Kindlicher Stress, erwachsenes Wohlbefinden und pädagogische Qualität in Kitas

Zusammen denken, was zusammengehört

Inhaltsverzeichnis

  1. Entwicklung von Stressreaktionsmustern in der Kindheit
  2. Mögliche Folgen von belastenden Lebensumständen und Stress auf das kindliche Körper-Geist-System
  3. Stress ist nicht gleich Stress
  4. Das Prinzip der Ko-Regulation
  5. Wie der erwachsene Körperzustand das kindliche Bindungsverhalten beeinflusst
  6. Kindliches Wohlbefinden als Indikator für pädagogische Qualität
  7. Selbstfürsorge ist auch Kinderschutz
  8. Erwachsenes Wohlbefinden als Voraussetzung für pädagogische Qualität
  9. Fazit
  10. Quellen

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Selbstfürsorge ist auch Kinderschutz

Nicht nur den Akteur*innen der frühen Bildung ist heute bekannt: das System Kita droht zu kollabieren (Wehrmann 2023). Fachkräfte in Kitas arbeiten unter Rahmenbedingungen, die von Forschung und Wissenschaft wiederholt als unzureichend beschrieben wurden. Dies fordert ihren Tribut in hoher Fluktuation, vielen krankheitsbedingten Ausfällen, vermehrten Abwanderungswünschen und hohen Belastungen der pädagogischen Fachkräfte, die sich vor allem psychisch und psychosomatisch auswirken: die häufigsten Gründe für die Fehlzeiten sind in dieser Reihenfolge die Psyche, Atemwege und das Muskel-Skelett-System (Barmer 2021). Der Personalmangel erzeugt insbesondere Müdigkeit, Erschöpfung auf physischer und psychischer Ebene, Schlafstörungen und Kopfschmerzen (DAK 2023). Führungspersonen in der Kinderbetreuung und -erziehung sind im Vergleich zu Erziehenden im Gruppendienst noch einmal stärker von psychischen Belastungen und Belastungsfolgen betroffen (Barmer 2021).

Die Situation der pädagogischen Fachkräfte wirkt sich natürlich auch auf die betreuten Kinder aus: Erzieher*innen, die durch belastende Arbeitsbedingungen beansprucht sind, haben häufig das Gefühl, auf die emotionalen Anforderungen der Arbeit mit Kindern nur teilweise angemessen reagieren zu können (Viernickel & Voss 2012). Akute Belastungssituationen können dann in Zusammenspiel mit der chronischen Belastung zur Überforderung führen, die sich in ungeduldigen, unreflektierten oder ungerechten Verhaltensweisen gegenüber Kindern äußern und unter Umständen grenzverletzend und kinderschutzrelevant werden (Maywald 2019). Dieser Verlust von Responsivität kann zu “empathischem Stress” führen. Fachkräfte fühlen sich dann überschwemmt mit den wahrgenommenen Emotionen der Kinder. Zum Selbstschutz verschließen sie sich innerlich, was als wesentlicher Risikofaktor für soziale Kälte in Institutionen betrachtet wird (Gutknecht 2023).

Ein solcher körperlicher, geistiger und emotionaler Zustand hat Folgen für die Kinder: sie werden viel wahrscheinlicher unzureichend ko-reguliert und finden möglicherweise allein nicht in die homöostatische Balance zurück. Zudem wird ihr Bindungsverhalten aktiviert: sie versuchen, sich bei ihrer Bezugsperson rückzuversichern und sich ihrer Bindungsbeziehung zu vergewissern, um die benötigte Sicherheit zurückzuerlangen. Gleiches passiert, wenn Erwachsene zwar körperlich anwesend, aber nicht präsent sind. Kinder wählen dabei unterschiedliche Strategien und fordern z.B. deutlich mehr Aufmerksamkeit ein, indem sie unmittelbar auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen und Situationen erschaffen, die volle Aufmerksamkeit erfordern, oder sie ziehen sich zurück und stellen ihre eigenen Bedürfnisse hinten an. Während die zweite Strategie im Alltag häufig unbemerkt bleibt, wird die erste von Fachkräften oft als besonders herausfordernd wahrgenommen.

Exploration und Lernen sind nur möglich, wenn das Bindungsverhalten der Kinder nicht aktiviert ist und sie sich nicht ständig absichern müssen (Kruse 2023). Wenn ihre Bindungsanfragen nicht responsiv beantwortet werden, wenn sie keine positive Ko-Regulation erfahren, dann werden sie außerdem sehr viel schwerer eigene Regulationskompetenzen aufbauen und sich Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten widmen können. Im aktuellen ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem  Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.  sbeitrag des nifbe heißt es daher treffend: „Bei ungünstigen Rahmenbedingungen mit großen Gruppengrößen – heutzutage schon der Normalfall – zeigt sich […] eine Tendenz von Fachkräften sehr direktiv und oftmals bevormundend zu handeln. Die kindlichen Signale überhaupt zu bemerken, fällt dann schwer, geschweige denn so darauf zu reagieren, dass sich Kinder rundum sicher und geschützt fühlen können“ (Keßel et al. 2024: 22).

Der größte Einfluss auf die Entwicklung von Ko-Regulation bleibt bei den engsten Bezugspersonen von Kindern: den Eltern bzw. Personensorgeberechtigten. Aufgrund der steigenden Dauer, die sich Kinder in außerfamiliären Betreuungseinrichtungen aufhalten, und der damit verbundenen besonderen Anforderungen an das Kind (Anpassung an den Tagesablauf, die Gruppendynamik, Aufschub eigener Bedürfnisse, Aushandeln von Kompromissen) spielen jedoch auch pädagogische Fachkräfte eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Selbstregulation durch Ko-Regulation. Dieser Zusammenhang findet zuletzt auch in der Forschung vermehrt Beachtung, so untersucht z.B. ein laufendes Forschungsprojekt der Universität Münster die Frage, welche Rolle pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen bei der Entwicklung der reflexiven Emotionsregulation spielen und wie sie positiv zur Entwicklung dieser beitragen können (Universität Münster o.J.).



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