Ich sehe was, was du noch nicht siehst

Es gibt Kinder, deren Verhalten für Fachkräfte ein Rätsel ist. Was hilft, wenn sich dann ein Gefühl der Ohnmacht breitmacht? Der Blick von außen. Er kann unter Umständen schonungslos offenlegen, dass ein Kind noch nicht richtig in der Kita angekommen ist. Drei wesentliche Faktoren sind ausschlaggebend, um das zu ändern. Welche das sind? Lesen Sie selbst.

Noah braucht permanent eine Eins-zu-eins-Betreuung, sagen seine Fachkräfte. Bekommt er die nicht, gibt es Krach mit den anderen Kindern. In der Regel ist also eine Erzieherin damit beschäftigt, mit Noah ein Gesellschaftsspiel zu spielen. Weil dieses klare Regeln hat, laufen die Partien recht gut ab, auch wenn Noah gern bestimmen möchte. Das Gefühl des Jungen, manipuliert oder bevormundet zu werden, erleben die Erzieherinnen als sehr anstrengend. In den Freispielphasen hat er große Schwierigkeiten, sich allein oder mit anderen Kindern zu beschäftigen. Manchmal gibt es jedoch kurze Momente, in denen es Noah gelingt, für sich zu spielen. Dann hegen alle die Hoffnung, es möge immer so sein. Mit diesem Gefühl geht der Impuls einher, ihn jetzt bloß nicht zu stören, um sich auch anderen Kindern oder Aufgaben widmen zu können.

Bei meinem Besuch in der Kita halte ich einen dieser Momente mit der Kamera fest. Noah, der knapp viereinhalb Jahre alt ist, spielt mit ein paar Schleichtieren. Immer wieder beobachtet er dabei aber auch die anderen Kinder. Nach einer Weile wird deutlich: Noah ist nicht hinreichend in sein Spiel vertieft. Als er es abbricht, aufsteht und zu den anderen geht, gibt es direkt einen der häufigen Konflikte, da sich die anderen durch ihn gestört fühlen. Eine Kollegin versucht den Konflikt zu entschärfen. Sie bittet Noah, die anderen Kinder in Ruhe spielen zu lassen, und fordert ihn auf, seine Schleichtiere wegzuräumen, wenn er damit nicht mehr spielen möchte.

Doch der Junge verweigert sich und wechselt in die ihm so vertraute Rolle des Provokateurs. Er zeigt sich uneinsichtig und sehr redegewandt. Die Erzieherin erlebt sich wieder einmal in einem Konflikt mit ihm und wirkt zunehmend hilflos.

Wir schauen uns die Szene, in der Noah mit den Schleichtieren spielt, am nächsten Tag in der Dienstbesprechung an. Hier erkennen die pädagogischen Fachkräfte, dass sich Noah nicht wirklich in sein Spiel vertieft. Er scheint die Figuren nur kurz zu berühren, während er immer wieder zum Spiel der anderen schaut. In seinem beobachtenden Blick wird auch sein Bedürfnis nach Beziehungen deutlich, das jedoch von den anderen Kindern hier nicht erwidert wird. Mit der anschließenden Weigerung, die Schleichtiere wegzuräumen, geht er in die ihm vertraute Konfliktbeziehung.

Dauernd und immer im Fokus: die Konflikte

Ich beobachte in der Beratung sehr viele solcher Szenen. Kinder wie Noah definieren sich sehr stark über die Beziehungsebene, und es gelingt ihnen immer nur kurz, in Handlung zu kommen. Bei Noah scheint die Trennung seiner Eltern einen Anteil daran zu haben. Auch sie beschreiben den Alltag mit Noah als sehr anstrengend, da er ständig ihre Aufmerksamkeit einfordert, sich nur selten allein beschäftigt. Er will immer alles bestimmen, provoziert viele Konflikte und lässt sich am besten mit bewegten Bildern beruhigen.

In der Beschreibung der Eltern und durch meine Beobachtung in der Kita wird eine klassische Dynamik deutlich: Bei einem Kind, das uns Erwachsene herausfordert, indem es oft Konflikte heraufbeschwört, genießen wir die kurzen Momente, in denen es sich allein beschäftigt. Wir nutzen diese Augenblicke, um uns zu erholen oder anderen Aufgaben nachzugehen. So bleibt das Kind in seinem Spiel allein, und wir erleben es oft nur in den Konfliktmomenten.

Deswegen braucht es eine Gegenbewegung. Denn das Kind benötigt unsere Aufmerksamkeit, vor allem dann, wenn es eigenes Spiel oder Handlungen aus intrinsischer Motivation zeigt – mögen diese auch noch so kurz oder zart sein. Genau in solchen Situationen braucht das Kind die Aufmerksamkeit sowie die Worte des Erwachsenen, die seine Initiativen und sein Spiel begleiten. Es muss das Gefühl haben, in unseren Augen spielend oder handelnd zu existieren, wie es der französische Pädagoge und Experte für Psychomotorik Bernard Aucouturier sagt. Kinder wie Noah müssen lernen, sich stärker über das Spiel oder die Handlung zu definieren, damit ihre Abhängigkeit von Beziehungen nicht ihr Selbsterleben bestimmt.

