligungen von jungen Kindern ab dem Krippenalter, die sich auf ihre Bildungsprozesse auswirken. Gemeint sind auch Einseitigkeiten im Sinne von Beteiligung und Einflussnahme: Es geht um das Aufdecken von Mustern in den Abläufen, den Personalbesetzungen, der Raumgestaltung und dem pädagogischen Angebot, die manche Kinder und ihre Familien übergehen, ignorieren, ausgrenzen oder abwerten. Der Grundgedanke ist, dass alle Kinder sich wohl fühlen und sich zugehörig fühlen müssen, um in der Kita gut lernen zu können. Und dass eine Kita, in der Kinder aufgrund eines bestimmten Merkmals ihrer Identität oder ihrer Familienkultur Abwertung und Ausgrenzung erfahren, ohne dass Erwachsene eingreifen und ihnen beistehen, kein guter Ort des Aufwachsens ist. Er ist es weder für die ausgegrenzten Kin-der noch für die anderen. Hier zu sein ist für die einen mit einer unmittelbaren Beeinträchtigung ihres Wohlbefindens und damit ihrer Lernmotivation verbunden. Und alle Kinder verstehen: Hier wird man nicht geschützt, Abwertung und Herabwürdigung werden geduldet.
Der Anti-Bias Approach wurde in Berlin im Rahmen von KINDERWELTEN für Verhältnisse in Deutschland adaptiert, als Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung übersetzt und seit 2000 weiter entwickelt. Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung folgt einer klaren Wertorientierung: Unterschiede sind gut, diskriminierende Vorstellungen und Handlungsweisen sind es nicht. Respekt für die Vielfalt findet eine Grenze, wo unfaire Äußerungen und Handlungen im Spiel sind. Es gehe darum, so Louise Derman-Sparks, die Mitbegründerin des Ansatzes, die Spannung zwischen dem "Respektieren von Unterschieden" und dem "Nicht-Akzeptieren von Vorstellungen und Handlungen, die unfair sind", jeweils kreativ auszutragen. Es muss also in jedem Einzelfall überprüft und untersucht werden: Ist das fair? Ist das gerecht? Entspricht das der Wahrheit oder ist es eine Verzerrung, um sich über Menschen lustig zu machen? Die Lernumgebung und die Interaktion mit Kindern werden entsprechend verändert: Stereotype und einseitige Darstellungen von Menschen haben hier keinen Platz, die Ausstattung wird um fehlende Aspekte von Vielfalt ergänzt. Einseitigkeiten und Diskriminierung werden mit den Kindern thematisiert, auch in der Zusammenarbeit mit Eltern und in der Zusammenarbeit im Team. Dies geschieht in einer systematischen Auseinandersetzung mit vier Zielen, die aufeinander aufbauen:

Ziel 1: Alle Kinder in ihrer Identität stärken
Ziel 2: Allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen
Ziel 3: Kritisches Denken über Gerechtigkeit und Fairness anregen
Ziel 4: Aktivwerden gegen Unrecht und Diskriminierung

In einem ersten Projekt KINDERWELTEN (2000-2003) wurden diese Ziele und die dazu gehörenden Prinzipien zur Umsetzung in Kitapraxis für die Situation in Deutschland adaptiert, der Ansatz als „Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung“ übersetzt: Frei von Vorurteilen kann niemand sein, aber jeder und jede kann versuchen, sich der Vorurteile bewusst zu werden, die er oder sie hat, und zu verstehen, woher sie rühren, welche Funktion sie erfüllen und welche Auswirkungen sie haben.

In einem zweiten Projekt (2004-2007) wurde der Ansatz in über 30 Kitas in drei Projektregionen verbreitet und weiter entwickelt (Baden-Württemberg, Thüringen, Niedersachsen). In einem dritten Projekt KINDERWELTEN (2007-2010) fand die Ausweitung in 8 Kompetenzkernen statt, in denen bundesweit neben fast 50 Kitas auch 10 Grundschulen und 18 Fachschulen für Sozialpädagogik beteiligt waren. Das Projekt wurde gefördert mit Mitteln des BMFSFJ im Rah-men des Bundesprogramms „Vielfalt tut gut“ und der Bernard van Leer Fundation, die KINDERWELTEN seit 2000 ermöglicht hat.

Ab August 2011 unterstützte die Bernard van Leer Foundation den Aufbau der Fachstelle KINDERWELTEN für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung, um die in den Projekten entwickelten Praxis- und Fortbildungskonzepte einer breiten Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die Fachstelle bietet Beratung, Fortbildungen und Publikationen zur Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung an und führt Veranstaltungen und Vertiefungsprojekte durch.

Träger der Fachstelle wie auch der vorangegangenen KINDERWELTEN-Projekte ist das Institut für den Situationsansatz ISTA in der Internationalen Akademie INA gGmbH in Berlin.

Kontakt:
KINDERWELTEN Fachstelle Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung
Institut für den Situationsansatz/ Internationale Akademie INA Berlin gGmbH
Leitung: Petra Wagner
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
www.kinderwelten.net
www.situationsansatz.de



Anhang 2: Achtung Pseudovielfalt: Der touristische Ansatz


Der touristische Ansatz ist dadurch gekennzeichnet, dass er einen Ausflug in die Welt der „An-deren“ unternimmt, gleich einer touristischen Reise. Man lernt das kennen, was „typisch“ ist und findet es besonders interessant, wenn es exotisch, farbenfroh und ungewöhnlich ist. „Bereichert“ um diese Reiseerfahrung, und vielleicht um ein prächtiges Souvenir, kehrt man zurück „nach Hause“, wo alles so ist wie vorher...

