Wenn kleine Kinder beißen

Eine Herausforderung für Fachkräfte in Kita und Tagespflege

Inhaltsverzeichnis

  1. Die kindliche Entwicklung
  2. Die Ursachenanalyse
  3. Handeln in der akuten Situation
  4. Interventionsmöglichkeiten beim Beißen
  5. Literatur

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Mirko (2 Jahre) schreit herzergreifend, er ist gerade von Maja gebissen worden. Leider nicht das erste Mal. Seit einigen Wochen kommt es in der Kita immer wieder zu „Beißvorfällen“. Die Eltern sind entsetzt, die PädagogInnen suchen nach hilfreichen Strategien. Warum beißen kleine Kinder? Wie kann man angemessen damit umgehen?


Beißen kommt bei Kindern zwischen einem und drei Jahren häufiger vor. Deshalb müssen Fachkräfte in der Arbeit mit Kleinstkindern darauf vorbereitet sein, dass es zu „Beißvorfällen“ in der Gruppe kommen kann.

Beißen als tiefe Grenzüberschreitung

Beißen als Verhalten wird vollkommen anders bewertet als Schubsen, Schlagen oder an den Haaren ziehen. Beim Beißen wird eine körperliche Grenze überschritten. Die Spuren sind lange sichtbar, tief in die Haut eingeschrieben. Bisswunden verheilen langsam. Beißen wird als eine erheblich schlimmere und verstörendere Bedrohung wahrgenommen als andere Formen von Grenzverletzungen, die im Alltag vorkommen können. Nicht selten betreffen Bissverletzungen das Gesicht. Pädagogische Fachkräfte und Eltern, aber auch die Kinder erinnern sich bei jedem Blick auf die Wunde des Kindes an den Vorfall und an die mit ihm verbundenen aufwühlenden Emotionen.
Was sind die Ursachen?

Es lassen sich drei große Bereiche ausmachen, die als Ursache für das Phänomen Beißen in Frage kommen können:

  1. die kindliche Entwicklung
  2. die Umgebung
  3. die emotionale Situation des Kindes (Kinnell 2008).


Die kindliche Entwicklung

Zur Entwicklung kleiner Kinder gehört es, dass sie ihre Welt mit dem Mund erkunden. Bausteine, Krümel auf dem Fußboden, alles, was ihnen in das Blickfeld gerät, wird mundmotorisch erforscht. Wird die Suche eines Kindes nach mundmotorischen Erfahrungen nicht ausreichend befriedigt, kann es zum Beißen kommen. In diesem Fall sollte mehr mundmotorisches Spielmaterial angeschafft werden. Auch Zahnen kann ein Grund für Beißverhalten sein.

Mit dem Beißen kann sich ein Kind außerdem den Wunsch nach Erfahrungen von Kausalität und Selbstwirksamkeit oder nach Aufmerksamkeit erfüllen. Es beißt zu und plötzlich passieren aufregende Dinge: Ein Kind schreit und die Erzieherin springt in heller Aufruhr herbei. Das Kind selbst spürt den Schmerz nicht, den es bei seinem Gegenüber verursacht. Es erlebt möglicherweise eine Art Schauspiel. Es hat für Abwechslung gesorgt und bekommt viel Aufmerksamkeit. Es kann sein, dass ein anderes Kind das wahrnimmt und imitiert nach dem Motto: „Ich will auch so beachtet werden!“ Das Beißverhalten kann also auch ein Imitationsverhalten sein.

Die Umgebung

Bei manchen Kindern führen Enge und fehlende Rückzugsmöglichkeiten zu einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass sie mit Beißen reagieren. Bedrängende Situationen z.B. im Garderobenbereich beim Anziehen vor dem Rausgehen sind hier oft die Ursache. Auch Überstimulation durch zu viele Spielsachen, zu viele Eindrücke und ein zu hektischer Tagesablauf können zu Stress führen, was das Bedürfnis nach Spannungsabbau zur Folge hat. Eine unangemessene Gestaltung des Tagesablaufs kann zur Folge haben, dass Kinder beißen, besonders wenn sie zu lange warten müssen, übermüdet oder hungrig sind oder Langeweile empfinden.

Die kindlichen Emotionen

Emotionen können ebenfalls zum Beißen führen, insbesondere wenn Kinder frustriert sind oder ihren Ärger ausdrücken wollen, es aber sprachlich noch nicht können. Hohe Anspannung und Ängste werden von manchen Kindern ebenfalls auf diese Weise abgebaut (Gutknecht 2012).



