Das professionelle Selbstverständnis frühpädagogischer Fachkräfte

Inhaltsverzeichnis

  1. Rahmenbedingungen und professionelle Haltung
  2. Drei grundlegende Orientierungen
  3. Fazit

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Drei grundlegende Orientierungen, die den Umgang von Fachkräfte-Teams mit den Bildungsprogrammen beeinflussen

Zum Umgang mit den Bildungsprogrammen und den mit ihnen verbundenen vielfältigen Anforderungen und Methoden haben wir drei ‚typische‘ Ausprägungen gefunden.

Zum einen fanden wir in der Praxis Teams, die die Bildungsprogramme zwar für eine Bereicherung halten, sich aber primär an grundlegenden pädagogisch-ethischen Werten und Arbeitsweisen orientieren und sich vor dem Hintergrund dieser Folie durchaus auch kritisch-reflexiv mit den Bildungsprogrammen beschäftigen und sich das Recht auf einen eigenen fachlich begründeten Umgang mit ihnen nehmen. Diese Gruppe haben wir als "wertekernbasiert" bezeichnet.

Kennzeichnend für eine andere Gruppe von Teams ist, dass die Fachkräfte sich sehr intensiv darum bemühen, die Umsetzung aller möglicher und immer neuer Vorgaben möglichst effizient zu erfüllen, wir haben sie daher als "umsetzungsorientiert" beschrieben.

Schließlich fanden wir Gruppen, die sich vom Bildungsprogramm distanzieren, dieses zum Teil sogar vehement ablehnen und ihm gegenüber ihre eingespielte pädagogische Alltagspraxis verteidigen.

 

 Was bedeutet das für die pädagogische Praxis?

 

Wertekernbasierung

In den "wertekernbasierten" Teams wird das jeweilige Bildungsprogramm als wichtige Anregung und Grundlage für die Arbeit eingeschätzt, bildet aber nicht den zentralen oder gar einzigen Orientierungsfokus.

Die Fachkräfte nehmen wahr, dass die Gesamtheit der Vorgaben unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht umsetzbar ist. Hierunter leiden sie allerdings nicht so stark wie die umsetzungsorientierten Teams, da das Bildungsprogramm nicht alleinige Richtschnur und Bewertungshorizont ihres professionellen Handelns ist.

Der Umgang mit dem Bildungsprogramm hat einen reflexiven Charakter: Die Fachkräfte sind um eine eigenverantwortliche und professionell begründete Praxis bemüht, d.h. sie orientieren ihre Arbeit an den Anforderungen der Bildungsprogramme, vor allem aber versuchen sie, den je spezifischen Bedarfen und Bedürfnissen der Kinder und Familien sowie ihren eigenen Qualitätsansprüchen und pädagogischen Werten so gut es geht gerecht zu werden.

Die Teams entwickeln so praktikable und ‚passgenaue’ Arbeitsmodelle; sie machen aus der Situation das Beste und könnten dies mit besseren Rahmenbedingungen noch besser!

In ihrer professionellen Selbstvergewisserung beziehen sich die Fachkräfte diesen Typs immer wieder z.B. auf religiös fundierte, ethisch-moralische Werte oder auf Grundgedanken von Inklusion und Anerkennung von DiversitätDiversität|||||siehe Diversity oder auf reformpädagogische Ideale; hier ein Beispiel aus einer konfessionell angebundenen Kita:

„Nimmst du das Kind komplett so an, wie es ist, liebst du das Kind und fängst du da an, seine Gaben und Fähigkeiten rauszuholen, wo sie sind, und das Kind zu stärken in der tiefsten Tiefe und dem Kind Ich-Kompetenz und Vertrauen für das Leben zu geben – wenn du das richtig kapiert hast, dann brauchst du keinen Bildungsplan als Gebetsbuch nebendran.“

 

Beobachtung und Dokumentation

Die Fachkräfte arbeiten Beobachtung und Dokumentation nicht im Sinne einer lästigen Pflichterfüllung ab, sondern legen z.B. Wert darauf, dass auch die Kinder – wie in den meisten Bildungsprogrammen ja explizit gefordert – mit den Dokumentationen etwas anfangen können. Wenn man anfängt, sich darüber Gedanken zu machen, wie Dokumentationen aussehen müssen, damit sie für die Fachkräfte, für die Eltern und auch für die Kinder einen Wert haben, dann ist der komplexe Anspruch einer qualitätsvollen Beobachtung und Dokumentation tatsächlich in der frühpädagogischen Praxis angekommen

