Sprachentwicklung und Sprachbildung im Kindergarten

Inhaltsverzeichnis

  1. Geborgenheit und Resonanz
  2. Empathie und Sprache
  3. Sprachentwicklungsphasen
  4. Haltung der Erzieherin
  5. Dialogrunden und Erlebnisse der Kinder
  6. Nachdenken über das eigene sprachliche Handeln
  7. Literatur

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VII. Unterschiede im sprachlichen Können und die Haltung der Erzieherin

Es gibt große Unterschiede im sprachlichen Handeln der Kinder. Da möchte ein dreijähriges Mädchen gerne wissen, ob es zur Köchin gehen darf, um zu fragen, was es heute zu essen gibt. Zu seiner Erzieherin sagt es mit fragendem Blick: „Ute (so heißt die Köchin) kocht hat?“ Die Erzieherin nimmt die Frage auf und moduliert etwa folgende Antwort: „Du möchtest wissen, was Ute gekocht hat. Du darfst zu ihr gehen und sie fragen, was sie gekocht hat.“

Es ist denkbar, dass ein anderes dreijähriges Mädchen in dieser Situation einen Fragesatz exakt so formuliert: „Christina, kann ich mal in die Küche gehen? Ich möchte Ute fragen, was es heute zu essen gibt.“ Und es ist vorstellbar, dass dieses Mädchen kurze Zeit später seiner Erzieherin mit leuchtenden Augen mitteilt: „Ich habe Ute gefragt, was sie gekocht hat. Es gibt Nudeln mit Tomatensoße.“

Daran wird deutlich, dass Kinder in diesem Alter bereits über ein ausgeprägtes grammatikalisches Verständnis verfügen. Zwei weitere Beispiele sollen die große Spanne andeuten, in der sich gleichaltrige Kinder befinden können.

 

Beispiel: Begegnung mit einem Wildschwein

Die Gruppe war mit ihrer Erzieherin auf dem Weg zu einem Hausbesuch. An diesem Tag wurde Simon besucht. Auf dem Weg dorthin erzählte Anna ihr Erlebnis von der Begegnung mit einem Wildschwein. Simon kannte diese Geschichte noch nicht und wollte mehr erfahren. Anna hat dann so spannend erzählt, dass alle Kinder mit Interesse zuhörten.

„Es war ein schöner Tag im Sommer. Zuerst sind wir auf den Hof gefahren. Dann haben wir uns die Pferde angeguckt. Dann hat Papa das Wildschwein gestreichelt. Jetzt wird’s spannend. Ich wollte es nämlich auch mal ausprobieren. Denn hat es (das Wildschwein) gedacht, es wär was zu fressen – der Finger – und hat rein gebissen. Denn hab ich ganz laut geschrieen und geweint. Denn hat Papa da ein Taschentuch drauf gelegt. Denn haben die vom Pferdehof einen Notarztwagen geholt.  Denn bin ich da ins Klinikum rein gefahren. Dann, als wir da waren, sind wir rein gegangen. Ein Arzt hat mich untersucht. Zuerst musste ich den Finger in so ne Brühe halten, damit sich das nicht entzündet. Denn haben sie es erst mal genäht. Nein, vorher haben sie die Brühe erstmal ein bisschen abgetupft. Dann haben sie einen Verband, einen blauen, darum gewickelt. Vielleicht war’s auch ein Gips. Ich weiß nicht mehr genau – Verband oder Gips. Dann hab ich Gummibärchen und so ne Arztspritze gekriegt, wo man Wasser reinfüllen kann, zum Spielen. Zu Ende!“

 

Die Geschichte kann ich mitteilen, weil sie die Erzieherin als Lerngeschichte für das Kind aufgeschrieben hat. Sie war so sehr von der Erzählung beeindruckt, dass sie Anna einige Tage später bat, ihr die Geschichte noch einmal zu erzählen. Sie wolle diese für Annas PortfolioPortfolio||||| Ein Portfolio bezeichnet ursprünglich  eine Sammlung von Objekten eines bestimmten Typs. Im  Handlungsfeld frühkindliche Bildung werden Portfolios beispielsweise wie "Ich- .Mappen" für Kinder genutzt um eigene Fortschritte zu dokumentieren. Auch in Studiengängen gibt es Beispiele, wo Portfolios als Prüfungsleistung oder Dokumentation von Entwicklungen zählen können. aufschreiben.

 

Beispiel: Toter Käfer

Ein anderes Kinde kommt aufgeregt angerannt, fass die Erzieherin an der Hand  und führt sie an einen Tisch. Dort betrachten Kinder den Inhalt einer Schachtel. Ein Kind hatte tote Käfer mitgebracht. „Guck da din hat,“ sagt der dreijährige Junge, der bis vor wenigen Wochen noch nicht gesprochen hat.

 

Im ersten Fall ist es die große Differenziertheit und im zweiten Fall ist es die Tatsache, dass der dreijährige Junge überhaupt spricht. In diesem Fall sind es vier Wörter. „Guck  da din hat.“ Er meint, „guck doch mal, was der da in seiner Schachtel gesammelt hat.“

 

Die Erzieherin sagt, als sie mir diese Geschichten erzählt,  wahrscheinlich könne ich mir gar nicht vorstellen, wie glücklich sie über diese Leistung sei.

Der Junge fühlt sich wohl in der Gruppe, ist integriert, wird mit seiner Schwäche akzeptiert.  Das ist dann möglich, wenn nicht ein verengter Begriff von Bildung und Lernen  im Vordergrund steht,  sondern das Leben selbst – mit seinen oft schwierigen – aber auch seinen sehr schönen Seiten. Im Team und mit der behandelnden Logopädin, der Fachfrau für Integration, der Mutter und einer Mitarbeiterin der Frühförderstelle wurde gerade beraten, ob der Junge in der KITA bleiben oder einen Sprachheilkindergarten besuchen solle.