Die Ursachenanalyse

Kinder müssen sorgfältig beobachtet werden, damit sich die Ursachen für das Beißen herausfinden lassen. Die Pädagoginnen halten für die Analyse ihre Beobachtungen schriftlich(!) fest und leiten daraus ihr pädagogisches Handeln ab: Nur wenn tatsächlich beobachtet wurde, dass ein Kind mundmotorische Erfahrungen sucht, ist es sinnvoll und Erfolg versprechend, Mundmotorik-Spielsachen anzuschaffen. Im Sinne der positiven Verhaltensbeobachtung (Theunissen 2008) sind folgende Fragen wichtig:

  • Was hat sich vor dem Verhalten ereignet?
  • Wie verhält sich das Kind?
  • Was macht es genau?
  • Was hat sich nach dem Verhalten ereignet?
  • Wer hält sich in der Nähe des Betroffenen auf?
  • Wer ist an der Situation beteiligt?
  • Wo ereignet sich die Auffälligkeit?
  • Wie ist die gegebene Situation gestaltet?
  • Welche Arbeitsmaterialien werden in der Situation genützt?
  • Wann tritt die Auffälligkeit auf?
  • Welche Konsequenzen ergeben sich?
  • Wie lange hält das Problemverhalten an?


Weiter unten sind Ursachen und entsprechende Möglichkeiten, ihnen zu begegnen, in Beziehung zu einander gesetzt. Schriftliche Aufzeichnungen helfen zu sehen, ob ein Team auf dem richtigen Weg ist und Beißvorfälle zunächst einmal weniger werden.



Handeln in der akuten Situation


Das Kind, das gebissen wurde

Die erste Reaktion einer pädagogischen Fachkraft muss sich auf das Kind richten, das gebissen worden ist. Sie vermittelt Trost, Beruhigung und Fürsorge und macht deutlich, dass sie mitfühlt, den Kummer versteht und das Beißen verurteilt. Es ist wichtig, dem Kind Möglichkeiten anzubieten, wie es sich beruhigen kann. Vielleicht braucht es die Nähe der Frühpädagogin oder es möchte in einer sicheren Ecke in Ruhe weiterspielen. Hier muss dafür Sorge getragen werden, dass das Kind nicht unbeabsichtigt erneut in seinem Spielen beeinträchtigt wird. Kleine Kinder, die gebissen worden sind, brauchen neben der Fürsorge in der akuten Situation auch dauerhaft angemessene Hilfen, um sich zu wehren. Hier sollte als Form der Konfliktassistenz die frühe sprachliche Bildung intensiviert werden. Die Pädagogin zeigt, dass ein Kind „Nein“ oder „Stopp“ rufen, aber auch die Körpersprache einsetzen kann. So kann das Kind bei ausgestrecktem Arm eine Abwehr- oder Stopp-Geste vollziehen.


Das Kind, das gebissen hat

Das Kind, das gebissen hat, braucht möglichst zeitnah eine Reaktion des Erwachsenen, da es sonst keinen Bezug mehr zu seinem Beißen herstellen kann. Die Aufmerksamkeitsspanne ist bei kleinen Kindern noch sehr kurz. Die Reaktion muss daher rasch erfolgen, nach ein oder zwei Minuten, damit das Kind den Zusammenhang mit seinem Handeln noch herstellen kann. Das Kind wird ernst und mit fester Stimme angesprochen. Die verbalen Antworten müssen sehr deutlich formuliert und an das Sprachverständnis des Kindes angepasst sein. Günstig ist eine klare Situationsbeschreibung, z. B. bei einem Streit um Spielzeug: „Du hast Anna mit deinen Zähnen weh getan. Du hast sie gebissen. Sie wollte deinen Laster haben. Du kannst sagen: Nein, Anna.“ Besser als ein Allgemeines „Es ist nicht schön, wenn du beißt“ sind Formulierungen, die auf das abzielen, um das es geht: „Alle Kindern sollen hier sicher sein! Beißen ist nicht sicher!“

Da sich die Kinder noch in der Sprachentwicklung befinden, ist zu vermeiden, das Wort „beißen“ zu häufig zu verwenden. Es kann sonst vom Kind leicht als eine Art Aufforderung missverstanden werden: „Du sollst nicht beißen! Wir beißen nicht! Hör auf zu beißen! Hörst du? Du sollst nicht beißen!“ Hier hört das Kind wie ein Schlüsselwort: „Beißen, beißen, beißen!“

Auch Fragen an das Kind, die einen Perspektivwechsel erfordern wie z. B.: „Würdest du wollen, dass ich dich beiße?“, sind nicht zielführend. Selbst wenn das Kind mit „Nein!“ antwortet, kann es meist noch nicht nachvollziehen, dass es aus diesem Grund selber auch nicht beißen soll.