Wenn sich die Bindung zum Spiel oder zur Handlung vertieft, entsteht zudem oft eine Verbindung zum Ort, an dem diese ausgeführt werden. Bei meinem nächsten Besuch spielt Noah in der Bauecke. Er beginnt, ein Gehege um ein paar Schleichtiere herumzubauen. Ich freue mich zu sehen, wie die Fachkraft am Boden sitzt und sein Spiel mit Worten begleitet. Denn: Sitzt eine Erzieherin neben einem Kind am Boden, signalisiert sie unbewusst „Ich habe Zeit“ und hilft dem Kind so, sich besser mit Ort und Situation zu verankern. Es wird deutlich, dass Noah ihre Anwesenheit genießt. Bei der Konstruktion des Zaunes, den er um die Zootiere baut, folgt er einer visuellen Struktur. Er macht keine Spieltöne, wenn er weitere Tiere in das Gehege stellt, sondern ist mehr damit beschäftigt, die Anzahl der Tiere zu bestimmen.

Noah macht hier noch kein Rollenspiel, wirkt jedoch konzentriert und zunehmend engagiert, da er durch die Erzieherin in seinem Spiel begleitet wird. Er beobachtet jetzt nicht, was die anderen machen, sondern bleibt bei seinen Aktivitäten. Natürlich können wir ein Kind wie Noah nicht den ganzen Tag begleiten, da es auch noch andere Aufgaben in der Kita oder zu Hause gibt. Doch die Momente der Entwicklungsbegleitung, in denen wir mit unseren Augen, Emotionen und Worten ausschließlich bei den Initiativen des Kindes sind, geben dem Spiel eine größere Bedeutung. Das Kind erlebt dadurch eine intensivere Verbindung zu seinem Spiel. Wenn wir uns dann anderen Aufgaben widmen müssen, hat es sich als zielführend erwiesen, wenn wir das Kind kurz berühren, bevor wir gehen, und ihm dadurch signalisieren, dass wir zurückkommen.

Begleiten wir das Spiel des Kindes mit unseren Worten und Emotionen, sind wir auch in unserer Abwesenheit noch bei ihm präsent. Das wird deutlich, wenn uns das Kind zeigen möchte, was es in der Zwischenzeit gebaut oder gespielt hat. Das Spiel wird so zu einer Art Übergangsobjekt. In der Folge können wir die Abstände zunehmend verlängern.

„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“

Bei meinem dritten Besuch in der Kita sitzt Noah zusammen mit zwei Mädchen auf einer Weichbodenmatte, die vor einer Kletterwand liegt. Er ist sehr intensiv ins Spiel vertieft und hat einen guten Kontakt zu den Mädchen. Es gibt viele Dialoge, die sich auf ihr Spiel beziehen, und Noah benutzt Worte wie „Wir“, „Warte“, „Moment“. Sie zeigen, dass er in einer kleinen Gemeinschaft agiert. Seinen eigenen Initiativen und denen der anderen folgt er zudem mit seinen Augen. Dieses intensive Spiel beobachte ich eine Viertelstunde, und es wird deutlich, dass Noah jetzt in Beziehung zu anderen ist. Das ist eine erhebliche Entlastung für ihn, denn hier können wir über das gemeinsame So-tun-als-ob-Spiel ein Stück weit den Mustern der Realität entfliehen. Wie hat es der berühmte deutsche Dichter Friedrich Schiller einst so passend formuliert? „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Und auch die Fachkräfte genießen es, dass die Beziehung von Noah zu den anderen Kindern sie entlastet. Als ich im Nachgespräch erfahre, dass der Junge seit einer Woche täglich im Bewegungsraum ist, sind für mich die wesentlichen Komponenten erfüllt, die einem Kind dabei helfen, sicher in der Kita anzukommen. Die intensive Beziehung zur Handlung, zu anderen Kindern sowie zu einem Raum, in dem man sich gern aufhält, sind drei entscheidende Faktoren, die zur Zufriedenheit und Stabilisierung beitragen.

Das Spiel mit den Mädchen auf der Weichbodenmatte ist weiter intensiv, als eine Erzieherin den Raum betritt. Es ist nicht klar, wodurch sich genau diese Veränderung ergibt, doch plötzlich wird Noah in seiner Sprache etwas albern. Die Kollegin beobachtet die Situation einen Moment lang, bis das Bein eines der Mädchen zwischen Matte und Wand eingeklemmt wird. Das ist auch vorher schon viele Male passiert. Die Kinder hatten einem solchen Vorkommnis im Eifer des Gefechtes jedoch keinerlei Bedeutung gegeben, da es Teil des Spiels war.

