Die Entwicklung des frühen Selbstkonzepts im 2. Lebensjahr

Projektbeschreibung:

 

Kooperation zwischen einem Drittmittel-finanzierten (DFG) Forschungsprojekt der Abteilung Entwicklung & Kultur der Universität Osnabrück und der Forschungsstelle Entwicklung, Lernen und Kultur des nifbe

 

Projektleitung:

 

 

Projektmitarbeiter:

 

Kooperationspartner:

  • Prof. Nandita Chaudhary (University of Delhi, India)
  • Dr. Relindis Yovsi (Brüssel, Belgien)

 

 

Hintergrund und Fragestellung

Ziel dieser Studie ist es, zu untersuchen, wann sich in verschiedenen Kulturkreisen ein frühes Selbstkonzept entwickelt und in welchem Zusammenhang diese Entwicklung mit Unterschieden in der Wichtigkeit verschiedener Entwicklungsziele der Eltern steht.


Dazu wurden Daten von insgesamt 265 Familien mit Kindern zwischen 16 und 22 Monaten in vier unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten erhoben: Familien der gebildeten Mittelschicht im Osnabrücker Raum (autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.er Kontext) und in Delhi (autonom-relationaler Kontext) und Familien aus ländlichen, subsistenzwirtschaftlich organisierten Regionen in Rajasthan, Indien (relationaler Kontext) und in Kumbo im Nordosten Kameruns (relationaler Kontext). Die kulturellen Kontexte unterschieden sich hinsichtlich der Familienstruktur und der Struktur des Alltages des Kindes. Die Hypothese war, dass diese Unterschiede systematisch mit dem Stellenwert zusammen hängen, der der Autonomieentwicklung des Kindes eingeräumt wurde. Die Hypothese lautete, dass Eltern im Osnabrücker Raum die Autonomieentwicklung ihrer Kinder sehr wichtig ist, in jedem Fall aber wichtiger als die Entwicklung von Relationalität (soziales Miteinander und Gehorsam). Das soll nicht bedeuten, dass Relationalität im Osnabrücker Raum kein wertgeschätztes Erziehungsziel sei, sondern eher, dass der Autonomieentwicklung ein vergleichsweise höherer Stellenwert eingeräumt wird.


Zentrale Daten waren neben Fragebögen zum allgemeinen Hintergrund und zu verschiedenen Erziehungszielen die Daten zum Selbsterkennen im Spiegel (Rouge-Test), ein klassisches Maß, das auf die Entwicklung eines frühen Selbstkonzepts schließen lässt. Das Selbsterkennen im Spiegel wurde einmal wöchentlich über einen Zeitraum von sechs Wochen erhoben, um den Entwicklungsverlauf nachzeichnen zu können.

Es ist schon seit langem eine zentrale Frage in der Entwicklungspsychologie, ab wann sich beim Kind ein Selbstkonzept entwickelt. Im Laufe der Zeit hat sich eine ganze Menge von Begriffsdefinitionen entwickelt, hinter denen jeweils eigene Forschungsansätze und Fragestellungen stehen. In unserer Arbeit verwenden wir einen Begriff, der von Bischof-Köhler folgendermaßen definiert wurde: Bei dem kategorialen Selbstkonzept handelt es sich um eine „bewusste Repräsentation des eigenen Ichs als Objekt auf der Vorstellungsebene“.


Was bedeutet das? Ein kategoriales Selbstkonzept zu haben, bedeutet, in der Lage zu sein, über sich selbst nachdenken und sich selbst als eigene Person mit eigenen Gedanken, Erfahrungen und Gefühlen erleben zu können. Um dieses kategoriale Selbstkonzept zu entwickeln, wurde eine ganze Reihe von Voraussetzungen beschrieben. Unter anderem das Einsetzen der Vorstellungstätigkeit, die es den Kindern ermöglicht, vor einem „geistigen Auge“ Handlungen durchzuspielen; sich vorzustellen, wie es aussehen würde oder was passieren würde, wenn man dies oder jenes täte. Eine andere Voraussetzung, die mit der Vorstellungstätigkeit einhergeht, ist das Symbolverständnis. Dieses ermöglicht es dem Kind, „zwei gleichzeitig gegebene, aber räumlich getrennte Phänomene [zu verbinden und als identisch zu erleben.] Also etwa einen Vorstellungsinhalt mit seinem wahrgenommenen Gegenstück […] oder eben auch das eigene Spiegelbild mit dem körperschematischen Selbsterleben“.


Neben diesen Grundvoraussetzungen haben wir uns innerhalb dieses Projekts die Frage gestellt, inwiefern darüber hinaus die Erziehungsziele der primären Bezugspersonen (im Allgemeinen Mutter oder Vater) die Entwicklung eines frühen Selbstkonzepts beeinflussen. Wenn es darum geht, sich seiner selbst als getrennt von anderen mit eigenen Gedanken, Erfahrungen und Gefühlen zu erleben, sollte es doch so sein, dass Kinder von Müttern/ Vätern, denen die Autonomieentwicklung eine besonders wichtiges Anliegen ist, dieses Selbstkonzept etwas früher ausbilden.


