Fachbeiträge

Exekutive Funktionen in der Montessori-Pädagogik

Inhaltsverzeichnis

  1. 2. Bedeutung der exekutiven Funktionen für die Entwicklung des Lernens des Kindes
  2. 3. Entwicklung der exekutiven Funktionen in den ersten drei Lebensjahren
  3. 4. Schnittstelle exekutive Funktion und Montessori-Pädagogik
  4. Fazit
  5. Literatur

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Co-Autorin: Melanie Otto

Die Fähigkeit zur Selbstregulation ist eine Fähigkeit, die so weitreichend wie lebenslang bedeutsam ist. Seit einiger Zeit rückt sie unter Heranziehen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse verstärkt in den Fokus pädagogischer Bemühungen. In den neurowissenschaftlichen Disziplinen spricht man von den sogenannten exekutiven Funktionen.
Besonders die Montessori Pädagogik ist vielversprechend hinsichtlich der Förderung dieser Funktionen. Viele Prinzipien und Herangehensweisen scheinen geradezu ideal zu sein. In diesem Artikel soll besonders das Altersspektrum der 0-3-Jährigen in den Fokus genommen werden.

1. Exekutive Funktionen – eine Begriffsklärung

Hanni (2,1 Jahre) sitzt am Tisch und ordnet. Sie legt die unterschiedlichen Nüsse und Waldfrüchte in die dafür vorgesehenen Schälchen. Sie ist hoch konzentriert, ihre roten Wängchen zeigen das, ihr Atem geht ruhig und flach. Hanni arbeitet.

Leo (1,9 Jahre) steht am Wasserhahn, er wäscht seine Hände. Sorgsam dreht er den Hebel zunächst nach rechts, zur kalten Seite hin, erst dann bedient er ihn so, dass Wasser kommt. Nicht zu viel und nicht zu wenig, er kann den Hebel des Wasserhahns schon exakt bedienen. Er wiederholt es gleich nochmal. Auf, zu, auf, zu ...

Beide Situationen sind alltäglich und durch viele weitere dieser Art ergänzbar. Für einzelne Kinder jedoch stellen sie eine Herausforderung dar. Wird Leo es schaffen, sein »auf-zu«-Spiel zu beenden und sich auf das eigentliche Ziel zurückbesinnen – nämlich seine Hände zu waschen?
Es ist natürlich klar, dass sein »auf-zu«-Spiel viel mehr als nur ein Spiel ist: Leo erforscht ein Ursache-Wirkungs-Prinzip und zugleich erarbeitet er sich den Umgang mit dem Wasserhahn – sehr praktisch, wenn man das im Alltag beim Helfen in der Küche kann.

Auch Hanni forscht. Sie begreift unterschiedliche Oberflächen, Gewichte, Materialbeschaffenheiten der gesammelten Walnüsse, Kastanien und Eicheln. Sie erforscht Größenverhältnisse und entwirft" darauf basierend Kategorien.

Welche Fähigkeiten müssen Kinder bei diesen Tätigkeiten an den Tag legen?

Leo hat gelernt, wie er mit einem Wasserhahn hantieren muss, die Abläufe beim Hände waschen hat er gelernt, er kann sie ohne Probleme abrufen. Ganz genau kennt er die Reihenfolge vom Hochkrempeln der Ärmel bis hin zum Abtrocknen der Hände an seinem Handtuch.
Auch Hanni weiß, dass die großen glatten Kastanien in eine Gruppe gehören und mit den kleinen hellbraunen Eicheln nicht vermischt werden möchten. Selbst wenn eine Frucht im Schälchen der anderen Art landet, erkennt Hanni schnell, dass hier etwas nicht stimmt. Sie kann Fehler überwachen.

Leo muss seine Handlung dosiert steuern, damit der den Hahn nicht unvermittelt ganz aufdreht und das Wasser alles nass spritzt. Er muss sich alle Abläufe ins Gedächtnis rufen und sich von Kindern, die auch im Bad sind oder dort vorbeilaufen, nicht ablenken lassen.

