Caroline Ali-Tani

Worauf es ankommt

Von Zurücknahme und Selbstwirksamkeit

Unser Anspruch ist eine Praxis, in der das Kind im Mittelpunkt steht. Strukturen, Abläufe und Interaktionen sollen nach den Bedürfnissen und Interessen der Kinder ausgerichtet werden — Demokratie, Partizipation und Kinderrechte gelebt und Individualität und Vielfalt wertgeschätzt werden. Wie wir dem gerecht werden können, fragt die Erziehungswissenschaftlerin Caroline Ali-Tani.

Die erste Zielgruppe und »Kunden« einer Kita sind Kinder. Es liegt in unserer Verantwortung, Orte zu schaffen, an denen sie sich sicher und wohl fühlen, sich entfalten und entwickeln können und zu starken, selbstbewussten Persönlichkeiten heranwachsen. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Kinder diesen Ort mitgestalten können und ihre Perspektiven diesbezüglich ernsthaft berücksichtigt werden. Doch wann und mit welcher direkten Auswirkung werden Kinder tatsächlich gefragt, wie sie sich ihre Lebenswelt wünschen? Und wie oft definieren wir Erwachsene, was eine sinnvolle Zeitbeschäftigung ausmacht, was richtig und falsch, erlaubt und verboten ist, und führen Bildungsmaßnahmen als festgelegte Einheiten durch, anstatt die situativen Impulse der Kinder im Alltag aufzugreifen und weiterzuführen?

Es scheint, als würden Interaktionen und Inhalte oftmals eher so ausgeführt, dass sie den Erwartungen der Eltern oder vermeintlichen Anforderungen der Schule entsprechen anstatt der aktuellen Lebenswelt und den Themen der Kinder. Das berichtete mir neulich eine Erzieherin: »Man hat einen ganz anderen Bildungsauftrag als früher. Also die Schulen erwarten auch mehr, die Eltern erwarten viel mehr. Und wir haben hier viele Eltern, die sagen: »Ja, habt ihr keine Sammelmappen mehr?« Manche Eltern haben noch das Bild im Kopf vom Kindergarten, wo 25 Kinder da sitzen und das Gleiche basteln und ausschneiden und das dann als Dekoration in den Gruppenraum hängen. Es gibt häufiger Konflikte zu dem Thema.«

Dabei findet Bildung doch überall und jederzeit statt. Um dies wahrzunehmen, müssen wir uns von der produkt- und ergebnisorientierten Bildungs- und Entwicklungsvorstellung lösen und manchmal einfach genauer hinsehen. Es kann sehr überraschend sein, wie eine Situation sich verändert, wenn wir Erwachsene uns zurückziehen und Kindern Freiräume zur Entfaltung zugestehen.

Kindern gerecht werden. Aber wie?

Malik (3 Jahre alt) ist erst seit drei Wochen in der Kita und spricht kein Deutsch, sondern Kurdisch und Türkisch, wie mir eine der Erzieherinnen erzählt. Als er morgens gebracht wird, steht er zunächst lange mitten im Raum und blickt sich mit großen Augen um. Danach stellt er sich in die Tür und guckt weiterhin stumm um sich. Leyla, eine der Erzieherinnen, die auch türkisch spricht, nimmt sich seiner an, aber obwohl sie ihn die ganze Zeit über in seiner Muttersprache anspricht, reagiert oder antwortet er nicht. Leyla macht ihm immer wieder unterschiedliche Spielvorschläge, versucht ihn zum Spielen zu animieren und weicht nicht von seiner Seite bzw. versucht herausfinden, was ihn interessieren könnte.

Malik guckt sich aber weiterhin nur um, ohne ein Wort zu sagen. Leyla geht mit ihm zur Magnetwand, zur Bücherecke und setzt sich schließlich mit ihm auf den Teppich, während sie immer wieder Vorschläge macht. Malik zeigt ausschließlich ein aufmerksames Interesse an zwei Jungen, die laut mit zwei Plastikdinosauriern spielen und um ihn herumrennen bzw. Kreise um den Teppich drehen. und die Malik mit den Augen verfolgt. Währenddessen fällt auf dem Flur ein Mädchen hin und hat eine große Platzwunde. Leyla wird herausgerufen, um den Notfall zu betreuen, und Malik bleibt allein auf dem Teppich sitzen.

Wie würde sich Leyla in dieser Situation fühlen oder wir uns, wenn wir uns in diese Situation hineinversetzen? Vielleicht würde sie sagen: »Eigentlich wäre ich gerne für Malik da gewesen, weil ich eine wichtige Bezugsperson für ihn bin, z.B. weil ich in seiner Muttersprache mit ihm sprechen kann, und ich habe jetzt ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich ihn einfach alleine in dem Raum habe sitzen lassen, aufgrund des akuten Notfalls.« Kurzum eine klassische Situation: Etwas Unvorhergesehenes passiert, wir müssen schnell reagieren und aufgrund knapper personeller Besetzung entsteht beim Zurücklassen von Malik das Gefühl, dass man nicht immer allen Kindern gerecht werden kann. Interessant ist, was passierte, als Leyla den Raum verließ und Malik allein auf dem Teppich saß.

