Die Entwicklung von Mehrsprachigkeit und mögliche Einflussfaktoren

Inhaltsverzeichnis

  1. Spracherwerb bei Mehrsprachigkeit
  2. Erwerbsaufgabe – was das Kind lernen muss
  3. Simultaner bzw. bilingualer Erstspracherwerb
  4. Früher Zweitspracherwerb
  5. LITERATUR

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Früher Zweitspracherwerb

Die ersten Studien zum frühen Zweitspracherwerb jüngerer Kinder sind in die Anfänge dieses Jahrhunderts zu verorten. Der frühe Zweitspracherwerb eignet sich besonders, um den Einfluss des Alters auf den Verlauf und den Erfolg des Spracherwerbs zu verfolgen (vgl. Schulz & Grimm 2012). Die Spracherwerbsforschung interessierte besonders der Vergleich zum Erstspracherwerb, aber auch zum Erwerb einer zweiten Sprache im Erwachsenenalter. Generelle Aussagen zum frühen Zweitspracherwerb sind schwieriger zu treffen als beim Erstspracherwerb, weil sich einige Erwerbsfaktoren zwischen den Lernenden deutlich unterscheiden können:

  1. der Zeitpunkt des Zeitversetzten Erwerbs,
  2. die Qualität des Inputs,
  3. die Quantität des Inputs wie auch
  4. die lebensweltliche Relevanz und Wertigkeit der zweiten Sprache.

Ein Kind profitiert, egal ob es eine oder mehrere Sprachen erwirbt, immer von der Unterstützung der Sprachentwicklung, wobei die Qualität und Quantität des Inputs von besonderer Bedeutung beim Erwerb mehrerer Sprachen sind. Eine hohe Qualität wird meist dadurch gewährleistet, dass Eltern und andere Interaktionspartner, wie z.B. Verwandte oder Freunde/Freundinnen, im Verlauf des Spracherwerbs in der Sprache zu einem Kind sprechen, die sie am besten beherrschen. Quantität bedeutet, dass ein Kind ausreichend häufig die Sprachen angeboten bekommt und anwenden kann, die es erwirbt.

Beim frühen sukzessiven Zweitspracherwerb wachsen Kinder bis zum Alter von drei bis vier Jahren (überwiegend) mit einer Sprache auf, ihrer Erst- oder Familiensprache, die nicht gleichzeitig Umgebungssprache ist. Die Umgebungs- bzw. Zweitsprache kommt dann beispielsweise mit dem Eintritt in eine Kindertageseinrichtung hinzu. Durch die Konfrontation mit der zweiten Sprache zu einem noch relativ frühen Zeitpunkt können die Kinder intuitiv auf Strategien zurückgreifen, die auch den Erstspracherwerb leiten.

Der Zweitspracherwerb baut auf Kenntnissen der Erstsprache auf. Kinder wissen zu diesem Zeitpunkt, wozu Sprache nützlich ist und dass es bestimmte sprachliche Regeln gibt. Das Eintauchen in die neue Sprache erfolgt zunächst passiv. So eigenen sich Kinder Kenntnisse über Aussprache, Wortschatz, Grammatik und Sprachverständnis an.

Häufig sprechen Kinder mit frühem Zweitspracherwerb erst nach einem halben Jahr oder später, diese Phase wird als „Schweigephase“ bezeichnet. Die ersten Äußerungen entsprechen häufig noch frühen Entwicklungsphasen des Grammatikerwerbs „ich auch machen/du fahren dort“. Mit der Zeit werden die Aussagen grammatisch korrekter und die Verben werden nicht mehr am Ende des Satzes, sondern an der richtigen Stelle platziert (Verbzweitstellung). Die Erwerbsreihenfolge stimmt weitestgehend mit dem unauffälligen Erwerb des Deutschen als Erstsprache überein.

Es finden sich ebenso sogenannte Übergangsphänomene wie Übergeneralisierungen, die von einsprachigen Kindern bekannt sind und auf dem Weg zum korrekten Ausdruck verwendet werden, z.B. „ich bin mit der Oma Einkaufen gegangt“. Mehrsprachige Kinder nutzen eventuell eine größere Vielfalt solcher Formen als einsprachig aufwachsende Kinder und behalten diese über einen längeren Zeitraum bei.

Im Unterschied zu einsprachigen Kindern ist die Spracherfahrung (Kontaktdauer) in der Zweitsprache kürzer als die der gleichaltrigen monolingualen Kinder. Aufgrund dieser geringeren Kontaktdauer zur Zweitsprache schneiden frühe Zweitsprachlerner/Zweitsprachlernerinnen in altersparallelisierten Untersuchungen naturgemäß schlechter ab als einsprachige Kinder (Grimm & Schulz 2014, 2016). Insbesondere dann, wenn es innerhalb (z.B. wenn dort mehrere Kinder sind, für welche die Zweitsprache Neuland ist) und außerhalb der Kindertageseinrichtung nur wenige Sprachvorbilder in der zu erwerbenden Umgebungssprache gibt, erschwert das die Erwerbsbedingungen.

Bei Nichtberücksichtigung des späteren Erwerbsbeginns und der kürzeren Kontaktdauer besteht ein besonders hohes Risiko für eine Fehldiagnose in Bezug auf eine möglicherweise vorliegende Störung der Sprachentwicklung (Crutchley, Botting, Conti-Ramsden 1997; Crutchley, Conti-Ramsden, Botting 1997; Paradis 2010). Die Unterschiede zu monolingualen Kindern werden mit zunehmender Kontaktdauer zur Zweitsprache erwartungsgemäß geringer und statistisch nicht mehr nachweisbar (Grimm & Schulz 2014, 2016; Paradis 2010; Unsworth & Hulk 2009). Wie schnell frühe Zweitsprachlernerinnen und -lerner im Spracherwerb voranschreiten, unterscheidet sich je nach sprachlichem Phänomen (Grimm & Schulz 2016; Unsworth et al. 2014). Deshalb sind pauschale Aussagen darüber, in welchem Alter bzw. nach welcher Kontaktdauer gleiche Leistungen wie bei monolingualen Kindern zu erwarten sind, kaum möglich und wenig sinnvoll.

In der Realität kommen die beschriebenen Typen des mehrsprachigen Aufwachsens häufig nicht so eindeutig abgrenzbar vor. Je nach familiärer Konstellation können beispielsweise weitere Sprachen vorhanden sein. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Kinder beim bilingualen Erstspracherwerb mit zwei Sprachen aufwachsen (Mutter- und Vatersprache), keine der beiden Sprachen die Umgebungssprache ist und diese dann erst mit dem Eintritt in die Kindertageseinrichtung erworben wird. Hier läge zwar ein simultaner bilingualer Erstspracherwerb, gleichzeitig aber ein sukzessiver Erwerb der Umgangssprache vor.

Auch die klare Trennung zwischen Familien- und Umgebungssprache ist in der Alltagsrealität häufig uneindeutig. Etwa dann, wenn beide Sprachen in der Familie eine Rolle spielen, z.B. ältere Geschwister untereinander die Umgebungssprache sprechen oder Eltern zuhause beide Sprachen sprechen und diese mischen.



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