Zeig mir, was du kannst

Zeigen können nur wir Menschen – und auch das nicht von Geburt an. Warum die Geste in den ersten Lebensjahren so wichtig ist und welche entscheidende Rolle wir Erwachsenen bei einer anderen Form des Zeigens spielen? Lesen Sie selbst.

Es scheint so simpel zu sein – und doch ist die Geste des Zeigens etwas Elementares. Indem wir anderen etwas zeigen, möchten wir mit ihnen in Kontakt treten, etwas teilen und uns über eine Sache oder eine Angelegenheit austauschen. Wir sehen einen schönen Sonnenuntergang und zeigen intuitiv dort hin: „Wow, schau mal, wie da drüben die Sonne untergeht!“

Gerade Kinder nutzen die Zeigegeste sehr gern, um etwas mitzuteilen. Natürlich auch in der Kita. Im Garten beobachtet ein zwölf Monate altes Mädchen eine Ameise und sucht den Blick der Pädagogin. Sie möchte wissen, ob die Erwachsene ebenfalls sieht, wie die Ameise hin und her läuft. Als sich ihre Blicke treffen, zeigt das Mädchen auf die Ameise und sagt begeistert: „Da!“ Die Pädagogin antwortet „Oh ja, eine Ameise!“, und lächelt das Mädchen an.

Das kann nur der Mensch

Beobachtet man Eltern-Kind-Paare im ersten Lebensjahr, dann fällt auf, dass uns die Geste des Zeigens sehr vertraut ist. Sie ist uns Menschen so selbstverständlich, dass wir davon ausgehen, dass wir mit dieser Fähigkeit geboren werden. Doch beobachtet man Kinder in den allerersten Lebensmonaten, dann sieht man, dass das Zeigen keine angeborene Fähigkeit ist. Wenn ein Elternteil einem sechs Monate alten Baby etwas zeigen möchte, zum Beispiel ein Mobile, daraufhin dorthin zeigt und sagt „Schau mal!“, wird das Baby an der Zeigegeste des Erwachsenen hängen bleiben. Der Blick des Babys wird sich auf den Finger des Erwachsenen richten und nicht auf das, was er zeigen möchte. Diese zutiefst menschliche Fähigkeit entwickeln Babys erst mit etwa neun Monaten. Der Anthropologe und Psychologe Michael Tomasello bezeichnet dies als Neunmonatsrevolution. Er stellt fest, dass etwa neun bis zwölf Monate alte Säuglinge neue soziale Verhaltensweisen aufzeigen, durch die sie sich von der sozialen Kognition anderer Primaten unterscheiden.

„Mit neun Monaten fangen Kleinkinder an, eine Reihe von Verhaltensweisen sogenannter gemeinsamer Aufmerksamkeit zu zeigen, die das plötzlich auftauchende Verstehen anderer Personen als intentionale Akteure widerspiegeln, deren Beziehungen zu äußeren Gegenständen nun verfolgt, gesteuert oder geteilt werden können“, schreibt Tomasello.

Ihm zufolge ist das Wesentliche an diesen neuen Verhaltensweisen, dass sie nicht mehr dyadisch, sondern triadisch sind. Vor dem neunten Lebensmonat interagieren Säuglinge entweder dyadisch mit einem Gegenstand oder sie kommunizieren dyadisch mit einem anderen Menschen. Sie können sich aber nicht gleichzeitig auf einen Gegenstand und einen Interaktionspartner konzentrieren. Eins von beiden wird ignoriert. Im Alter von neun bis zwölf Monaten ändert sich das. Ab diesem Zeitpunkt können Kleinkinder ihre Interaktion mit Gegenständen und Menschen koordinieren, indem ein referenzielles Dreieck von Kind, Erwachsenem und Gegenstand oder Ereignis entsteht, auf das beide ihre Aufmerksamkeit richten. Die triadische Kommunikation scheint es nur bei Menschen zu geben.

Tomasello sowie andere Theoretiker und Theoretikerinnen behaupten, „dass der bloße Akt des Deutens auf einen Gegenstand gegenüber jemand anderem zum alleinigen Zweck der Aufmerksamkeitslenkung ein spezifisch menschliches Kommunikationsverhalten ist“. Tomasello erklärt dieses menschliche Phänomen anhand seiner Simulationserklärung, die besagt, dass Säuglinge andere Lebewesen so verstehen, wie sie auch sich selbst verstehen. Säuglinge, die jünger sind als neun Monate und sich selbst nur als Lebewesen verstehen, das die Fähigkeit besitzt, Dinge zu verursachen, verstehen auch andere Menschen so. Ab dem neunten Monat fangen Säuglinge an, sich selbst als intentionale Akteure zu verstehen. Ab diesem Zeitpunkt verstehen sie auch andere Menschen als intentionale Wesen, also Wesen, in deren Verhalten Ziel, Aufmerksamkeit und Verhaltensstrategie miteinander verknüpft sind. Kinder wenden also das, was sie bereits an sich selbst erfahren, an, um andere Menschen zu verstehen. Laut Tomasello verstehen Individuen demzufolge „andere Personen anhand einer Analogie mit dem Selbst, da die anderen ,wie ich selbst‘ sind, und zwar so, wie sie es bei unbelebten Gegenständen nicht tun, da diese eben nicht ,wie ich selbst‘ sind“.