Als die Erzieherin das Mädchen auf ihren Fuß anspricht, sagt das Mädchen „Aua!“, und die Kollegin bittet Noah, ein Kühlkissen zu holen. Dieser protestiert und behauptet, unschuldig zu sein, woraufhin die Erzieherin ihn daran erinnert, wie wichtig es sei, vorsichtig zu sein. Noah sagt: „Ich bin vorsichtig“, und es beginnt ein Gespräch, in dem es um Rechtfertigungen, Erklärungen und Belehrungen geht. Durch diese Situation, die im Kita-Alltag eigentlich typisch ist und in die jeder geraten kann, verändert sich die gesamte Atmosphäre im Raum. Der Stimmungswechsel veranlasst die Mädchen dazu, den Raum zu verlassen. Hatte Noah eben noch die Bindungsebene Spielpartnerinnen – Handlung – Ort, bindet er nun stattdessen Erwachsenen über ein ihm sehr vertrautes Konfliktgespräch.

In der anschließenden Videobeobachtung im Team nehmen wir uns viel Zeit, um uns mit der Veränderung zu beschäftigen, die wir zusammen beobachten. Das Spiel von Noah ist viel intensiver geworden und die pädagogischen Fachkräfte fühlen sich von ihm nicht mehr so eingenommen. In seinem Spiel mit den anderen Kindern wird auch seine Kompetenz zur Kooperation, zum Abwarten und Positionen tauschen deutlich. Für die Erzieherinnen ergibt sich in der Videobetrachtung ein differenzierteres Bild von Noah und seinen Möglichkeiten, mit den anderen zu interagieren.

Eine Fachkraft betritt die Szene und verändert einfach alles

Als wir dann die Szene betrachten, in der die Erzieherin den Raum betritt, fällt es der Kollegin wie Schuppen von den Augen: Sie hat dem Spiel der Kinder mit ihrer Intervention eine deutliche Wendung gegeben. Im Erleben der Kinder stehen die Erwachsenen für das Gesetz oder für Recht und Ordnung. So kann es bei einem vermeintlichen Konflikt sein, dass der Erwachsene als Richter fungieren soll. Wenn wir uns dieser Dynamik nicht bewusst sind, verleiten uns einzelne Kinder unbewusst dazu, die Rolle des Richters oder der Richterin zu übernehmen.
In der Videobetrachtung haben wir nun die Möglichkeit, diese Dynamik zu erkennen und andere Handlungsoptionen durchzuspielen. Die Kollegin sagt mit etwas Ärger über sich selbst: „Mann, die klettern da ja wie an einer Felswand, bis ich in die Situation komme!“ Ich antworte darauf: „Ja, hier genau liegt unsere Chance, neue Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die uns in der Regel immer zur Verfügung stehen, doch für die wir im Alltag oft blind sind.“ Ich bitte die Kollegin, die Worte zu wiederholen, die sie eben gesagt hat, und frage, welche inneren Bilder ihr Satz enthält. Nach einer Weile sagt sie: „Die Felswand!“, und ich antworte: „Ja hier liegt eine mögliche Handlungsoption!“ Denn wenn die Kinder an einer Felswand klettern und der Fuß des Mädchens in einer Felsspalte eingeklemmt ist, so sind auch die Schmerzen Teil dieses Spiels. Das kindliche Rollenspiel ist in der Lage, die Realität zu verändern und zu entdramatisieren. So schafft es eine Distanz zum eigentlichen Erleben.

Hier ist eine Parallele zu der Erfahrung zu sehen, die die Fachkräfte bei der Beratung machen. Sie erhalten neue Handlungsimpulse und die Möglichkeit, den pädagogischen Alltag differenzierter zu betrachten. Da gibt es die Möglichkeit der Entwicklungsbegleitung als Hinführung zum vertiefenden Spiel. Und außerdem die drei wichtigen Bindungsfaktoren: Beziehung zur Handlung, Beziehung zu anderen sowie Beziehung zum Ort. Weiter gibt es den Reichtum an inneren Bildern, die dem Kind helfen, das Spiel weiterzuführen und mehr Distanz zur Alltagsrealität aufzubauen. Bei vielen Konflikten reduzieren wir uns auf ein reines Beziehungserleben, und wir spüren dann sehr oft unsere eigene Ohnmacht. Wenn wir uns über die Handlungsmöglichkeiten allerdings bewusster werden und uns stärker handelnd erleben, überwinden wir, wie es die Psychomotorik-Therapeutin Marion Esser schreibt, die diffusen Gefühle der Ohnmacht und der Hilflosigkeit.


LITERATUR
  • AUCOUTURIER, BERNARD (2005): Der Ansatz Aucouturier. Handlungsfantasmen und psychomotorische Praxis. Bonn: Proiecta Verlag. Seite 84.
  • ESSER, MARION (2009): Beziehung wagen. Mit Körper und Bewegung (psycho-) therapeutisch arbeiten. Bonn: Proiecta Verlag. Seite 37.
  • KOKEMOOR, KLAUS (2018): Das Kind, das aus dem Rahmen fällt. Wie Inklusion von Kindern mit besonderen Verhaltensweisen gelingt. Munderfing: Verlag Fischer und Gann. Seite 231.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 7-2021, S. 8-11


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