Offener Kindergarten als kindzentrierter Pädagogischer Ansatz

Eine 25-jährige Entwicklung und ihr Bezugsrahmen

Inhaltsverzeichnis

  1. Der O.K. ist in seinem Kern ein Beziehungsansatz
  2. „Freiheit ist die Basis von allem – Weg und Ziel“

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Der O.K. ist in seinem Kern ein Beziehungsansatz


Wenn die neue Sicht vom Kind die Erziehung auf den Kopf stellt, dann müs­sen neue Akzente und ein neuer Kern der pädagogischen Arbeit die Folge sein. Heute kristallisiert sich das in der offenen Pädagogik eindeutig heraus. Das wird erkennbar in der veränderten Haltung zu den Kindern und der Art und Weise, wie Beziehungen gelebt werden.

  • Erzieherinnen sind sich bewusst, dass zu einer förderlichen und gedeih­lichen Entwicklung Sicherheit gebende Beziehungen entscheidend sind. Die Kinder bekommen ihre Zeit zum Ankommen und später wird vor­rangig darauf geachtet, ob das einzelne Kind sich wohl fühlt.
  • Erzieherinnen prägen den Alltag dadurch, Kinder besonders in ihrer Einzigartigkeit wahrzunehmen, diese zu verstehen und zu betonen.
  • Erzieherinnen verstehen sich als Begleiterinnen, manchmal auch als Assistentinnen (Reggio), damit jedes Kind seinen Platz im Kindergarten findet, eigene Lernwege geht und für sich eigenverantwortlich zu sorgen lernt.


Für diesen Weg der Hinwendung zum Kind sind Vertrauen, Annahme und unbedingte Wertschätzung das Grundgerüst. Das gilt prinzipiell ebenso im Kontakt mit den Kolleginnen und Eltern.


In dem Bemühen um offene Beziehungen zeigt sich die unsichtbare Sei­te pädagogischer Arbeit im Offenen Kindergarten. Sie ist nicht unter Qua­litätsaspekten zu erfassen, mit denen Gütesiegel verliehen werden; mit anderen Worten: durch emotionale Präsenz werden Kinder in ihren Besonderheiten wahrgenommen, um so ihr Wohl­ergehen und ihre Lernfreude zu fördern. Und so erfüllt sich hierdurch der schöne Satz des kleinen Prinzen (Saint-Exupéry): „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“


Spürbar wird das Ringen um gelingende herzliche Beziehungen zu Kin­dern durch das Schaffen einer entspannten Atmosphäre. Die Stimmig­keit ist auch daran ablesbar, dass die Kinder sich engagiert einlassen, gern kommen und erfahrene Zuwendung erwidern. Eine besondere Bedeutung bekommt inzwischen die Bindungstheorie und die damit verbundene Bin­dungsbeziehung. Sie ist für bestimmte Kinder eine wichtige Vorausset­zung für ihre lebendige Entwicklung. Auf diese Erfahrung sind besonders Krippenkinder angewiesen. Insgesamt gilt, dass den Kindern die Beziehung angeboten wird, die sie brauchen und als Bedürfnis signalisieren und su­chen. Das schließt nicht aus, distanzierten und eher verschlossen wirkenden Kindern verlässliche Beziehungsangebote zu machen, damit sie zu neuen emotionalen Erfahrungen kommen.


Der bekannte Hirnforscher G. Hüther stellt in seinen Vorträgen zwei Grundbestimmungen kindlicher Entwicklung heraus, die fest im Gehirn ver­ankert sind. Es sind die Erfahrungen engster, vertrauter Verbundenheit und die auf dieser Basis stattfindende Erfahrung des Wachsens. Damit kommt der neugeborene Mensch auf die Welt und will so weiterleben. Wachsen­wollen zeigt sich in der Offenheit und Lernfähigkeit, Entdeckerfreude und Gestaltungslust, mit der sich alle Kinder auf den Weg machen. All das kann jedoch verkümmern, wenn die Verbundenheit durch zufrieden stellende Be­ziehungserfahrungen ausbleibt oder unzureichend ist. Dann fehlt die Si­cherheit, sich auf das Leben einzulassen. Solche Kinder sind dann mehr oder weniger gefangen in ihrer Bindungsunsicherheit.


H. v. Hentig, der wohl bedeutendste Pädagoge des letzten Jahrhun­derts, nennt drei Grundbedingungen (Quelle unbekannt), die für ein gelin­gendes Leben und Lernen erfüllt sein müssen:

  • die Gewissheit erwünscht zu sein,
  • das Gefühl selbstverständlicher Zugehörigkeit,
  • die Erfahrung gebraucht zu werden.


Die Beziehungsprozesse mit dem einzelnen Kind sind eine unendliche Ge­schichte, denn die Entwicklung eines Kindes und sein Wachsen hat viele Seiten, geschieht in einem ständigen Auf und Ab und ist mit immer neuen Überraschungen verbunden. Erfreulich ist, dass sich in Offenen Kindergär­ten in den letzten Jahren die Kompetenzen im individuellen Umgang mit Kindern weiter ausgeprägt haben, ebenso die Bereitschaft zur Eigenreflek­tion und zur gemeinsamen Reflektion im Team und in Teilteams. Die Sen­sibilität ist gewachsen, Kinder mit ihren 100 Sprachen (Reggio) zu entde­cken. Hierbei sind Erzieherinnen offen mit allen Sinnen und zugleich offen für eigene Gefühle und Empfindungen. Offen, vorurteilsfrei, aufmerksam, achtsam und nicht selten neugierig in Beziehung zu sein, erschließt kind­liches Erleben und Verhalten im Kontext der Situation, schafft Nähe und ermöglicht Wertschätzung und Anerkennung, Auseinandersetzung, Kritik und Dialog. Es werden Stärken und Entwicklungsbedürfnisse von Kindern deutlich; werden sie reflektiert, führt das zu angemessener Unterstützung und Hilfe.


Eine offene, achtsame Beziehung ist eine Kunst, die immer wieder geübt werden muss. Sie macht es möglich, den Spuren und Impulsen der Kinder zu folgen. Voraussetzungen hierfür sind z. B. Präsenz durch innere Wachheit, in­nere Zeit und Aufmerksamkeit, um feinfühlig mitzuschwingen mit dem, was vom Kind kommt. Kindern Resonanz zu geben ist die Voraussetzung dafür, dass sie sich erwünscht und bestärkt und bestä­tigt fühlen. Resonanz und Spiegelung, deren Bedeutung durch die neuere Hirnforschung herausgestellt wird, führen zur Selbstfindung und Selbst­sicherheit und zu vertieften Beziehungen zu sich selbst. Sie bringen Kinder zu der Erfahrung, dass sie eins sein können mit sich und der sie umgebenden Welt. Über die sichere Verbundenheit und dem erlebten Vorbild entwickelt sich eine Vielfalt von Beziehungen zu anderen Kindern, Erwachsenen und in der Gemeinschaft durch angebotene Formen des Miteinanders.


Der Beziehungsansatz hat sich aus der Erkenntnis gebildet, dass Kinder zu ihrer Einzigartigkeit finden sollen, um so ihren Weg der Entwicklung zu gehen. Pädagogisch wird von Individualisierung gesprochen (siehe folgenden Kasten). Dadurch wird der Kindergarten zu einem Ort der Verschiedenheit und zu­gleich zu einem Ort des gemeinsamen Aufwachsens, worin sich alle gleich sind. Das soll nun mit dem nächsten Punkt vertieft werden.