Offene Arbeit - ein inklusives und partizipatives Konzept

Inhaltsverzeichnis

  1. Was ist offene Arbeit?
  2. Irrtümer rund um Offene Arbeit
  3. Offene Arbeit ist ein Teamprozess
  4. Literatur zur Geschichte und Entwicklung der Offenen Arbeit

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Offene Arbeit ist ein Teamprozess


Wie alle Entwicklungen verläuft dieser Prozess weder gradlinig noch überall gleich. Das Tempo, der Weg, die Kurven und Schleifen, die er dreht, sind abhängig von diversen Einflussfaktoren: Von den Vorerfahrungen der Kolleginnen, von ihren persönlichen Wertvorstellungen und pädagogischen Zielen, von ihrem beruflichen Rollenbild, ihrer Lust auf neue Erfahrungen oder ihren Ängsten vor Unbekanntem. Doch nicht nur die Voraussetzungen der einzelnen Kolleginnen spielen eine Rolle, sondern auch der Entwicklungsgrad der Kommunikations- und Streitkultur. Gehört es im Team zum professionellen Selbstverständnis, die Arbeit zu reflektieren, konzeptionelle Diskussionen zu führen und über Veränderungen nachzudenken, ist viel gewonnen. Werden Auseinandersetzungen vermieden, ist die Hürde höher. Denn Offene Arbeit macht es notwendig, zu streiten. Über das Bildungsverständnis und die Bildungsziele, über die Rechte von Kindern und deren Grenzen, über die Zusammenarbeit mit Eltern und deren Einbeziehung in konzeptionelle Entwicklungen – vor allem aber über unterschiedliche Arbeitsweisen. Im Zentrum steht die Frage: Was halten wir für gut und richtig – und warum? Und: Wer ist eigentlich WIR?


Über die großen Linien mag man sich schnell einigen. Interessant wird es, wenn dieses Große sich im Kleinen beweisen muss. Wenn (zum Beispiel) das Stichwort „Individualität des Kindes" im Alltag erkennbar werden soll: Wo hat individuelle Besonderheit ihren Platz? Mit welchen Begründungen wird sie eingeschränkt?


Es ist unvermeidbar, sich „auf die Schliche kommen", wenn wir Ansprüche kritisch unter die Lupe nehmen und konsequent zu Ende denken. Das gilt nicht nur für die Arbeit mit Kindern, sondern auch auf Leitungsebene oder für Multiplikatorinnen.


So ist Offene Arbeit ein Prozess der Einzelnen und ein gemeinsamer Prozess. Beides verschränkt sich. Je sicherer man sich in einem gemeinsamen Konzept aufgehoben fühlt, umso eher lässt man sich auf neue Erfahrungen ein. Je mehr sich die Einzelnen einlassen, umso besser gelingt die Zusammenarbeit. Vertrauen wächst und erleichtert wechselseitige Spiegelung. Offene Arbeit wird zum Selbstläufer.


Dreh- und Angelpunkt Offener Arbeitist die gemeinsame Verantwortung für alle Kinder und für das Ganze. Darin liegt die größte Herausforderung zum Umdenken und Umhandeln. Denn die traditionelle Arbeitsweise hat ein Verständnis von „meiner, meiner" geprägt: Meine Kinder, meine Gruppe, mein Raum, meine Eltern, meine Spielsachen... Aus einem solchen Selbstverständnis heraus zu kommen und sich in einen Verantwortungsverbund mit anderen zu begeben, braucht Zeit und neue Erfahrungen. Schritt für Schritt.


Manche Kolleginnen wollen das auf keinen Fall. Sie fühlen sich in ihrer Bedeutung und in ihrem Einflussbereich bedroht, haben Angst davor, nicht mehr wichtig zu sein, Angst„ „ihre Kinder" nicht ständig im Blick zu haben, Angst, in der Konkurrenz zu anderen Kolleginnen nicht bestehen zu können, Angst vor Chaos und Anarchie, Angst, nicht mehr alles im Griff zu haben. Sie verweigern sich und machen weiter, wie gewohnt. Und das, obwohl der Bildungsauftrag anderes verlangt, nämlich die Unterstützung einer Entwicklung zu Selbstständigkeit und Eigenverantwortung.