Da wir bei unserer Untersuchung Kinder aus unterschiedlichen Kulturkreisen hinsichtlich dieser Entwicklung vergleichen wollten, haben wir uns weniger für die Unterschiede zwischen Kindern bzw. die Unterschiede in den Erziehungszielen der Eltern innerhalb der Länder interessiert, sondern eher für Unterschiede zwischen den beiden Kulturkreisen.

Beim Rouge-Test, der 1972 von Amsterdam entwickelt wurde, wird die Fähigkeit, sein eigenes Spiegelbild zu erkennen, erhoben. Dazu wird das Kinder unbemerkt mit einem Fleck auf der Nase (oder in unserem Fall an der Wange) markiert und dann mit seinem Spiegelbild konfrontiert. Das Kind gilt als Selbsterkenner, wenn es entweder direkt Bezug auf den Fleck im eigenen Gesicht nimmt (indem es entweder den Fleck im eigenen Gesicht berührt, sich zu einer anderen Person umwendet und auf den Fleck im eigenen Gesicht zeigt) oder sich beim Namen nennt, während es in den Spiegel blickt.

Demzufolge lauten die zwei Haupthypothesen der Untersuchung folgendermaßen:

  1. Erziehungsziele, die den Themenkreisen Autonomie und Relationalität (Verbundenheit) zugeordnet werden, werden von den primären Bezugspersonen (Mutter bzw. Vater) in den verschiedenen Kulturkreisen als unterschiedlich wichtig erlebt.
  2. Diese Unterschiede spiegeln sich in der Entwicklung eines frühen Selbstkonzeptes auf Seiten des Kindes wider.

 

Ergebnisse

Der Ergebnisteil ist dreigeteilt. Zuerst berichten wir allgemeine Informationen über die Familien in den verschiedenen Kulturkreisen, die an der Untersuchung teilgenommen haben. Im zweiten Teil werden wir Unterschiede bzgl. der Wichtigkeit der einzelnen Erziehungsziele beschreiben und schließlich im letzten Teil Unterschiede in der Entwicklung des kategorialen Selbstkonzepts darstellen.


Aufgrund der folgenden Beschreibung der Familien, die an unserer Studie teilgenommen haben, wird deutlich, dass wir nicht versucht haben, einen repräsentativen Querschnitt der jeweiligen Länder zu erfassen (siehe Tabelle 1). Viel eher ging es uns darum, prototypische Repräsentanten für autonome, autonom-relationale und relationale kulturelle Kontexte zu kontrastieren. Deswegen ist es und kann es auch nicht das Ziel dieser Studie sein, Aussagen über ganze Länder zu treffen, sondern die Ergebnisse können höchstens insoweit generalisiert werden, als dass wir ähnliche Ergebnisse in Familien erwarten würden, die unter den obigen Bedingungen leben.

 

Tabelle 1 - Beschreibung der teilnehmenden Familien

 

Die Osnabrücker Familien leben in einem typischen autonomen kulturellen Kontext: Die Familien sind hoch gebildet, die dominante Familienform ist die Kernfamilie. Üblicherweise ist der Vater Vollzeit berufstätig, die Mutter arbeitet in der Regel höchstens in Teilzeit. Das Bild in Delhi ist ähnlich, allerdings ist die dominante Familienform nicht die Kernfamilie, sondern die Groß- oder Mehrgenerationenfamilie. Daher wird dieser Kontext üblicherweise als autonom-relational bezeichnet. Auch in den relationalen Kontexten (Rajasthan und Kumbo) ist die Großfamilie die dominante Familienform. In beiden Kontexten leben die Familien jedoch primär von einer subsistenzwirtschaftlich organisierten Landwirtschaft, die manchmal von Nebeneinkünften begleitet wird. Insofern ist die Berufstätigkeit schwer als Voll- oder Teilzeitbeschäftigung anzugeben. Generell kann man sagen, dass die Arbeitsbelastung in diesen Kontexten für alle Familienmitglieder (vor allem aber für die Mütter) wesentlich zeitintensiver als in den anderen beiden Kontexten ist, allerdings auch starken saisonalen Schwankungen unterliegt.

 

Unterschiede in den Erziehungszielen

Um die acht verschiedenen Erziehungsziele und deren Wichtigkeit in den beiden Kulturkreisen zu vergleichen, haben wir eine Profildarstellung gewählt (siehe Abbildung 4). Die oberen vier Erziehungsziele repräsentieren Sozialisationsziele, die wir dem Thema Autonomie zuordnen, die letzten vier Ziele sind dem Themenkreis Relationalität zuzuordnen. Ein Wert größer Null bedeutet, dass das Ziel in Relation zu allen anderen als eher wichtiger eingestuft wurde, ein Wert kleiner Null bedeutet, dass das Ziel als eher weniger wichtig wahrgenommen wurde.