Ein Leben lang zeigen

So entwickeln Eltern und Kind oder auch pädagogische Fachkräfte und Kinder ein gemeinsames nonverbales Interaktionssystem, das gut funktioniert. Zeigt das Kind beispielsweise auf den Keks und macht dabei Laute wie „Äh, äh!“, weiß der Erwachsene sofort, was dies bedeutet: Das Kind möchte den Keks haben. Mit der Zeit wird das nonverbale Interaktionssystem dann Stück für Stück durch ein verbales System ergänzt. Beim Übergang zeigen sich häufig Misserfolge. Für das Kind hat ein Wort eine ganz spezifische Bedeutung; wenn es zum Beispiel „Essen!“ sagt, meint es Keks. Für die Mutter ist Keks aber nur eine von vielen denkbaren Bedeutungen aus der Kategorie Essen. Solche Missverständnisse ziehen Konsequenzen in der kindlichen Vorstellung mit sich, die durch den Prozess des gemeinsamen Aushandelns von Bedeutungen wieder in Ordnung gebracht werden müssen. In der Übergangsphase, in der dem Kind noch nicht alle Wörter zur Verfügung stehen, war das Zeigen dann deutlicher und hat vor allem schneller zum Erfolg geführt.

Doch Sprache schafft nun eine neue Möglichkeit des Verbundenseins, indem die persönliche Weltkenntnis nun verbal mit anderen geteilt werden kann, und nicht mehr ausschließlich durch das Zeigen. Doch die Geste des Zeigens bleibt ein Leben lang wichtig. Immer wieder zeigen wir uns gegenseitig Dinge und Phänomene, die uns inspirieren, begeistern, die wir schön, irritierend oder einfach aufmerksamkeitserregend finden.

Die Fachkraft als Vorbild

Pädagogisch betrachtet lässt sich die Bedeutung der Zeigegeste aber auch noch weiterdenken. Wenn wir Kindern bewusst etwas zeigen möchten und es nicht mehr nur darum geht, einen Gegenstand oder ein Phänomen zu zeigen, sondern etwa darum, das Kind mit kulturellen Techniken bekannt zu machen, dann wechseln wir in eine andere Form des Zeigens. Wir tun etwas, und indem wir es selbst tun, zeigen wir dem Kind, wozu es ein bestimmtes Material nutzen kann oder wie es eine bestimmte Technik einsetzen kann.

Es scheint kein Zufall zu sein, dass gerade kulturelle Techniken seit jeher von Generation zu Generation weitergegeben werden. Im Umgang mit Materialien und Werkzeugen können Handlungsweisen nur teilweise über Exploration erkundet werden. Es wäre ein großer Zufall, wenn Kinder von sich aus entdeckten, dass Aquarellstifte nur mit Wasser zum Einsatz kommen können.

Bestimmte kulturelle Techniken würden verschwinden, würde man sie nicht weitergeben, wie das Stricken oder Häkeln. Das Kennenlernen bestimmter kultureller Techniken ist Voraussetzung dafür, diese kreativ einsetzen zu können. Ein bestimmtes Know-how im Umgang mit Materialien und Werkzeugen ist eine wichtige Grundlage, um vielfältig und kreativ gestalterisch tätig werden zu können. Nur wer verschiedene Materialien und Werkzeuge und deren Umgangsweisen kennt, kann sie bei Bedarf einsetzen und für vertiefende Erfahrungen heranziehen.
Wenn der Unterschied zwischen Lehm, Ton und Gips bekannt ist, kann besser eingeschätzt werden, welches Material in welcher Situation am besten eingesetzt werden kann. Spätestens seit den Studien des kanadischen Psychologen Albert Bandura zum Lernen am Modell wurde die Bedeutung des Lernens durch informelle Beobachtung wissenschaftlich anerkannt.

Der Prozess des Modell-Lernens kann sowohl bewusst als auch unbewusst stattfinden. Wichtig ist vor allem die Aufmerksamkeit des Lernenden. „Damit Beobachtungslernen stattfindet“, so der Psychologe Hans-Peter Langfeldt, „muss der Beobachtende das Modell aufmerksam beobachten, das beobachtete Verhalten behalten können sowie fähig und motiviert sein, es auszuführen.“

Das Lernen am Modell wird folglich in zwei Phasen unterteilt:
  1. Aneignungsphase
  2. Ausführungsphase

Während sich in der Aneignungsphase vornehmlich Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozesse vollziehen, zeigt sich bei Kindern in der Ausführungsphase das gelernte Verhalten auf der Performanz-Ebene, zum Beispiel durch motorische Reproduktion.