Zwar wurde auch in diesen Teams z.B. das Sprachlerntagebuch kritisiert, aber die Fachkräfte verharren nicht einfach in dieser Abwehr, sondern machen sich Gedanken darüber, wie sie selbst mit der Methode arbeiten können und wollen, damit es für sie und ihr Team eine Bereicherung darstellt:

„Mal positiv zum Sprachlerntagebuch: Man spricht mit Eltern, erzählt – das ist sehr schön, da können wir die Eltern, die Familie kennenlernen, Fragen stellen. Das ist leichter mit Eltern so Kontakt aufzubauen.“

Hier steht also im Mittelpunkt, Verfahren und Methoden für das zu nutzen, was einem selbst als pädagogisch sinnvoll erscheint und wichtig ist. Es geht nicht darum, sich die eigene Praxis von einer möglichst effizienten Umsetzung der Verfahren diktieren zu lassen. Die kritisch-reflektierten Teams versuchen, die eigenen Ressourcen im Blick zu haben und Methoden den jeweiligen Erfordernissen und Rahmenbedingungen anzupassen.

Der Blick auf die Kinder ist in diesem Typ primär an deren Ressourcen und Stärken ausgerichtet, wie im Gesprächsbeitrag eines Teams deutlich wird, deren Einreichung fast ausschließlich Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte besuchen.

„Ich hab auch ganz viel Respekt vor diesen kleinen Gehirnen und vor den Kindern, dass die bilingual aufwachsen, in einer Welt mit mehreren Kulturen zuhause sind; (…) Und selbst ein Kind, das nicht so toll spricht, leistet ganz viel, dass es die Balance hält zwischen arabischer Welt, Kultur, Sprache und deutscher Kultur. (…) Die Kinder haben Stärken, die haben nur Sprachschwierigkeiten!“

Hier dokumentiert sich der Anspruch, die individuellen Bildungsvoraussetzungen, -wege und -erfolge der Kinder zu berücksichtigen. Das Beobachten dient v.a. dazu, die eigene Perspektive auf das Kind zu erweitern; sie ist damit eher prozessorientiert und weniger darauf ausgerichtet, den Entwicklungsstand des Kindes zu einem bestimmten Zeitpunkt, etwa einmal im Jahr zur Vorbereitung auf ein Elterngespräch, festzustellen. Der kollegiale Austausch über Beobachtungen ist bedeutsam: „Wenn ich einfach ein Kind beobachte, wenn ich mir unsicher bin, dann möchte ich schon, dass meine Kollegin das gleiche Kind beobachtet.“

 

Umsetzungsorientierung

Die an effizienter, optimaler und vorbildlicher Umsetzung von Vorgaben orientierten Fachkräfte leiden ganz besonders unter ihrer Verausgabungsneigung: Sie haben permanent den Eindruck, nicht entsprechend der eigenen Überzeugungen und Ansprüche arbeiten zu können, den Anforderungen nicht zu genügen, so sehr sie auch über ihre Kräfte hinaus arbeiten.

Die Fachkräfte versuchen, möglichst systematisch alle Bildungsbereiche zu berücksichtigen und den Alltag optimal zu strukturieren. Dieser Anspruch, möglichst ‚alles’ abzudecken, führt zu einem Modus des ‚Abarbeitens‘, ohne dass die Fachkräfte sich ausreichend Zeit nehmen würden, einen eigenen reflexiven und leistbaren Umgang mit programmatischen Vorgaben und Methoden zu finden.

Die starke Effizienzorientierung tangiert auch die Beziehungsdimension der Arbeit: Die Bedarfe und Bedürfnisse der Kinder – und auch die eigenen – müssen den programmatischen Anforderungen nachgeordnet werden.

Der Modus des funktionalistischen Abarbeitens macht es den Fachkräften sehr schwer, wirklich vom Kind aus zu arbeiten; die Kinder geraten ihnen sozusagen im Alltagsstress aus dem Blick und die Fachkräfte verschleißen ihre eigenen Kräfte. Dies schlägt sich z.B. in einer systematisierten (stundenplanähnlichen) wöchentlichen Bildungsangebotsstruktur und auch in einer entsprechend vorsystematisierten Beobachtungsschematik nieder.

„Der ganze Alltag wird dokumentiert über Wochenpläne, (...) da wird eben farblich markiert nach den Farben vom Bildungsprogramm, was gemacht wurde, ob das Singen oder das Fingerspiel jetzt eher den musikalischen Schwerpunkt oder die Sprachförderung als Schwerpunkt hatte.“

Eine ganzheitliche Perspektive auf frühkindliche Bildungsprozesse droht hier verloren zu gehen. Dokumentation wird zu Buchführung und der beobachtende Blick wird mehr von den Farben des Bildungsprogramme gelenkt als von den Aktivitäten und Ausdrucksweisen der Kinder.