 


Abbildung 4 – Relative Wichtigkeit der acht Sozialisationsziele in den verschiedenen kulturellen Kontexten
 

Für die Mütter aus Kumbo und Rajasthan ergibt sich ein sehr klares Muster. Die Erziehungsziele, die dem Thema Autonomie zugehören, werden als weniger wichtig wahrgenommen (hohe negative Werte) als die, die dem Thema Bezogenheit zugehören (hohe positive Werte). Bei den Osnabrücker Müttern ist das Bild gemischter. Die Urteile fallen weniger klar aus, viele Ziele werden weder als weniger wichtig noch als wichtiger, sondern viel eher als gleich wichtig erachtet (Werte nahe Null). Allerdings gibt es auch hier Ziele, die wichtiger bzw. weniger wichtig sind. Die beiden Entwicklungsziele, die als besonders wichtig bewertet wurden, behandeln beide das Thema Autonomie (eigene Talente/ Interessen entwickeln; eigene Vorstellungen/ Vorlieben klar ausdrücken). Interessanterweise sind die beiden Ziele, die als vergleichsweise weniger wichtig gelten, diejenigen, die in den beiden ländlichen kulturellen Kontexten an erster Stelle stehen und auch in Delhi für vergleichsweise wichtig gehalten werden (das tun was die Eltern sagen; ältere Menschen respektieren). In Delhi ist das Bild erwartungsgemäß am Gemischtesten: Zu den wichtigsten Zielen zählen sowohl autonome (eigene Talente/ Interessen entwickeln) als auch relationale (mit anderen teilen; ältere Menschen respektieren). Alle Unterschiede, die hier dargestellt wurden, sind auch statistisch bedeutsam, in diesem Bericht wollten wir auf statistische Details zugunsten der Lesefreundlichkeit verzichten.


Unterschiede in der Entwicklung des Selbstkonzepts

In der folgenden Grafik finden sich Ergebnisse zum Selbsterkennen im Spiegel. Die Datenpunkte geben an, welcher Prozentsatz der Kinder sich zu einem bestimmten Alter in der jeweiligen Kultur erkannt hat. Jede Linie steht dabei für eine altershomogene Gruppe von Kindern und deren Erkenner-Prozentsätze von der 1. (Anfangspunkt der Linie) bis zur 6. Untersuchungswoche (Endpunkt der Linie). Beispielsweise haben sich die Gruppe der zu Beginn der Untersuchung 18 Monate alten Kinder (die Linien mit dem Dreieck-Symbol) in der 1. Woche zu folgenden Anteilen erkannt: 45% der Osnabrücker Kinder und 56% der Kinder aus Delhi und demgegenüber nur 13% der Kinder aus Rajasthan und 9% der Kinder aus Kumbo. In der 6. Woche liegen der Werte der zu Beginn 18-monatigen je nach kulturellem Kontext bei 70%, 56%, 31% und 19%. Generell lässt sich aus der Grafik ablesen, dass die Erkennerraten zum einen über die Zeit zunehmen (vor allem in Osnabrück und Delhi) und zum anderen in den beiden Kontexten, die Wert auf die Autonomieentwicklung ihrer Kinder legen (Osnabrück und Delhi), generell höher liegen.

 


Abbildung 5 - Entwicklungsverlauf des Selbsterkennens im Spiegel in den vier kulturellen Kontexten

 

Zusammenfassung der Befunde

Aus den Ergebnissen der Untersuchung haben wir den Schluss gezogen, dass die Erziehungsziele gemäß unseren Erwartungen als unterschiedlich wichtig wahrgenommen werden. Vor allem ist es so, dass die Autonomieentwicklung bei den Osnabrücker Familien, aber auch bei den Familien in Delhi einen vergleichweise hohen Stellenwert genießt. Im Entwicklungsverlauf zeigt sich weiterhin, dass sich das kategoriale Selbstkonzept bei den Kindern der Osnabrücker Familien und der Familien in Delhi früher ausbildet als beiden Familien in Kumbo oder Rajasthan. Vor dem eingangs geschilderten theoretischen Hintergrund interpretieren wir diesen Unterschied in der kindlichen Entwicklung als Folge von Erziehungseinflüssen, die sich aus den unterschiedlichen Erziehungszielen bzw. deren Wichtigkeit speisen.


Implikationen für die Praxis

Diese Befunde deuten darauf hin, dass der Autonomieentwicklung der Kinder in den verschiedenen Kulturen nicht derselbe Stellenwert zukommt. Vergegenwärtigt man sich den steigenden Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in den bundesdeutschen KiTas und Kindergärten, stellt sich die Frage, inwieweit die an Autonomie orientierten und auf Autonomieentwicklung hin abzielenden pädagogischen Konzepte dieser Einrichtungen den Erwartungen und Bedürfnissen dieser Kinder entspricht.

 

Veröffentlichungen

  • Kärtner, J., Keller, H., Chaudhary, N., & Yovsi, R. (in Vorbereitung). Socio-cultural influences on the development of mirror self-recognition.


 

Projektdetails

Projektart:Forschungsprojekt
Träger:nifbe-Forschungsstelle Entwicklung, Lernen und Kultur
Straße:Artilleriestr. 34
Ort:49069 Osnabrück