Auch Hanni muss ihre Motorik gut steuern und zugleich flexibel sein in der Zuordnung der Dinge: Mal ins eine Schüsselchen, mal ins andere usf. Landet eine Nuss falsch, ist sie gefordert, es umzusortieren und trotz des Fehlers weiter zu machen, bis alle Früchte auf die Schälchen verteilt sind.

Aus Sicht der Neurowissenschaften beanspruchen und üben beide Kinder ihre kognitive und emotionale Selbststeuerungsfähigkeit. Sie regulieren ihr Tun mit Hilfe der Funktionen des präfrontalen Kortex (PFC). Hier sitzen die sogenannten exekutiven Funktionen. Sie sind die Steuerzentrale des Menschen. Aus drei Bestandteilen, nämlich dem Arbeitsgedächtnis, der Inhibition (Hemmung) und der kognitiven Flexibilität, setzt sich diese Regulationszentrale zusammen. Sie sorgt dafür, dass wir unser Handeln zielorientiert, planvoll und der Situation angemessen lenken. Besonders in Situationen, die neu für uns sind, werden die exekutiven Funktionen auf den Prüfstand gestellt. Je nach Aufgabe wird der eine oder andere Bereich der exekutiven Funktionen stärker oder nur schwächer beansprucht (z.B. Blair, 2002; Carlson, 2005;).

Im Folgenden sollen die einzelnen Bereiche im Detail vorgestellt und das Zusammenspiel der drei hinsichtlich ihrer lebenslangen Bedeutung erläutert werden.

Das Arbeitsgedächtnis
Die Leistung des Arbeitsgedächtnis (AG) ist es, Informationen aufzunehmen, zeitig zu speichern und weiterzuverarbeiten (z.B. Davidson et al. 2006, Diamond 2014). Oft geschieht diese Weiterverarbeitung unter Heranziehen bereits vertieften Wissens aus dem Langzeitgedächtnis.
Dieses Wissen jedoch wird mit dem neu hinzugekommenen ergänzt und aktualisiert und dann in ein sinnvolles Handeln umgesetzt. Den dafür notwendigen Plan, eine Handlung der Situation angemessen und sinnvoll umzusetzen, erarbeitet ebenfalls das Arbeitsgedächtnis.
Im Alltag beanspruchen wir das Arbeitsgedächtnis gewissermaßen ständig. Deswegen sind wir auch fündig, es zu entlasten und zu unterstützen. To Do-Listen erleichtern uns das Memorieren wichtiger Aufgaben, Sanduhren und Timer unterstützen uns darin, Zeitspannen einzuhalten. In vielen Kitas finden sich bebilderte Tagesabläufe, mit Symbolen unterstützte Regeln des Miteinanders.
All diese Maßnahmen erleichtern es, im Alltag an etwas Wichtiges zu denken, Handlungen Schritt für Schritt zu realisieren und letztlich zu lernen, denn es wird altes mit neuem Wissen verbunden.

Die Inhibition
Impulse aller Art zu kontrollieren, gelingt mit Hilfe der Inhibition (INH) (Hemmung). Gleichsam einem inneren Stoppschild veranlasst sie dazu, erst zu denken und dann zu handeln. Gestört wird zielführendes Handeln beispielsweise durch Störreiz von außen. Es fällt schwer, die Aufmerksamkeit auf eine komplexe Aufgabe zu fokussieren, wenn zum Bespiel Baustellenlärm die konzentrierte Ruhe stört. Diesen Störreize (Baustellenlärm) auszublenden und sich davon nicht ablenken lassen, gelingt nicht immer (z.B. Miyake 2000, Diamond 2007).

Kinder sind im Kita- und Krippenalltag häufig in der Situation, dass sie einem spontanen Impuls folgen möchten. Um jedoch bei ihrer aktuellen Tätigkeit bleiben zu können, benötigen sie zumeist noch Unterstützung von außen. Dann kann es gelingen, den Impuls zu hemmen und eine Handlung zu Ende zu bringen. Das muss jedoch geübt werden.
Besonders gefordert – und das gilt nicht nur für das Kindesalter – ist die Inhibition, wenn eine Situation von starken Emotionen dominiert ist.