„Da finde ich selten mal Zeit mich gerade mal 10 Minuten am Tag raus zu nehmen und mich irgendwo hinzusetzen und zu schreiben, wo man dann aber Eingewöhnungsprotokolle schreiben muss, Aktivitätenspiegel, Situationsanalyse, also die ganzen Formblätter bedienen muss.“

Das Beobachten wird zudem häufig mit einem völligen „Herausnehmen“ aus der Situation und der Fokussierung auf ein einzelnes Kind verbunden.

„Ich möchte mein Schulkind beobachten, bei 20 Kindern wenn ich den ganzen Tag alleine bin, kann ich das nicht. Ich kann mich nicht in eine stille Ecke setzen und sagen, nun macht mal. Da fehlt dann wirklich der zweite Mann, wenn man sagt, du kannst jetzt mal machen, ich bin ja jetzt einmal wirklich ohne Nebenstörung.“

Möglichkeiten der systematischen Beobachtung von Gruppen und Gruppenprozessen werden kaum realisiert. Auch die optimale Entwicklungsförderung der Kinder wird sehr häufig mit Einzelförderung gleichgesetzt. Der ressourcenorientierte Blick auf die Kinder wird durch die starke Umsetzungs- und Effizienzorientierung verstellt.

„Wir beobachten zu viel. Wir haben einen Wust an Beobachtungsbögen und tun die Kinder tot-beobachten. Es würde mehr bringen, wenn man sich hinsetzt und Zeit hat, mit den Kindern etwas zu tun:“

Dass dies von den Fachkräften zum Teil selbst als problematisch wahrgenommen wird, dokumentiert sich in der Metapher des „Totbeobachtens“.

Die von uns rekonstruierte Umsetzungsorientierung ist sehr häufig damit verbunden, dass die Leitungen sehr anspruchsvoll sind und von ihren Teams eine möglichst vorbildhafte Umsetzung der Bildungsprogramme, von immer wieder neuen Projekten und Methoden erwarten

Die Fachkräfte selbst nehmen eine sehr hohe Verantwortung wahr und stellen sich selbst unter einen hohen Erfolgs- und Selbsterwartungsdruck. Der Leitung kommt hier wiederum eine besonders hohe Bedeutung zu: Ein hoher Erwartungsdruck von ihrer Seite verstärkt das Gefühl ‚getrieben’ zu sein und nie genug zu leisten.

Hier ginge es nicht nur um bessere Rahmenbedingungen, sondern darum, aus dem Modus eines beschleunigten Abarbeitens auszusteigen, und in der Hinwendung zu Kindern und Eltern sowie auch zu Teamkolleginnen hochwertige Interaktions- und Kommunikationsqualität zu schaffen. Die Teams sollten in einem kritischen und reflexiven Umgang mit den Bildungsprogrammen und im Vertrauen auf ihre pädagogische Reflexivität und Eigenverantwortung bestärkt werden.

 

Distanzierung und die Angst vor Überforderung

In der dritten Gruppe dominiert eine distanzierte, ablehnende Haltung gegenüber den Bildungsprogrammen und den mit ihnen verbundenen Aufgaben und Methoden. Das jeweilige Bildungsprogramm wird dann als Vorgabe von außen betrachtet, deren Umsetzung den Fachkräften abverlangt wird; das in ihnen implizierte Bildungs- und Erziehungsverständnis teilen sie nicht.

Die Teams leiden nicht nur darunter, dass sie die an sie gestellten Anforderungen unter den gegebenen Rahmenbedingungen für unrealistisch und eine Zumutung halten, sondern auch unter einem Orientierungsdilemma, weil sie auf der Grundlage von Vorgaben arbeiten bzw. arbeiten sollen, die sie im Grunde nicht teilen, für überflüssig halten.

"Wir müssen jeden Tag dokumentieren, oder sollte ich jeden Tag was aufschreiben, aber ganz ehrlich: das schaff ich nicht und ich mach es auch nicht. Ich bin jetzt 12 Jahre hier und es hat noch keiner danach gefragt."

Auf einer expliziten Ebene arbeiten sich diese Teams also daran ab, dass sie die Anforderungen des jeweiligen Bildungsprogramme umfänglich ‚abdecken‘ sollen, auf einer impliziten Ebene wird allerdings deutlich, dass sie an traditionellen Arbeitsformen und habitualisierten Orientierungs- und Handlungsmustern festhalten – das kann Verschiedenes sein und reicht von den ‚bewährten‘ Beschäftigungsangeboten bis zur am Jahreskreis orientierte Bastelpädagogik.