Die Fachfrauen haben sich für den Verbleib des Jungen im Kindergarten ausgesprochen. Zusätzlich erhält er eine logopädische Betreuung. Wenn die Kinder im Morgenkreis erzählen, meldet er sich auch zu Wort. Oft könne man nur erahnen, was er meine, aber alle Kinder hörten geduldig und mit Interesse zu. Sie wollen verstehen, was er meint. In diesem Verhalten zeigt sich Empathie.

 

Beispiel: „Keiner da bei meiner Bürste“

Faruk, vier Jahre, Familie mit 6 Kindern, Heimat Kosovo, besucht seit drei Monaten einen integrativen Kindergarten. Noch ist seine Beeinträchtigung, die sich u.a. in seiner noch gering ausgeprägten Sprachfähigkeit zeigt, nicht hinreichend diagnostiziert. Er kommt gerne, sogar die Mutter ist schon einmal mitgekommen.

Zur Situation: Am Wochenende werden die Zahnbecher gereinigt. Am Montag werden die Becher an ihren Platz gestellt und die Zahnbürsten werden von den Kindern wieder zugeordnet. Faruk fehlt an diesem Tag. Als er am Dienstag Zähne putzen will, ist seine Bürste nicht im Becher. Er kommt er ganz aufgeregt zu seiner Erzieherin und sagt:

„Keiner da bei meiner Bürste.“

Die Erzieherin sagt, es sei der schönste Satz des ganzen Jahres. Dieser Satz habe ihr den ganzen Vormittag über gute Laune gemacht. Und das geschehe auch immer dann, wen sie an diese Situation denken würde. Er könne seine Zahnbürste nicht finden, das wollte Faruk seiner Erzieherin mitteilen. Wir sehen, dass er noch Probleme in der Satzkonstruktion hat. Aber er konnte ausdrücken, dass es um seine Zahnbürste geht. Seine Erzieherin hat ihn verstanden. Das ist entscheidend.

Das sprachliche Handeln seiner Erzieherin können wir uns so vorstellen:

E: „Faruk, du wolltest Zähne putzen. Deine Zahnbürste war nicht an ihrem Platz. Ich weiß, wo sie ist. Komm, wir holen sie. Dann kannst du deine Zähne putzen.“ Seine Sprache hat im geholfen, an seine Zahnbürste zu kommen. Er kann sich freuen, dass er sein Ziel erreicht hat.

Faruk bekommt eine Logopädie-Therapie, er fühlt sich in der Gruppe wohl und macht insgesamt gute Fortschritte.

 

Ich erwähne diese Beispiele vor allem aus zwei Gründen:

Kinder sind verschieden, und sie sind in der Lage sich in ihrer Unterschiedlichkeit zu akzeptieren. Die Erzieherin freut sich über die sprachlichen Äußerungen und gibt den Kindern eine entsprechende Resonanz. Die Kinder fühlen sich in ihren sprachlichen Aktivitäten akzeptiert. Sie erleben das Verhalten der Erzieherin als Wertschätzung. Hier werden die Grundlagen für eine anhaltende Motivation gelegt und darauf kommt es an.

„Ich hoffe,“ sagt die Erzieherin, „dass sie einmal eine Lehrerin kriegen, die sie versteht. Und ich hoffe, dass wir ihnen was mitgegeben haben, was ein positives Grundgefühl in ihnen auslöst – ich hoffe, dass sie, wenn sie sich später einmal erinnern, das Gefühl haben, dass sie eine glückliche Kindergartenzeit hatten.“

 

Zu  einem späteren Zeitpunkt schreibt die Erzieherin für Anna, die eine unschöne Begegnung mit einem Wildschwein hatte, noch eine Lerngeschichte. Dabei wird der Blick bereits in die Zukunft gelenkt.

 

Eine Lerngeschichte für Anna und ihre Begegnung mit dem Wildschwein

Liebe Anna,

Vor einigen Tagen haben wir Simon zu Hause besucht. Auf dem Weg dorthin gingst du an meiner Hand. Wir unterhielten uns miteinander. Du erzähltest, du habest einmal einem Elch oder Hirsch mit einem Taschentuch die Nase abgewischt. Nachdem ich dich gefragt hatte, wo das gewesen sei, fiel dir ein, dass es beim Gehege am Kehr war. Ich erklärte dir, dass es am Kehr keine Elche gibt und das Tier deshalb sicher ein Hirsch gewesen ist.

Im Verlauf des Gesprächs kamen wir auf dein Erlebnis mit dem Wildschweinbiss zu sprechen. Simon kannte diese Geschichte noch nicht und wollte von dir mehr dazu erfahren. Du hast dann dein Erlebnis so spannend und interessant erzählt, dass alle Kinder um dich herum genau zuhörten. Deshalb habe ich dir später vorgeschlagen, mir diese Geschichte noch einmal zu erzählen, damit ich sie aufschreiben könnte. Ich habe sie dann auch aufgeschrieben und du hast das Wildschwein und deinen blutenden Finger dazu gemalt. Weil du so eine gute Geschichtenerzählerin bist, habe ich dich ermuntert mir weitere Geschichten zu erzählen. Die Geschichte mit dem Frosch aufzuschreiben, war dann sogar deine eigene Idee.

Wenn du bald selbst lesen und schreiben kannst, wird es dir bestimmt Freude bereiten, deine eignen erlebten oder erfundenen Geschichten aufzuschreiben.

 



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