Wenn sich Pädagoginnen und Pädagogen mit ihren eigenen Interessen und Vorlieben im pädagogischen Alltag einbringen und somit ein bestimmtes Engagement zeigen, dann ist auch davon auszugehen, dass sich Kinder durch das Modell-Lernen nicht nur bestimmte Tätigkeiten aneignen. Sie orientieren sich nicht nur daran, was die pädagogische Fachkraft tut, sondern vor allem, wie er oder sie es tut. Diesem Aspekt wird besonders in der WaldorfpädagogikWaldorfpädagogik|||||Die Waldorfpädagogik wird der Reformpädagogik zugeordnet und wurde von Rudolf Steiner begründet (1861–1925). Seine Pädagogik basiert auf einer von ihm entwickelten Menschenkunde, die spirituelle Weltanschauung, fernöstlicher Lehren sowie naturwissenschaftlichen Erkenntnisse benhaltet. In Waldorfkindergärten sollen ErzieherInnen den Kindern durch Tun und schaffen ein Vorbild geben. Naturmaterialien sind häufig Bestandteil der Einrichtung und dienen als Lern- und Spielanreiz. Beachtung geschenkt.
Dies beschreibt der Diplom-Pädagoge und Lehrer Wolfgang Saßmannshausen wie folgt: „Die Art und Qualität, in der der Erwachsene in seinen Handlungen lebt, gestaltet in entscheidender Weise das freie Spiel des Kindes. Die Inhalte des Spiels sind dem Lebenszusammenhang des einzelnen Kindes entnommen, aber die Intensität, mit der ein Kind frei in die Gestaltung seines Spiels einritt, korreliert unmittelbar mit der Intensität, mit der der das Kind führende Erwachsene in seinem Lebenszusammenhang steht.
So wie der Erwachsene Leben vorbildet, so steigt das Kind in seinen Zusammenhängen in seine Tätigkeiten ein. Nachahmung ist somit nicht bezogen auf eine inhaltliche Führung des Kindes im Sinne einer Aufforderung zur Imitation eines Vorgemachten, sondern beschreibt, wie das Kind sich anschließt an die im Erwachsenen erlebte Intensität und Qualität, wie dieser sich in seinen Handlungen offenbart.“

Die Beschreibung folgender Situation soll dies verdeutlichen: „Eine typische Situation des Kindergartengeschehens: Die Erzieherin ist mit drei, vier Kindern während der Freispielzeit beschäftigt, die Blumen auf der Fensterbank umzutopfen. Die anderen Kinder der Gruppe spielen innerhalb des Gruppenraumes in kleinen Gruppen oder allein. Die Atmosphäre ist von Schaffensfreude gekennzeichnet. Die Spielsituationen der Kindergruppen zeigen völlig verschiedene Inhalte. Die Erzieherin wird von einer Kollegin aus der Nachbargruppe gebeten, kurz zu einem Gespräch ins Büro zu kommen. Die Jahrespraktikantin übernimmt die Aufgabe der Erzieherin, das Umtopfen der Blumen fortzusetzen. Nach ganz kurzer Zeit verliert das Freispiel der Kinder seine konstruktive Qualität. Streitigkeiten unter den Kindern entstehen, der Geräuschpegel nimmt merklich zu“, so Saßmannshausen.
Dies könnte damit erklärt werden, dass Kinder das Tun der Erwachsenen und gerade auch die Art und Weise, wie sie etwas tun, beobachten und sich im Sinne des mimetischen Lernens kulturelle Ausdrucksformen sinnlich-körperlich zu eigen machen. „Mimetisches Lernen bezeichnet nicht bloßes Imitieren oder Kopieren, sondern einen Prozess, in dem in der mimetischen Bezugnahme auf andere Menschen und Welten eine Erweiterung der Weltsicht, des Handelns und Verhaltens erfolgt“, schreibt der Anthropologe und Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf. „Mimetisches Lernen ist produktiv; es ist körperbezogen und verbindet den Einzelnen mit der Welt und anderen Menschen; es schafft ein praktisches Wissen und ist daher für soziales, künstlerisches und praktisches Handeln konstitutiv.“

In meiner Dissertation konnte ich erforschen, wie die pädagogische Fachkraft durch vorahmende Tätigkeiten immer wieder zum Modellgeber oder zur Modellgeberin für mimetisch-performative Lernprozesse wird. In der Lernwerkstatt Natur konnte beobachtet werden, dass Situationen, in denen die pädagogischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eigenen praktischen Tätigkeiten nachgingen, Kinder dazu inspirierten, diese Tätigkeiten aufzugreifen und in ihrer eigenen Art und Weise zum Ausdruck zu bringen. So wurde das Anzünden des Kamins im Wald im Spiel aufgegriffen, indem die Kinder ein Lagerfeuer gemacht haben. Und im Werkbereich wurden Dinge kreiert, die vorher in ähnlicher Weise von den Erwachsenen umgesetzt worden sind, wie das Verbinden von Stöcken mit Draht oder das Gestalten eines Turmes durch das Aneinanderkleben von Korken mithilfe einer Heißklebepistole.

Das Zeigen – in welcher Form auch immer – ist eine wichtige didaktische Form, die auf eine andere Art und Weise als das Erfahrungslernen Selbstbildungsprozesse herausfordern kann.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 6-2021, S. 8-11


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