Fachbeiträge

Der Kindergarten im Flüchtlings- und Vertriebenenlager

Bisher wurde von den einschlägigen Publikationen zur Historiographie des Kindergartenwesens der Flüchtlings-/Vertriebenenkindergarten der Jahre nach 1945 nicht berücksichtigt. Vorliegender Beitrag soll ein Anfang sein, die bestehende Lücke zu schließen und zu weiteren Forschungen anregen.

Nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur entwickelte sich durch die Teilung Deutschlands der Kindergartenbereich sehr unterschiedlich (vgl. Berger 2016). Ob im Osten, Westen, Süden oder Norden des geteilten Landes, die Not der Menschen, insbesondere in den zerstörten Großstädten, war groß. Erschwerend kam hinzu, dass ein massiver Flüchtlingsstrom aus den östlich der Oder und Neiße gelegenen Gebieten des ehemaligen Deutschen Reichs einsetzte. Aber auch aus dem Sudentenland (deutsch besiedeltes Gebiet in der Tschechoslowakei) sowie aus Siedlungsgebieten in Ungarn, Rumänien und (ehemaligen) Jugoslawien hatte man die deutschstämmige Bevölkerung vertrieben. Bis etwa 1950 wurden über 12 Millionen deutsche und deutschstämmige Heimatvertriebene in Westdeutschland (seit 1949 BRD) und Ostdeutschland (seit 1949 DDR) aufgenommen.

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Die allgemein vorherrschende Wohnungsnot, zumal unzählige Gebäude durch Kriegseinwirkung zerstört waren, führte zur Einrichtung sogenannter Flüchtlings-/Vertriebenenlager. Diese bestanden zum größten Teil aus Holzbaracken, in welchen vorher Zwangsarbeiter und / oder Kriegsgefangene unter erbärmlichen Bedingungen gehaust hatten. So waren z. B. in München-Allach auf dem Gelände des Flüchtlings-Vertriebenenlagers vorher 1.300 französische Kriegsgefangene untergebracht. Und in Bernreuth (Oberpfalz) war das Flüchtlings-/Vertriebenenlager in den Jahren 1937 – 1945 von der dort „stationierten Heeresbauleitung als Arbeitslager aufgebaut worden mit dem Ziel, Wohnungen für etwa 1.500 Arbeiter zu schaffen. Diese Arbeiter hatten die Aufgabe, das Militärlager West bei Bernreuth mitsamt seiner Infrastruktur, Schießbahnen und Zieleinrichtungen aufzubauen... Im Jahre 1945 besteht es aus etwa 25 Bracken der Größe 40 x 12 m“ (Kugler 2000, S. 552). Aus heutiger Sicht schwer vorstellbar ist die Nutzung bestehender Konzentrationslager als Flüchtlings-/Vertriebenenlager, zum Beispiel in Dachau.

Die Behausungen der einzelnen Familien waren nur „durch eine Bretterwand oder eine Pappwand von den Nachbarn getrennt“ (Schuster 2019, S. 12). Zeitweise lebten in manchem Barackenlager 500 bis 800 „Neubürger“ und mehr, darunter eine beachtliche Anzahl von noch nicht schulpflichtigen Kindern. Es war für die Bewohner ein „Gebot der Stunde, dort Kindergärten zu errichten“ (ebd. S. 13).

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(Quelle: Hans-Jürgen Kugler)




Beispielsweise wurde in München, wo es an die 20 Lager mit über 6.000 Bewohnern gab, bereits im Mai 1946 im Zuge der „Hilfe zur Selbsthilfe“ auf dem Gelände des Flüchtlingslagers im Stadtteil Allach eine Einrichtung für Kinder unter sechs Jahren ins Leben gerufen. Diese „kamen aus schwierigen Verhältnissen. Viele Mütter waren alleinerziehend, da die Männer sich noch in Kriegsgefangenschaft befanden oder sich während der Flucht von der Familie bewusst absetzten. Waren Väter vorhanden, waren diese zum großen Teil Alkoholiker. Der Mangel an seelischem familiärem Gleichgewicht hatte die Beziehung der Kinder zu den Eltern schwer belastet... Im kalten Winter 1946/47 waren alle anwesenden Kinder, die obwohl sie mehrere Kleidungsstücke übereinander angezogen hatten und weinend vor Kälte in den Kindergarten kamen, zusammengepfercht in einem Raum, der beheizt werden konnte. Dort herrschte immerhin 14 Grad Wärme. Trotzdem verharrten die Kinder lange Zeit in Erstarrung und Stumpfheit. Sie konnten nur schwer zu Spiel sowie anderen Tätigkeiten motiviert werden... Da es im Flüchtlingskindergarten an einfachstem Spielzeug fehlte, mussten die Betreuerinnen kreativ sein, indem sie selbst Spiel- und Arbeitsmaterialien herstellten“ (Schuster 2019, S. 21 ff.). Heute erinnert ein Gedenkstein an das Flüchtlingslager, nicht aber an den Kindergarten. Der Text der Erinnerungstafel lautet:

berger3Gedenkstein am ehemaligen Vertriebenen-/Flüchtlingslager in München-Allach (Quelle: Schuster 2019, S. 34)„Auf diesem Gelände stand das Lager III. 1300 französische Gefangene des 2. Weltkrieges waren darin untergebracht. Nach 1945 fanden in den Holzbaracken ca. 1500 Vertriebene und Flüchtlinge aus den damaligen deutschen Ostgebieten für viele Jahre eine Bleibe. Der Stein soll an alle erinnern, die hier lebten, litten und hofften.“


Im November 1950 hatte in einer Baracke im „Lager am Fichtenbühl“ in Weiden ein Kindergarten seinen Betrieb aufgenommen. Geleitet wurde dieser von Schwester Grata, einer heimatvertriebenen Klosterfrau von den „Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz“ aus Eger. Mit ihr zusammen wohnten noch im Lager Oberin Julitta und Schwester Bonavita. Letztgenannte kümmerte sich um die Kranken und alten Menschen. 60 Kinder und mehr hatte Schwester Grata zu betreuen. Sie legte großen Wert auf die religiöse Erziehung der Kleinen, zumal eine solche in den Familien nicht, bzw. mangelhaft stattfand (vgl. ebd. S. 45).

Im Lager Bernreuth, das Mitte 1948 hauptsächlich Vertriebene aus Schlesien aufnahm, erfolgte verhältnismäßig spät die Gründung eines Kindergartens: „Die Ausstattung erhält man aus einem aufgelösten Kindergarten der Stadt Wiesau und am Faschingsdienstag 1954 findet die feierliche Eröffnung statt. Zur Leiterin wird Erika Reinl... ernannt, ihre Mitarbeiterinnen sind Lydia Löffler... und die Fürsorgerin Schwester Marianne Gebhardt aus Bamberg. Am ersten Tag kommen bereits 85 Kinder in den Kindergarten... In diesem Kindergarten findet auch jeden Sonntag eine Messe statt“ (Kugler 2000, S. 569 f).

berger4 5(Quelle: Hans-Jürgen Kugler)











Allgemein hatten Kriegsende, Flucht und die damit verbundenen Erlebnisse den meisten Kindergartenkindern Schäden an Leib und Seele zugefügt. Diese Tatsache verlangte von den Kindergärtnerinnen eine erhöhte pädagogische Sensibilität, wie nachstehende Dokumente aus dem Ida-Seele-Archiv eindringlich veranschaulichen:

Dokument 1 (Quelle: Ida-Seele-Archiv)

Dokument 2 (Quelle: Ida Seele Archiv)

In Lehrgängen oder Spezialkursen wurde das pädagogische Personal aus- und weitergebildet. Dabei ging es in den einzelnen Bildungsmaßnahmen nicht nur um reine Wissensvermittlung. So kamen beispielsweise in der Flüchtlingsschulungstätte Gerding (Mittelfranken), die 1946 vom Deutschen Diözesan-Caritasverbad ins Leben gerufen wurde, für drei Wochen junge "Frauen und Mädchen, Kindergärtnerinnen oder Hortleiterinnen aus den großen Flüchtlingslagern Bayerns (Hof, Dachau, Hammelburg, Piding etc., [...] zusammen, einerseits für einen Lehrgang zur Überholung und Auffrischung der Fachkenntnisse, andererseits zum Erfahrungsaustausch mit Berufskameradinnen und der Erschliessung einer neuen Sicht" (Aubele 2018, S. 137 f).


Literatur


  • Aubele, K.: Vertriebene Frauen in der Bundesrepublik Deutschland. Engagement in Kirchen, Verbänden und Parteien 1945-1970, München 2018Berger, M.: Geschichte des Kindergartens. Von den ersten vorschulischen Einrichtungen des 18. Jahrhunderts bis zur Kindertagesstätte im 21. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2016
  • Kugler, H-J.: Nitzlbuch/Bernreuth. Geschichte einer bäuerlichen Region in der nördlichen Oberpfalz, Auerbach 2000
  • Schuster, B.: Der Kindergarten im Flüchtlings-/Vertriebenenlager, München 2019 (unveröffentl. Masterarbeit)


Archiv: Ida-Seele-Archiv, Dillingen/Donau

Dank ergeht an Hans-Jürgen Kugler, Bernreuth, für die Abdruckgenehmigung der Fotos.


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