Kinder streben von Anfang an nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. Und danach, sich einzubringen. Dazu müssen sie weder motiviert noch erzogen werden. Doch welche Chance sie haben, in diesem Streben weiterzukommen, ist davon abhängig, ob sie sich darin üben können. Genau wie Fahrradfahren lernt man Beteiligung und Eigenverantwortung, indem man sie erproben kann. Partizipation im Sinne von Teil haben, Teil sein, sich einbringen und mitentscheiden ist die Voraussetzung dafür, Verantwortung in der Gemeinschaft zu übernehmen. Das Anliegen Offener Arbeit ist es, ein entsprechendes Übungsfeld zu bieten – nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene.


Zuweilen fehlen heutigen PädagogInnen eigene Freiheitserfahrungen in der Kindheit. Manche wünschen sich gerade deshalb etwas anderes und wagen sich „ins Offene". Andere wiederum können sich nur vollständig durchregelte Tagesabläufe vorstellen. Ob der Mut zur Veränderung erwacht, hat wesentlich mit den Erfahrungen zu tun, die Kolleginnen heute machen. Das wiederum verweist auf die Entscheidungsstrukturen in den Trägerorganisationen und das Demokratieverständnis in den Führungsetagen. Wer die Erweiterung der Handlungs- und Entscheidungsspielräume für Kinder will, muss dies ebenso denjenigen ermöglichen, die mit den Kindern arbeiten. Wie sonst sollen sie Vertrauen in Eigenverantwortung und demokratische Prozesse gewinnen?


Offene Arbeit ist eine Basisbewegung. Sie lebt davon, dass sich die Praktikerinnen öffnen, ungewohnte Perspektiven einnehmen und Neues erproben wollen. Wer Offene Arbeit anweist, wird das Gegenteil erleben: Die Kolleginnen machen „dicht". Der Öffnungsprozess wird jedoch zum Selbstläufer, wenn die Kolleginnen sich aus eigenem Antrieb auf den Weg machen, wenn sie erleben, dass nicht nur die Kinder, sondern auch sie selbst von der Entwicklung profitieren. Zu gewinnen ist viel: Auch sie erhalten Gelegenheit, ihre Ideen und besonderen Vorlieben einzubringen – je unterschiedlicher, desto besser. Sie müssen nicht alles und alle dasselbe tun, auch sie können sich vertiefen und spezialisieren. Sie entlasten und unterstützen sich gegenseitig, übernehmen parallel verschiedene Aufgaben, was zum Beispiel dazu führt, dass „Stoßzeiten" entzerrt werden.


Je alltäglicher die Kooperation im Team, umso leichter fallen Schritte in Richtung gemeinsamer Verantwortung und Arbeitsteilung. Ängste schwinden und machen der Freude am Ausprobieren und an der eigenen und gemeinsamen Weiterentwicklung Platz. Probleme (die natürlich immer wieder auftauchen) werden als das gehen, was sie sind: Herausforderungen, an denen man weiter wachsen kann. Teams, die auf diesem Weg unterwegs sind, wollen nie mehr anders arbeiten.


Ein Praxisbeispiel: Entzerren der Mittagssituation in der Krippe


Während manche Kinder am Tisch im kleinen Restaurant sitzen und essen wollen, spielen andere munter weiter. Ein Kind hat sich im Traumraum schlafen gelegt. (Niemand wird wach gehalten.) Eine Kollegin stellt die Schüsseln auf den Tisch, unterstützt, wenn gewünscht beim Auftun der Speisen. Eine andere wickelt derweil das eine und andere Kind. Eine dritte spielt Gitarre. Einige Kinder zieht das magisch an, sie gesellen sich zu ihr, hören zu und summen mit. Alle sind entspannt. So etwas klappt, wenn eng zusammengearbeitet wird, Verantwortung und Aufgaben geteilt werden und man im Team kontinuierlich kommuniziert. Die gemeinsame Nutzung und unterschiedliche Gestaltung aller verfügbaren Räume bietet den Rahmen dafür, dass die Kinder jederzeit ihren individuellen Bedürfnissen folgen können. Für die Erwachsenen bedeutet diese Form der Kooperation, dass Aufräum- und Umbauaktionen entfallen – und sie Zeit für die Kinder gewinnen.