Kindlicher Stress, erwachsenes Wohlbefinden und pädagogische Qualität in Kitas

Zusammen denken, was zusammengehört

Inhaltsverzeichnis

  1. Entwicklung von Stressreaktionsmustern in der Kindheit
  2. Mögliche Folgen von belastenden Lebensumständen und Stress auf das kindliche Körper-Geist-System
  3. Stress ist nicht gleich Stress
  4. Das Prinzip der Ko-Regulation
  5. Wie der erwachsene Körperzustand das kindliche Bindungsverhalten beeinflusst
  6. Kindliches Wohlbefinden als Indikator für pädagogische Qualität
  7. Selbstfürsorge ist auch Kinderschutz
  8. Erwachsenes Wohlbefinden als Voraussetzung für pädagogische Qualität
  9. Fazit
  10. Quellen

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Mögliche Folgen von belastenden Lebensumständen und Stress auf das kindliche Körper-Geist-System

Ein dauerhafte allostatische (Über-)Last durch eine chronische Stressbelastung führt zu einem erhöhten Risiko für stressassoziierte Krankheiten. Die stärksten und gut untersuchten Auswirkungen betreffen das Immunsystem, das Gehirn und das Herz-Kreislauf-System.

Immunsystem
Um den Zusammenhang zwischen Stress und Krankheit sowie zwischen Emotionen und Nerven- bzw. Immunsystem zu erforschen, hat sich eine ganze Forschungsdisziplin der Psychoneuroimmunologie etabliert, die zu teils erstaunlichen Ergebnissen kommt und unterstreicht, dass Stress die Fähigkeit unseres Immunsystems schwächen kann, in effektiver Weise auf Erkrankungen zu reagieren (Maté 2023). Bei Stress aktiviert der Körper Immunantworten, um sich auf einen möglichen „Kampf gegen Eindringlinge“ vorzubereiten. Bei chronischem Stress werden dauerhaft relativ starke körpereigene Abwehrmechanismen aktiviert, um Viren und Bakterien abzutöten – wobei häufig auch die körpereigenen „guten“ Bakterien und Viren des Mikrobioms (Gesamtheit aller Mikroorganismen, die den Menschen besiedeln, z. B. Bakterien oder Viren) abgetötet werden. Das Mikrobiom hat einen bedeutenden Einfluss auf die physische und psychische Gesundheit und sorgt neben der wirksamen Verwertung von Nahrung auch für die Immunregulation und Hormonsteuerung. Gleichzeitig führt eine Daueraktivierung der Immunantwort dazu, dass das Immunsystem bei einer tatsächlichen akuten Gefahr (z.B. Kontakt mit Erregern) weniger effizient arbeiten kann. Beides macht Kinder, die starken Belastungen und chronischem Stress ausgesetzt sind, anfälliger für wiederkehrende Infektionen und dauerhafte Entzündungsprozesse im Körper. Gut untersuchte Beispiele dafür sind z.B. Allergien, Unverträglichkeiten und Asthma (McEwen & Akil 2020, National Scientific Council on the Developing Child 2020, Reid et al. 2019).

Gehirn
Auch die Architektur des sich noch entwickelnden kindlichen Gehirns wird durch eine chronische Stressbelastung beeinträchtigt. Langfristigen Schaden nehmen vor allem
  • Gehirnsysteme, die für die Emotionsregulation zuständig sind (Amygdala),
  • Gedächtnissysteme, in denen ein großer Teil der Neurogenese (Neubildung von Nervenzellen) stattfindet (Hippocampus) und
  • exekutive Systeme, in denen Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und höhere kognitive Funktionen entwickelt werden (präfrontaler Cortex) (Maté 2023, National Scientific Council on the Developing Child 2020, Halfon et al. 2014).

All die beschriebenen Gehirnsysteme sind entscheidend für die Stressresistenz und stehen in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung psychischen Erkrankungen wie Ängsten und Depressionen. Dies bedeutet im Umkehrschluss noch keinen kausalen Effekt, jedoch konnten vor allem die „Gesundheit“ von Amygdala und Hippocampus zuletzt immer wieder in Zusammenhang mit der Entstehung bzw. Aufrechterhaltung von Depressionen gebracht werden (Kast 2023, Tartt et al. 2022, Price & Duman 2020, Anaker et al. 2018, Anaker & Hen 2017, Luby et al. 2012).

Herz-Kreislauf-System
Bei einer Stressantwort fahren Puls, Blutdruck und Blutzucker (Konzentration von Glukose im Blut) hoch, um alle Zellen des Körpers mit genügend Sauerstoff und Energie zu versorgen. Durch die anhaltende Überaktivierung des Herz-Kreislauf- und Stoffwechselsystems haben Kinder, die in ihren ersten Lebensjahren starken Belastungen oder chronischem Stress ausgesetzt sind, ein signifikant höheres Risiko, später Bluthochdruck und Übergewicht zu entwickeln. Die beschriebenen Auswirkungen auf das Immunsystem wie entzündliche Prozesse im Körper können zudem in Kombination mit einer übermäßigen und dauerhaften Ausschüttung von Cortisol zu einer Insulinempfindlichkeit bzw. -resistenz führen (Maté 2023, National Scientific Council on the Developing Child 2020, Chen et al. 2018, Danese & Tan 2014). Dies sind drei der vier Symptome bzw. Krankheitsbilder des „metabolischen Syndroms“, deren Kombination als entscheidendes Risiko für Gefäßkrankheiten, Herzinfarkt, koronare Herzkrankheit und Schlaganfall gilt.

Ein wichtiger Aspekt von belastenden Lebensumständen in der Kindheit ist, dass sowohl sie selbst als auch die möglichen langfristigen Folgen sozial ungleich verteilt sind. Ein niedriger sozialökonomischer Status, Armut, individuelle und systemische Diskriminierungserfahrungen und Rassismus begünstigen deren Entwicklung. Auch eine psychische oder Suchterkrankung der Eltern, Vernachlässigung und Gewalt in der Kindheit, Luftverschmutzung und Umweltgifte und metabolische Folgen von nährstoffarmer Nahrung begünstigen die Entwicklung der o.g. Folgen von chronischem Stress (ebd.; Williams & Sternthal 2010). Neben dem individuellen Zugang zu Stress und Stressfolgen wird hier also auch ein gesellschaftspolitischer Aspekt sichtbar. „Stress zu reduzieren, wo immer es möglich ist, sowohl auf offenkundige als auch auf unterdrückte Emotionen einzugehen und sich um unser psychisches Wohlbefinden zu kümmern, kann tiefgreifende Auswirkungen auf unsere körperliche Gesundheit haben“ (Maté 2023: 70).


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