Ärger, Wut, Angst, aber auch übermäßige Freude lassen daraus resultierendes Verhalten manchmal überschwänglich, wenn nicht sogar unkontrolliert erscheinen. Emotionen inhibieren zu können bedeutet dann auch zum Beispiel Frustration zu ertragen, sich von einer Enttäuschung zu erholen und dann zu einem besonnenen Fortsetzen zu kommen.

Die kognitive Flexibilität
Kognitiv flexibles Verhalten zeigt sich beim Einstellen auf Neues, bei der Umstellung von einer Situation auf die nächste, aber auch beim Wechsel von Perspektiven (z.B. Miyake 2000, Diamond 2007).

Kognitive Flexibilität (FLEX) ist die Fähigkeit, das Handeln an sich verändernde Umweltbedingungen anzupassen. Ist ein Handlungsvorhaben auf Grund einer (unvorhergesehenen) Veränderung nicht mehr zielführend, bedarf es einer raschen Anpassung. Diese erfolgt zunächst auf der Ebene des Denkens, dann auf der Ebene des Handelns.

Kognitive Flexibilität baut auf der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses und der Inhibition auf. Es bedarf also eines gewissen Grundsockels an Arbeitsgedächtnisleistung und Inhibition, um eine Anpassungsleistung erbringen zu können.

Die Komplexität der kognitiven Flexibilität wird beim Betrachten des Perspektivenwechsels deutlich. Die Perspektive eines anderen einnehmen zu können erfordert alle drei Komponenten der exekutiven Funktionen und gipfelt gewissermaßen in der kognitiven Flexibilität.
Zunächst muss beim Perspektivwechsel die eigene Sichtweise inhibiert werden. Denn nur dann kann die Sichtweise des anderen durchdacht werden. Es bedeutet also, dass die eigene Sichtweise kurzzeitig beiseitegeschoben wird zugunsten einer anderen. Jedoch setzt dies voraus, dass es mental vorstellbar ist, dass andere Menschen eigene Sichtweisen haben (FLEX!). Bei all dem darf die eigene Sichtweise nicht vergessen werden, dafür sorgt das Arbeitsgedächtnis. Die kognitive Flexibilität beginnt dann, beide Sichtweisen gegeneinander abzuwägen, zu vergleichen und schließlich den Unterschied festzulegen.

Grundsätzlich ist der Erwerb der »Theory of Mind« und des Perspektivwechsels als ein Prozess zu verstehen, der bereits im Kleinstkindalter beginnt, jedoch erst im frühen Grundschulalter abgeschlossen ist. So können Einjährige bereits verstehen, dass ihre Mitmenschen ggf. andere Handlungsabsichten haben wie sie selbst (vgl. Sodian 2011). Zweijährige zeigen bereits die Fähigkeit zur Empathie und in diesem Alter deswegen auch größte Bereitschaft anderen zu helfen (vgl. Sodian et al., 2010). Jedoch gilt für beide Fälle, dass dies vermutlich nicht bewusst gesteuert von statten geht. Erst mit ca. 4 Jahren können Kinder ihr eigenes Wissen den Vermutungen anderer gegenüberstellen und somit zum Beispiel nachvollziehen, dass es zu Fehlhandlungen kommen kann auf Grund mangelnder Information (Zum Beispiel, wenn in der Kita besprochen wird, dass am nächsten Tag jeder sein Kuscheltier mitbringen darf. Wird dies auch jenes Kind machen, welches diese Abmachung nicht kennt, weil es krank und nicht da war?). Erst mit sechs Jahren können Kinder nachvollziehen, wie sie selbst zu ihrem Wissen kommen und dass sie dieses beispielsweise erwerben und erweitern können durch eigenes Schlussfolgern. (vgl. Marinovic & Pauen 2012, S. 37).


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