Beispiele touristischer Darstellungen gibt es viele, auch in der Kita. Zum Beispiel dieses Mobile mit der dekorativen Weltkugel und den bunten, lustigen Figürchen dran. Möglicherweise hat sie jemand angebracht, um Kindern eine Vorstellung von den „Kindern einer Erde“ zu vermitteln?

Wenn man sie genauer betrachtet und sich dabei fragt, ob sie Kindern Identifikationsangebote geben können, muss man wohl verneinen. Kein Kind in der Gruppe, das eine dunkle Hautfarbe hat, wird sich mit der Darstellung der „Afrikanerin“ identifizieren können: Mit dem riesigen, unförmigen Mund, dem obligatorischen Wasserkrug auf dem Kopf. Kein Kind mit Familien wurzeln in Asien wird sich identifizieren können mit dem gelbhäutigen Jungen, der sogar im Stehen mit Stäbchen Reis isst. Der englische Gentleman mit Schirm und Melone, die Flamenco tanzende Spanierin, der Dudelsack spielende Schotte, natürlich im Schottenrock und das holländische Mädchen mit Holzschuhen, Häubchen und Tulpe – sie alle sind derart reduziert auf ein bestimmtes Stereotyp, dass sie hellhäutige Kinder in Europa kaum zur Identifikation einladen. Sind sie eine Anregung zum Thema Vielfalt? Das Mobile ist von seinem Informationsgehalt her flach: Jede Figur ist ungefähr gleich groß, es gibt jeweils nur eine Figur, Mann oder Frau, es gibt die Beschränkung auf einige wenige äußere Attribute (Hautfarbe, Bekleidung, Gegenstände), man erfährt nicht, was sie machen und wie andere Menschen in dem Land aussehen. In den Fehlinformationen liegen Botschaften, die sich den BetrachterInnen übermitteln:

Wenn sich die Figuren auch nicht zur Widerspiegelung oder Repräsentation dessen eignen, was die Kinder in der Kindergruppe ausmacht, so übermitteln sie dennoch Bilder. Stereotype Bilder davon, wie Menschen sind, prägen ganz stark die Vorstellungen über sie, man kann sich ihrer kaum erwehren. Dies beginnt früh: Die Fülle an Bildern in ihrer Lernumgebung vermittelt Kindern wichtige Botschaften über Menschen und geht ein in ihr „Wissen“, auch ohne dass sie jemals Kontakt zu ihnen gehabt haben müssen. Die Bilder sind der Stoff, aus dem Vorurteile auch gemacht sind.


Anhang 3: Achtung Pseudogleichheit: Der farbenblinde Ansatz


Der farbenblinde Ansatz ist gekennzeichnet von einem häufig positiv gemeinten Anliegen: „Alle Kinder sind gleich, ich mache keine Unterschiede!“ Man möchte nicht, dass Ungleichheit und Unterschiede thematisiert werden und dadurch erst recht in die Aufmerksamkeit der Kinder gerät. Die vielleicht ohne diese Thematisierung, so ist die Hoffnung, die Unterschiede gar nicht bemerkt hätten. Das zugrunde liegende Bild vom Kind ist das eines vorurteilsfreien, grundsätzlich für seine Umgebung und für andere Menschen offenen Jungen oder Mädchen, dem das gemeinsame Spiel wichtiger ist als äußere Unter-schiede. Es korrespondiert mit einem Bild vom Kindergarten als Schonraum, der von der rauen Wirklichkeit „draußen in der Gesellschaft“ abgeschirmt bleiben soll, damit Kinder unbeeinflusst davon ihre Kindheitsjahre genießen können. In einem solchen Kindergarten gibt es keine Konflikte, hier wird unbeschwert Kindergeburtstag gefeiert: Alle Kinder freuen sich, alle lachen, alle sind süß und nett. (s. Bild aus: Conny kommt in den Kindergarten. Cornelsen). Wer wen einlädt und wen nicht, ist hier kein Thema...

Der farbenblinde Ansatz spart etwas aus, was zu den Erfahrungen von Kindern gehört. Und nimmt sie nicht ernst in ihrer wachsenden Wahrnehmung der vorhandenen Unterschiede zwischen Menschen. Im farbenblinden Ansatz wird ignoriert, dass Kinder früh Botschaften darüber auswerten, wie bestimmte Merkmale von Menschen bewertet werden und dass sie diese Botschaften von überall herbekommen und sich ihren Reim darauf machen. Sie bekommen sie auch von „farbenblinden“ Erwachsenen – und lernen von ihnen, dass Unterschiede heikel sind, denn man darf darüber nicht sprechen... So lassen sich Kompetenzen kaum erwerben, die für soziales Handeln grundlegend sind: Sich in die Perspektiven anderer hineinversetzen, Empathie entwickeln, seine Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle äußern, erkennen, was fair und was unfair ist, Stellung beziehen und Konflikte austragen. Mit der Absicht, Kinder zu schonen, werden sie mit bestimmten Erfahrungen alleine gelassen und erhalten keine Unterstützung für einen kompetenten Umgang mit Unterschieden und Ungerechtigkeit.



Zum Weiterlesen:

Inklusion und Chancen-Gerechtigkeit



AdmirorFrames 2.0, author/s Vasiljevski & Kekeljevic.

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