Stress regulieren – gemeinsame Aufgabe von Eltern und Fachkraft

Problematische Verhaltensweisen wie das Beißen können ausschließlich in Kita oder Tagespflege, aber auch an anderen Orten auftreten. In der Zusammenarbeit mit Eltern ist daher zu klären, welche Erfahrungen das Kind zu Hause und an weiteren Betreuungsorten macht. Kinder wachsen heute vielfach in einem geteilten Betreuungsfeld auf. Der Alltag bringt für sie dabei viele Wechsel mit sich: zwischen dem Elternhaus, der Kita und möglicherweise noch weiteren Betreuungspersonen wie z. B. einer Tagesmutter, den Großeltern oder den Nachbarn. Kleinstkinder erfahren möglicherweise höchst unterschiedliche Reaktionen der verschiedenen Bezugspersonen auf ihr Verhalten. So erlebt das Kind vielleicht heftiges Schimpfen in der Kita, im häuslichen Umfeld hingegen wird ein zärtlich-spielerisches Beißen praktiziert. Solche Unterscheidungen können Kleinstkinder noch überfordern.

Junge Kinder verfügen noch nicht über Selbstregulation und Impulskontrolle, was zu Verhaltensweisen wie Beißen führen kann. In der Entwicklungsberatung müssen pädagogische Fachkräfte daher gemeinsam mit den Eltern insbesondere die Stressregulation des Kindes als eine gemeinsame Aufgabe angehen. Hierfür muss das individuelle Stressprofil eines Kindes ergründet werden: Welche Situationen lösen bei diesem Kind Stress aus? Wie baut es Stress am besten ab? Wie lässt sich die Stressbelastung zu Hause und wie in der Kita reduzieren? Eine intensive Kooperation ist erforderlich, um den vom Kind erlebten 24 Stunden Zyklus mit seinen unterschiedlichen Aktivitäts- und Ruhephasen zu überblicken. Oft ist es günstig, tägliche Übergabe-Gespräche zu diesem Thema einzuführen, um den weiteren Tagesverlauf zu planen: Ist es günstiger, nach der Kita-Zeit auf den Spielplatz zu gehen oder eine Kuschelzeit zuhause einzuplanen? Braucht das Kind eine Pause bzw. einen Mittagsschlaf oder kann es gleich einen Spielgefährten mitnehmen? Bei einem geteilten Betreuungsfeld ist immer zu beachten, ob die in der Familie verbrachte Zeit in ausreichender Weise Qualitätszeit ist und genügend Stress abfedernde Entspannungsphasen vorhanden sind.



Interventionsmöglichkeiten beim Beißen (nach Gutknecht, 2010, 2012)


Ursachen Mögliche Zugänge und Hilfen

Zahnen
  • Den Kindern werden Mundmotorik-Spielsachen zum Beißen zur Verfügung gestellt, möglichst solche, die kühlbar sind oder Noppen aufweisen. Das Spielen mit „harten“ Lebensmitteln ist auch günstig, muss aber sorgsam begleitet werden.


Mundmotorische Erfahrungen suchen
  • Mundmotorik-Spielsachen, mit denen das Kind blasen kann, können wichtige Erfahrungen bieten. Geeignet sind einfache Musikinstrumente wie Kazoos, Pfeifen und Flöten. Auch der experimentelle Umgang mit Strohhalmen ist günstig.

Sinneserfahrungen suchen
  • Dem Kind sollten vielfältige Möglichkeiten der sensorischen Materialerfahrung ermöglicht werden, wie z.B. das Spiel mit Wasser, Sand oder Rasierschaum; außerdem passive und aktive Bewegung auf dem Trampolin oder einer für kleine Kinder geeigneten Schaukel.