Was immer gut war, ist auch heute gut – hinter dieser Einstellung haben wir sehr häufig vor allem Angst vor dem Neuen und Überforderung gesehen. Wenn Fachkräfte betonen, dass sie all das, was aktuell von ihnen gefordert wird, ohnehin schon machen, dann ist diese Distanzierung häufig vor allem ein Ruf nach mehr fachlicher Begleitung, Beratung und Unterstützung.

In einigen Teams werden Bildungs- und Lerngeschichten geschrieben, um nach außen dokumentieren zu können, dass man seine Pflicht tut; es handelt sich aber um ‚ausgedachte‘ Texte ohne Bezug zu den Kindern. Beobachtung und Dokumentation wird vollständig im Rahmen von Zwang und Kontrolle verhandelt. Wenn nicht kontrolliert wird, ob man die Aufgabe erfüllt, dann macht man es auch nicht. Eine intrinsische und professionell motivierte Beobachtungshaltung ist hier nicht zu erkennen.

"Wenn ich sehe, wie die hier die Bildgeschichten schreiben, also dieses schwedische Modell, die Lerngeschichten, ja, dann schreib ich 18 Lerngeschichten, mir fällt das leicht. Ich sag mal, Papier ist geduldig! Wer kann denn das nachprüfen von unserer obersten Geschäftsreihe, ob ich wirklich alles richtig geschrieben habe."

Vielmehr wird eigene, alltägliche und beiläufige, nicht durch Methoden abgesicherte Beobachtungs- und z.B. auch Sprachförderpraxis als hinreichend und im Grunde sinnvoller als die neuen methodischen Vorgehensweisen angesehen. Hier dokumentiert sich, dass Fachkräfte vom Wert neuer Methoden überzeugt sein müssen, weil diese ansonsten in der Praxis nicht ‚ankommen‘.

Die Beobachtungshaltung in dieser Gruppe von Teams ist eher defizitorientiert: Die Sinnhaftigkeit des Beobachtens ergibt sich vor allem aus dem Aufspüren von Entwicklungsrückständen bzw. -auffälligkeiten und der dann daran anknüpfenden gezielten Förderung des Kindes. Der Anspruch, die Kinder möglichst gut zu fördern, kann hier nicht mit einem Anknüpfen an die Stärken und Kompetenzen der Kinder in Übereinstimmung gebracht werden.

Kennzeichnend für diese Teams ist, dass die Fachkräfte ihre Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten als sehr gering einschätzen: Sie erleben sich in nur geringem Maße als aktive und autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.e professionelle Akteure, deren Kompetenzen einbezogen und wertgeschätzt werden. Persönliche Sympathie und solidarischer Zusammenhalt sind dabei sehr wichtig, die Teams zeichnen sich nicht selten durch eine Art ‚friedlicher Koexistenz’ aus: Die KollegInnen geben sich gegenseitig emotionale Sicherheit, beschwören ihre Solidarität gegenüber den Zumutungen von außen (z.B. immer höheren Erwartungen an das, was sie leisten sollen) und schützen sich damit gegen ‚radikale‘ Umdenk- und Veränderungsprozesse. Kontroverse fachliche Standpunkte (auch wenn es diese gibt) werden nicht offen thematisiert, um den Zusammenhalt nicht zu gefährden.

Das Team wird hier in seiner Schutzfunktion oft geradezu beschworen: Die Arbeit mit den Kolleg_innen macht die Zeit- und Personalnot erträglich, man kann sich gemeinsam über Eltern aufregen, das Team ist ein positiver, kraftgebender Haltepunkt im zehrenden Alltag, eine Ressource zum Durchhalten. In diesem Kontext tragen die Kohäsionskräfte eines Teams nicht dazu bei, einen kritischen, diskursiven, reflektierten und fachlich begründeten – im besten Sinne des Wortes professionellen – pädagogischen Arbeitsmodus zu entwickeln. Wenn das „Team stimmt“, dann stimmt der Rest eben nicht immer und automatisch!

Im Spannungsfeld der hohen Ansprüche auf Veränderung, die von außen kommen, und der eigenen inneren Widerstände und Ängste gegenüber dem ‚Neuen‘, haben sich die Fachkräfte-Teams, die sich aktuell im Modus der Distanzierung und Ablehnung der Bildungsprogramme befinden, die aktuellen Anforderungen noch nicht wirklich ‚zu eigen‘ gemacht. Hier wäre eine grundlegende Arbeit an der professionellen Haltung notwendig und die Etablierung einer Teamkultur, die dies unterstützt.

 



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