Einfach da sein

Malik wirkt wacher und aktiver. Aufmerksam verfolgt er weiterhin die beiden Jungen mit den Plastikdinos, die um ihn herumlaufen, und sucht sich schließlich aus der Holzkiste ebenfalls einige Plastikdinos heraus, mit denen auch die anderen Jungen spielen, die nun jedoch nicht mehr um den Teppich laufen, sondern weitergerannt sind. Malik geht währenddessen noch zu der Bücherkiste, scheint ganz gezielt nach einem bestimmten Buch zu suchen und kommt schließlich mit einem »Was-ist-Was-Buch« über Dinosaurier zurück. Er legt das Buch auf den Teppich und betrachtet aufmerksam, konzentriert und absolut vertieft die Plastikdinosaurier. Er vergleicht diese mit den Abbildungen in dem Buch, hält sie teilweise direkt darüber, auf die Buchseiten oder daneben und versucht so, die Plastikfiguren in dem Buch wiederzufinden. Immer wenn er einen Dinosaurier in dem Buch wiedergefunden hat, sucht er den nächsten.
Qualität aus Kindersicht


Meine Beobachtungen decken sich mit Ergebnissen, die im Rahmen der 2017 veröffentlichen Studie zur »Kita-Qualität aus Kindersicht« (Quaki) von Iris Nentwig-Gesemann, Bastian Walther und Minste Thedinga als relevant herausgestellt wurden: Das intensive Zusammensein und ungestörte, nicht-pädagogisierte Spielen mit den Peers hat hohe Bedeutung, nicht nur für das positive Alltagserleben der Kinder, sondern auch für die Qualität von Bildungsprozessen und der Entwicklung sozialer Kompetenzen. Bei der Frage nach Lieblingsaktivitäten und Menschen, auf die sich die Kinder morgens in der Kita freuen, wurden immer die anderen Kinder, die »Freunde« und das Spielen mit ihnen genannt (ebd. S. 39).

Die vom DESI-lnstitut im Auftrag der Deutschen Kinderund Jugendstiftung erstellte Quaki-Studie ist verfügbar unter www.dkjs.de. Sie ist deshalb besonders empfehlenswert, weil sie eine der wenigen ist, die die Perspektive der Kinder berücksichtigt. Die Ergebnisse sind mit Praxisbeispielen und Bildern sehr anschaulich dargestellt. Sie geben neue Impulse und eröffnen Blickwinkel für eine Pädagogik und Kita-Praxis, die oftmals nur die einseitige Erwachsenensicht widerspiegelt. Zu jedem Qualitätsmerkmal sind spannende Reflexionsfragen für Kita-Teams und Anregungen für Gespräche mit Kindern aufgeführt. Dafür wurden mit unterschiedlichen Methoden die Perspektiven der Kinder, ihre Erlebnisse, Erfahrungen, Wünsche und (Lieblings-)Aktivitäten erfasst.


Beim Versuch, Kindern viel zu geben und für sie da zu sein, vergessen wir manchmal, ihnen auch ungestörte Zeit und Freiraum zu geben, oder wir vergessen, dass die Umgebung und die Peers mindestens so wichtig für ein Kind sind wie wir Erwachsene. Auch beim Ankommen in der Kita: Während Malik auf die Bemühungen und Impulse der Erzieherin kaum reagierte, hat er sehr aufmerksam die Tätigkeiten der Jungen beobachtet und sich von deren Spiel inspirieren lassen.

Bemerkenswert ist auch der alltagsintegrierte Bildungsmoment, der auf hohem Niveau stattfindet, ohne dass ein Erwachsener ihn initiiert oder überhaupt wahrgenommen hat: Malik spielt nicht »nur« mit den Dinosauriern, sondern zeigt auch großes Interesse daran, diese in dem Buch wiederzufinden, vielleicht auch zu benennen und deren Fähigkeiten und Eigenschaften zu erforschen. Solche Momente wahrzunehmen und aufzugreifen, ist von großer Bedeutung, da individuelle Bedarfe und Interessen sichtbar werden, die durch die vorherigen Bemühungen und Impulse der Erzieherin im Vorfeld nicht aktiviert werden konnten.

Was nützt es Malik, wenn er Worte wie »Ball, Hund, Haus« lernen soll, obwohl es ihn vielleicht aktuell mehr interessiert, wie der Name vom Tyrannosaurus Rex ist? Ausgehend von diesem intensiven Interesse an den Dinosauriern können viele weitere Impulse ausgehen: Man kann Dinosaurier zählen, malen, basteln ... Nur die aus dem eigenen Interesse heraus entstandene Aktivität motiviert, sich weiterzuentwickeln und die Welt zu entdecken und zu erforschen. Doch was ist eigentlich mit den beiden Jungen, die spielend um Malik herumliefen und seine Aufmerksamkeit weckten? Vielleicht sollten wir unseren Blick weiten und die Peers aktiv in das »Ankommen« neuer Kinder einbeziehen?