Kausalität erfahren in Wenn-Dann- Spielen
  • Aktivitäten, die eine Wenn-dann-Beziehung zwischen Dingen herstellen, sind günstig, wie z.B. das Spuren-Hinterlassen beim Malen. Immer wieder schafft die Pädagogin Bezüge: „Wenn du mir aufräumen hilfst, können wir schneller nach draußen.“

Aufmerksamkeit suchen
  • Wenn Kinder nach Aufmerksamkeit suchen, benötigen sie tatsächlich auch Aufmerksamkeit. Sie sollte ihnen geschenkt werden, damit das „Beißen um Aufmerksamkeit“ weniger werden kann. Manchmal sind es Kinder, die den Fachkräften nicht so angenehm sind, die sehr viel Aufmerksamkeit verlangen: Deshalb sollten regelmäßige Zuwendungszeiten konkret in den Tagesablauf eingeplant und gezielt positive Begegnungen sichergestellt werden. Günstig ist es, orientiert an den Interessen des Kindes, Situationen herzustellen, in denen gemeinsam gehandelt werden kann (Sand- und Wasserspiel etc.).

Gefühle ausdrücken wollen
  • Fachpersonen sollten jede Gelegenheit nutzen, um Gefühle sprachlich auszudrücken, und dafür ein Modell geben. Sie versprachlichen eigene Gefühle: „Was für ein Mist! Ich ärgere mich furchtbar, dass mir hier immer das Band abreißt!“ oder die des Kindes: „Du bist wütend, weil Nina dir dein Auto weggenommen hat!“

Imitation
  • Fachpersonen leben im Alltag bewusst erwünschtes Verhalten vor bzw. betonen es und fokussieren die Aufmerksamkeit der Kinder darauf. Auf keinen Fall dürfen Erwachsene spielerisch beißen oder spielerisches Beißen bei den Kindern tolerieren, wenn Beißen in der Gruppe ein Problem darstellt.

Außenreize vermindern, Stress reduzieren
  • Manche Kinder reagieren sehr stark auf Außeneinflüsse, auch Aufregung und Freude können zu überschießenden Reaktionen wie Beißen führen. Fachpersonen zeigen deshalb Möglichkeiten auf, Emotionen auszudrücken (wie zeige ich Freude), sorgen aber auch für Selbstberuhigung und Stressreduktion, z. B. durch Kindermassage oder leises Singen. Über Aktivitäten im Freien Spannung abzubauen, ist für viele Kinder unbedingt erforderlich. Außerdem müssen Fachkräfte die Körperzeichen lesen können, um Müdigkeit oder Hunger bei den Kindern zu erkennen.

Soziale Distanzen entdecken
  • Wenn Kinder beginnen, mit sozialen Distanzen zu experimentieren, benötigen sie oft die regulative Hilfe der Fachperson. Diese Hilfe kann darin bestehen, dass Kissen und andere Begrenzungsgegenstände eingesetzt werden. Insbesondere wenn Kinder einander zu nahe kommen, ist es hilfreich, Worte dafür zu finden: „Du bist zu nahe an Sarah, komm etwas weiter zu mir herüber!“


Literatur:

  • Ahnert, L.: (2010). Wieviel Mutter braucht ein Kind? Bindung – Bildung – Betreuung: öffentlich und privat. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
  • Gutknecht, D. (2012). Bildung in der Kinderkrippe. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Haug-Schnabel, G. (2009). Aggression bei Kindern. Praxiskompetenz für Erzieherinnen. Freiburg: Herder
  • Gutknecht, D. (2010). Professionelle Responsivität. Ein hochschulbezogenes Ausbildungskonzept für den frühpädagogischen Arbeitskontext U3: Kinder unter drei Jahren und ihre Familien. Dissertation, PH Heidelberg. Verfügbar unter: http://nbnresolving. de/urn:nbn:de:bsz:he76-opus-75225 [7.11.2014].
  • Kinnell, G. (2008). No biting. Policy and practice for toddler programs. Yorkton Court: Redleaf Press.
  • Theunissen, G.(2008). Positive Verhaltensunterstützung. Lebenshilfe-Verlag: Marburg.

Zum Weiterlesen:


Beißen 150Dorothee Gutknecht (Autor) /Gudrun de Maddalena (Illustrator):

Wenn kleine Kinder beißen. Achtsame und konkrete Handlungsmöglichkeiten.

Herder 2015, 96 S.















Mit freundlicher Genehmigung aus der Fachzeitschrift „Kleinstkinder in Kita und Tagespflege“ Ausgabe 5/2014, Verlag Herder, in leicht aktualisierter Form ohne Abbildungen übernommen


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