Wie das funktionieren kann, zeigte sich in einer anderen Kita, die sich in vielen kleinen, aber stetigen Schritten bewusst zu mehr Partizipation und Demokratie hin entwickelt hat und in der die Kinder von sich aus ihre Perspektive einbringen und einfordern.

Als zwei Kinder die Leiterin in ihrem Büro besuchen, ist diese gerade dabei, das Eingewöhnungskonzept für die neuen Kinder zu bearbeiten. Die Kinder sind daran sehr interessiert und sagen: »Ihr könnt doch uns fragen!« Dies wurde von den Erzieherinnen aufgegriffen und es folgten eine intensive Auseinandersetzung und ein Austausch mit den Kindern darüber, was Kindern das Ankommen erleichtern würde. Konkret wurden die Kinder gefragt: »Was hat mir geholfen, damit es mir am ersten Tag gut geht?«

Ihr könnt doch uns fragen!

Alle Antworten wurden auf Flipcharts festgehalten: »Wenn wir in den Wald gehen, nimmt ein großes Kind ein kleines Kind an die Hand.« »Freunde haben geholfen.« »Wir helfen, wenn die neuen Kinder irgendwo nicht dran kommen.«
»Kinder und Erwachsene können die Kinder trösten, wenn sie traurig sind.« »Wir sollten die Kinder fragen, wie sie heißen und was sie gerne spielen möchten.« »Wir könnten den neuen Kindern etwas schenken, zum Beispiel eine Blume, vielleicht für jedes Kind eine Sonnenblume.« »Mir hat's geholfen, mit den Erwachsenen zu reden.« »Wir wollen nicht so viel streiten, damit es schöner in der Gruppe ist.«

»Wenn sie schüchtern sind, brauchen sie Hilfe, weil sie sich nicht trauen zu fragen. Wir Kinder müssen sie fragen.« »Wir können ihnen helfen, wenn sie hinfallen und sie trösten.« »Mir hat Spielen geholfen, ich habe mit anderen Kindern gespielt.« »Man könnte ihnen erklären, wo alles ist. Man könnte beim Anziehen helfen, Anschwung auf der Schaukel geben, helfen beim Jacke-Zumachen, helfen, die Brotdose aufzumachen.« Ein Kind stellte im Rahmen der Befragung etwas sehr Grundlegendes fest: »Wir wissen das, weil wir hier auch mal in den Kindergarten gekommen sind!«

Neben der wertvollen Unterstützung, die dem Team dadurch in Aussicht gestellt wurde, öffneten einige der Ideen auch überraschende Perspektiven auf Verhaltensweisen der Kinder. Vom Kind, dass die Idee hatte, neuen Kindern beim Öffnen ihrer Brotdose zu helfen, erfuhren sie z.B., dass es selbst anfangs deshalb lange Zeit nichts aß, weil es sich nicht getraut hatte zu fragen, ob jemand bei dem Öffnen der Brotdose helfen könnte. Alle im Team konnten sich daran noch erinnern und auch daran, dass sie sich damals viele Gedanken gemacht hatten, auf diese Idee aber nicht gekommen waren. Berichte aus der Kindperspektive helfen uns, zu erkennen, dass wir in unseren Interpretationen und Lösungsstrategien manchmal in verkehrte Richtungen denken und handeln, obwohl die eigentliche Lösung ganz einfach gewesen wäre.

Wenn wir uns diese aufmerksamen, empathischen und sensiblen Kinder in der Situation mit Malik vorstellen... Vielleicht hätten sie innegehalten und sich mit den Plastikdinos zu Malik auf den Teppich gesetzt?

Weniger Impulse, Aufmerksamkeit und Bemühen unsererseits sind oftmal mehr und können erstaunliche Wirkungen zeigen. Der Schlüssel liegt zum einen darin, die Kinder häufiger und aktiv nach ihren Perspektiven zu befragen, zum anderen aber auch darin, sich mehr zurückzunehmen und zunächst in die beobachtende Rolle zu begeben. Viele Kinder brauchen genau diesen Freiraum, um ihre Potenziale zu entfalten, und viele Kinder brauchen vor allem Freundschaften mit Gleichaltrigen und ein Ankommen in der Kindergruppe. Demokratie bedeutet mehr, als die Interessen und Bedürfnisse aller Beteiligten zu erfassen und zu berücksichtigen, darauf zu achten, dass alle ihre Meinung zum Ausdruck bringen können. Es bedeutet auch, dass alle gemeinsam zu einem gleichberechtigten und wertschätzenden Zusammenleben beitragen. Kinder wie Erwachsene.


Literaturtipps

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
Betrifft Kinder 01-02-2020, S., 21-24



AdmirorFrames 2.0, author/s Vasiljevski & Kekeljevic.

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